Analyse

Konflikt um Bergkarabach: Waffenstillstand oder Totalkapitulation?

Aserbaidschan hat die Südkaukasusregion Berg-Karabach mit Raketen und Artillerie angegriffen. Trotz Feuerpause: Armenien fürchtet Vertreibungen.

Ein Mann steht neben einem durch Granatenbeschuss beschädigten Auto in Stepanakert.
Ein Mann steht neben einem durch Granatenbeschuss beschädigten Auto in Stepanakert.SNA/imago

Jetzt also wieder! Der September scheint so etwas wie Bakus Lieblingsmonat für Attacken gegen die Armenier in Berg-Karabach und in der Republik Armenien zu sein.

Ende September 2020 brach Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew mit türkischer Schützenhilfe (Moskau und Brüssel schauten in seltener Eintracht lange weg) einen Krieg gegen die von ihm beanspruchte Region Berg-Karabach (armenisch: Arzach) im Südkaukasus vom Zaun, die sich Ende 1991, noch zu Zeiten der Sowjetunion, für unabhängig erklärt hatte.

Der Krieg endete sechs Wochen später – vorerst – nach russischer Intervention und mehr als 7000 getöteten Soldaten mit weiten aserbaidschanischen Geländegewinnen in Karabach und mit der Rückeroberung der sieben von Armenien seit dessen Sieg im ersten Krieg um Karabach 1994 okkupierten Grenzregionen Aserbaidschans.

Zwei Jahre später, am 13. September 2022, griff Baku, den fragilen Waffenstillstand brechend, mit schwerer Artillerie, großkalibrigen Waffen, Raketensystemen und Drohnen nun armenisches Hoheitsgebiet direkt an. 36 Siedlungen in Grenznähe wurden beschossen, unter anderem der bekannte Kurort Dschermuk. Aserbaidschanische Streitkräfte drangen zudem bis zu acht Kilometer tief nach Armenien vor, wo sie sich verschanzten und die Gebiete bis zum heutigen Tage widerrechtlich besetzt halten. Russische Friedenstruppen, die seit November 2020 die Einhaltung des zwischen Aserbaidschan und Armenien geschlossenen Waffenstillstandsabkommens garantieren sollen, schauten – wie die Europäische Union – tatenlos zu.

Alijews „militärische Spezialoperation“

Am Dienstag startete Aserbaidschan gegen Mittag eine „Antiterror“-Operation genannte militärische Großoffensive, bei der die Hauptstadt Rest-Karabachs, Stepanakert, und Dörfer im Osten der Region massiv unter Raketen- und Artilleriebeschuss gerieten. Über Stepanakert kreisten Drohnen, Wohnblöcke wurden beschossen, die verängstigte Bevölkerung suchte vor den Explosionen Schutz in den Kellern. Bis zum Abend sollen laut Angaben des Menschenrechtsbeauftragten der „Republik Arzach“ mindestens 27 Menschen, darunter ein Kind, ums Leben gekommen sein, die Rede ist von mindestens 138 Verletzten. Aus 16 Ortschaften sei die Bevölkerung – insgesamt 7000 Zivilisten – evakuiert, eine Kolonne von Flüchtlingen auf dem Wege Richtung Stepanakert beschossen worden.

Der armenische Regierungschef Nikol Paschinyan, der bereits in den vergangenen Wochen mehrfach vor einer Mobilisierung aserbaidschanischer Streitkräfte in der Region gewarnt hatte, erklärte in einer Fernsehansprache, Aserbaidschan setze auch Bodentruppen ein. Ziel sei es, die armenische Bevölkerung aus Arzach zu vertreiben. Er appellierte an die in Berg-Karabach stationierten russischen Friedenstruppen, „die aserbaidschanische Aggression mit eindeutigen Maßnahmen zu beenden“.

Videostandbild des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums. Hier sollen armenische Streitkräfte angegriffen worden sein. 
Videostandbild des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums. Hier sollen armenische Streitkräfte angegriffen worden sein. Defense Ministry of Azerbaijan/AP

Aserbaidschan begründet sein Vorgehen mit der Notwendigkeit, „mit Hochpräzisionswaffen legitime militärische Ziele“ – angebliche armenische Stellungen und Militärfahrzeuge in der Region – zu „neutralisieren“ und die „verfassungsmäßige Ordnung“ im Lande wiederherzustellen. Armenische Sabotageeinheiten hätten in den von Baku 2020 zurückeroberten Gebieten Karabachs Minen verlegt. Die russischen Friedenstruppen seien im Vorfeld über die „Antiterror“-Aktion informiert worden und hätten sich rechtzeitig an einen sicheren Ort zurückgezogen.

In der Tat hat man von einem Eingreifen der russischen Soldaten, deren Aufgabe es wäre, Kampfhandlungen zu unterbinden, bislang nichts gehört.

Ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs spricht von Genozid

Der militärische Angriff Bakus trifft im attackierten Gebiet auf eine bereits extrem geschwächte lokale Bevölkerung. Seit Dezember blockiert Aserbaidschan – zuerst waren es angebliche „Umweltaktivisten“, die später, als es kälter wurde, durch reguläre Soldaten in Uniform ersetzt wurden – den Latschin-Korridor, die einzige Landverbindung Arzachs zur Republik Armenien, und kappte wiederholt die Gas- und Stromlieferung. Damit sind seit mehr als neun Monaten 120.000 Menschen in der Region fast vollständig von der Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Benzin und anderen Hilfsgütern abgeschnitten – ohne dass die Welt davon groß Notiz genommen hätte. Im Juni wurde die Blockade noch weiter verschärft. Wenige Wochen später meldeten die örtlichen Behörden, die Zahl der Fehlgeburten habe sich verdreifacht und ein 40 Jahre alter Mann sei bereits wegen starker Mangelernährung gestorben. Auch hier griffen die russischen Friedenstruppen nicht ein.

Die dramatische humanitäre Notlage rief den ehemaligen Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, auf den Plan: „Aushungern“ sei eine unsichtbare Waffe des Genozids, und es bestehe die Gefahr, dass die armenische Bevölkerung Berg-Karabachs in wenigen Wochen vernichtet werde, sollte sich die Situation nicht bald drastisch ändern.

Dass nun von Aserbaidschan der lokalen Bevölkerung Karabachs zur „Evakuierung“ sogenannte Fluchtkorridore – unter anderem ausgerechnet im Latschin-Korridor – angeboten werden, ist Wasser auf die Mühlen der armenischen Urängste, dass es Baku bei den aktuellen Attacken in Wahrheit um die Vertreibung der ungeliebten armenischen Bevölkerung, wenn nicht um noch Schlimmeres gehe.

Die lange Geschichte des Konflikts um Karabach – ein Rückblick

Der Konflikt um Karabach ist alt und reicht weit hinter sowjetische Zeiten zurück. In der öffentlichen Diskussion dominiert ausschließlich die aserbaidschanische Perspektive, für die auch vorschnell das Völkerrecht in Anspruch genommen wird. Die armenische Sicht der Dinge ist eine andere:

Anfang des 19. Jahrhunderts, nach dem russisch-persischen Krieg, geriet das seit Jahrhunderten überwiegend von Armeniern bewohnte Gebiet unter die Herrschaft des russischen Zaren, der es jedoch nicht dem „Gouvernement Eriwan“ – geografisch in weiten Teilen identisch mit der heutigen Republik Armenien – zuschlug, sondern dem mehrheitlich von Aseris bewohnten „Gouvernement Jelisawetpol“ (heute die Region Gandscha), das nach der Oktoberrevolution Anfang der 20er-Jahre Teil der Sowjetrepublik Aserbaidschan wurde.

Am 5. Juli 1921 beschloss das Transkaukasische Komitee der jungen Sowjetunion unter Vorsitz des Volkskommissars für Nationalitätenfragen, Josif Stalin, gegen den Willen der lokalen Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt zu 94 Prozent aus Armeniern bestand, den Anschluss des „Autonomen Oblast Berg-Karabach“ an die Sowjetrepublik Aserbaidschan.

Schäden in einem Wohngebiet nach einem Militärschlag
Schäden in einem Wohngebiet nach einem Militärschlagoldhike/imago

Kurz vor dem Untergang der Sowjetunion – Baku hatte die Region jahrzehntelang ökonomisch vernachlässigt und in Aserbaidschan war es Ende der 80er-Jahre mehrfach zu blutigen antiarmenischen Pogromen gekommen – spaltete sich der „Autonome Oblast Berg-Karabach“ von der Sowjetrepublik Aserbaidschan ab und berief sich dabei auf das am 3. April 1990 erlassene Unionsgesetz „Über das Verfahren der Entscheidung von Fragen, die mit dem Austritt einer Unionsrepublik verbunden sind“, das in einer Schutzklausel jedem autonomen Gebiet das Recht einräumte, sich von einer neu gegründeten ehemaligen Sowjetrepublik loszulösen. Aserbaidschan hatte sich wenige Tage zuvor selbst von der Sowjetunion abgespalten.

Der nachfolgende Krieg um die Region, der bis 1994 von den nun unabhängig gewordenen Staaten Aserbaidschan und Armenien blutig geführt wurde, endete mit einem Sieg der armenischen Seite – die dabei auch sieben aserbaidschanische Grenzregionen widerrechtlich okkupierte und die ansässige aserbaidschanische Bevölkerung vertrieb –, und das demokratisch regierte Berg-Karabach erklärte sich 2017 zur „Republik Arzach“, die allerdings selbst von Armenien offiziell nie anerkannt wurde.

Die prekäre Lage der Armenier

Seit dem De-facto-Sieg des militärisch hochgerüsteten Petrodollarstaats Aserbaidschan im zweiten Karabachkrieg im November 2020 werden die Karten nochmals völlig neu gemischt: Der Autokrat Alijew, der nach wie vor die gesamte Region Berg-Karabach für sich beansprucht, will der dortigen mehrheitlichen armenischen Bevölkerung weniger Autonomierechte einräumen als seinerzeit die Sowjetunion – nämlich gar keine! Er wird dabei unterstützt von seinem starken Nachbarn Recep Tayyip Erdoğan, der das turkstämmige Aserbaidschan als Brudervolk – „eine Nation, zwei Staaten“ – und Brücke zur Realisierung weit ausgreifender neoosmani­scher Träume betrachtet. Träume, denen das christliche Armenien schon immer geografisch im Wege stand.

Demonstranten stoßen vor dem armenischen Regierungsgebäude mit der Polizei zusammen.
Demonstranten stoßen vor dem armenischen Regierungsgebäude mit der Polizei zusammen.Alexander Patrin/imago

Alijew seinerseits hat nie Zweifel daran gelassen, dass er den Konflikt mit Armenien nicht etwa mit Rückeroberung und Einverleibung der gesamten Karabachregion als beendet ansieht. Seine Ambitionen reichen weiter. Er erklärte mehrfach bereits deutlich, dass er es auch auf armenisches Hoheitsgebiet – die Rede ist von den südlichen Regionen Sjunik und Wajoz Dsor, aber auch von der Hauptstadt Jerewan – abgesehen hat: „Die Rückkehr der Aserbaidschaner in diese Gebiete“, erklärte er im Februar 2018, „ist unser politisches und strategisches Ziel, und wir müssen Schritt für Schritt daran arbeiten, ihm näherzukommen.“

Die Lage der durch den türkischen Genozid 1915/16 ohnehin stark traumatisierten Armenier sowohl in Berg-Karabach als auch in der Republik Armenien ist demnach mehr als prekär: Russland, offiziell Schutzmacht Armeniens, hat sich als extrem unzuverlässig erwiesen und ist obendrein anderweitig stark beschäftigt. Die Europäische Union hat gerade im Zuge der Russlandsanktionen einen lukrativen Gasdeal mit Baku abgeschlossen. Die USA, in deren Arme Jerewan jetzt getrieben wird, sind nur aus geopolitischen Gründen am Südkaukasus interessiert.

Und der Rest der Welt hat – wie schon vor mehr als hundert Jahren – wichtigere Sorgen!

Eine „Waffenstillstand“ genannte Totalkapitulation?

Soeben – Mittwoch, den 20. September, 11:43 Uhr – tickerte unter anderem über AFP folgende Meldung in die Öffentlichkeit:

„Die armenischen Separatisten in Bergkarabach haben eine Waffenruhe für die umstrittene Kaukasusregion ab Mittwoch um 11 Uhr verkündet. Demnach handelt es sich dabei um einen von der russischen Friedensmission vermittelten Waffenstillstand. Zudem erklärten sie, Verhandlungen mit Baku über die Integration der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region in das verfeindete Nachbarland Aserbaidschan akzeptiert zu haben. Die Gespräche dazu sollen demnach am Donnerstag beginnen.“

Diese Meldung ist aus folgenden Gründen atemberaubend: Sie suggeriert, nicht Baku, sondern „armenische Separatisten“ seien für den Beschuss der Städte in Karabach, für die Toten, die Verletzten und die Tausenden von Flüchtenden verantwortlich.

Zudem hätten sie „Verhandlungen mit Baku über die Integration der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region in das verfeindete Nachbarland Aserbaidschan akzeptiert“, mit anderen Worten: die Selbstständigkeit des noch bestehenden Restteils der „Republik Arzach“ aufgegeben.

Ersteres ist eine dreiste Lüge. Das Zweite, falls es zutreffen sollte, eine „Waffenstillstand“ genannte Totalkapitulation – erzwungen offenbar unter russischem Druck und aufgrund des Totalausfalls tatkräftiger Unterstützung durch den Rest der Welt!

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