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Eine Aufarbeitung der Coronazeit zu fordern, liegt im Trend. Die Parteien der Stunde, AfD und BSW, tun das sowieso. Im ARD-Sommerinterview hat sogar der Bundeskanzler sich offen für eine Aufarbeitung gezeigt und das Format eines Bürgerrats vorgeschlagen – möglicherweise weil das für ihn ein angenehmeres Format wäre als ein Untersuchungsausschuss im Bundestag. Für einen solchen wird sich vermutlich nach der nächsten Bundestagswahl ohnehin eine Mehrheit finden.
Interessant wäre ein Bürgerrat als zusätzliches Gremium dennoch, vielleicht sogar als ein „Bürgerrat Grundrechte“. Die Corona-Jahre haben nämlich offengelegt, wie unterschiedlich unser Verständnis des Grundgesetzes ausfällt und welchen Interpretationsspielraum Begriffe wie „Menschenwürde“ zulassen.
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Im Mai lud Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur 75. Geburtstagsfeier des Grundgesetzes. In seiner Festrede sprach der Bundespräsident von einer Spannung zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit.
„Wir müssen erkennen, dass sich diese Realität radikal verändert hat. Nach Jahrzehnten von mehr Wohlstand, mehr Demokratie, mehr Europa, mehr Frieden, dem Glück der Deutschen Einheit erleben wir einen epochalen Bruch.“
Wann begann dieser Epochenbruch wohl?
Eigentlich kann es auf diese Frage nur eine Antwort geben: im März 2020. Einen stärkeren Einbruch unseres Wohlstands gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Mehr Europa gab es, bis vielerorts 2020 das erste Mal seit dem Schengener Abkommen wieder flächendeckende Grenzkontrollen eingeführt wurden.
Zumindest dem inneren Frieden hat es auch nicht gutgetan, dass es plötzlich eine Ordnungswidrigkeit darstellen konnte, sein Kind schaukeln zu lassen. Kam die staatliche Gewalt damals noch ihrer Verpflichtung nach, die Menschenwürde zu schützen, als sie Bewohnern von Pflegeheimen untersagte, Besuch zu empfangen, sodass etliche einsam und verwahrlost dahinsiechten?
Diejenigen, die das alles ablehnten, waren eine versprengte Minderheit quer durch alle weltanschaulichen Lager. Ihr größter gemeinsamer Nenner war das Grundgesetz. Selbst die wenigen unter den Maßnahmengegnern, die seinen Verfassungsstatus anzweifelten oder gar die Souveränität der Bundesrepublik überhaupt, kritisierten es nicht inhaltlich. So hatte das Grundgesetz seinen großen Auftritt, als es tausendfach auf Großdemonstrationen verteilt und in die Höhe gehalten wurde.
Ein denkwürdiges Zeitzeugnis ist ein Video vom 1. Mai 2020, auf dem zu sehen ist, wie Polizisten eine Frau auffordern, das Grundgesetz wegzupacken, weil sein Zurschaustellen eine an Ort und Stelle nicht erlaubte politische Meinungsäußerung darstelle.

Dass ausgerechnet das Grundgesetz zum Symbol des Protests wurde, hat wohl mit den Versprechen zu tun, die es uns gab. Die Schriftstellerin Jagoda Marinić formulierte auf Spiegel Online kürzlich, das Grundgesetz sei für sie die „rechtliche Grundlage für Planbarkeit des eigenen Lebens“. Das Grundgesetz wog uns in Sicherheit, frei leben, reisen, unseren Beruf ausüben oder uns versammeln zu dürfen.
Doch zurück zur Rede des Bundespräsidenten: Natürlich meinte Frank-Walter Steinmeier all das nicht, als er von einem epochalen Bruch sprach. Er fuhr wie folgt fort: „Mit Russlands brutalem Angriff auf die Ukraine ist der Krieg zurückgekehrt nach Europa, ein zynischer Angriffskrieg, der uns in eine Unsicherheit gestürzt hat, die wir doch überwunden glaubten.“
Corona kein Thema, stattdessen Putin und die AfD
Der Krieg in der Ukraine ist eine fürchterliche Tragödie, eigentlich eine Häufung hunderttausendfacher persönlicher Tragödien. Mit dem Grundgesetz hat der Krieg jedoch nichts zu tun. Und die von deutschen Politikern gerne geäußerte Behauptung, nach Jahrzehnten des Friedens sei der Krieg erst durch Russlands Einmarsch in die Ukraine nach Europa zurückgekehrt, ist schlicht falsch.
Als das Grundgesetz seinen 50. Geburtstag feierte, bombardierte die Nato gerade Jugoslawien. Dass deutsche Flieger sich an einem Kriegseinsatz im Ausland beteiligten, war tatsächlich ein Epochenbruch. Das Grundgesetz verbietet eigentlich in Artikel 26 ausdrücklich die Vorbereitung eines Angriffskriegs. Gleichwohl erlaubt es die Beteiligung an Systemen kollektiver Sicherheit, wie der Nato, und so sah das Bundesverfassungsgericht damals kein Problem hinsichtlich der deutschen Kriegsbeteiligung. Es ist in der Juristerei eben immer alles komplizierter, als es uns Laien zunächst erscheint.
Neben Putin nannten sowohl Steinmeier als auch das politische Kommentariat von Zeit bis Welt noch eine weitere vermeintliche Gefahr für den Fortbestand unseres Grundgesetzes. Steinmeier muss als Bundespräsident politische Neutralität zeigen. Daher wagt er nicht, die AfD direkt anzusprechen. Aber es braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, wen er meint, wenn er davon spricht, dass Kräfte erstarkt seien, die unsere Demokratie schwächen und aushöhlen wollten. Wenn er davon spricht, die Fähigkeit der demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit mache uns stark, übernimmt er damit den Duktus seiner Parteigenossen, die so die AfD als undemokratisch darstellen.

Sicher kann man einige Zitate von AfD-Politikern zusammentragen, die im Spannungsverhältnis mit dem Gleichheitsgebot von Artikel 3 des Grundgesetzes stehen. Andererseits hat sich keine andere der großen Parteien in den letzten Jahren der Ausgrenzung von Minderheiten deutlicher entgegengesetzt, nur dass die Minderheiten eben Ungeimpfte, Ungetestete, Unmaskierte waren.
Der wirkmächtigste Vorwurf gegen die AfD in den letzten Monaten war die Anwesenheit einzelner Parteimitglieder auf einer Veranstaltung, wo sie gemeinsam mit CDU-Mitgliedern zuhörten, wie ein Redner vorschlug, Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft auszuweisen. Dieser Vorschlag ist wohl verfassungswidrig und auch schlicht nicht umsetzbar, aber deshalb steht er ja auch nicht im Parteiprogramm.
Dass sich die AfD ein kulturell homogeneres Staatsvolk wünscht, ist kein Geheimnis. Nach Jahrzehnten der Individualisierung, des Internets und der millionenfachen Immigration wird diese Vision zwar unabhängig von allen Wahlergebnissen ein Wunschdenken bleiben. Offenbar spricht die AfD damit jedoch einen großen Teil der Wahlberechtigten an.
Trotz aller Epochenbrüche ist Deutschland eines der freiesten Länder der Welt
Das muss man nicht gut finden und mittlerweile ist es ja ganz gemäß dem Grundgesetz auch wieder jedem erlaubt, sich zu versammeln und seine Meinung kundzutun, auch wenn diese nur daraus besteht, sich abstrakt „gegen Rechts“ zu positionieren, also gegen die politische Himmelsrichtung von Konrad Adenauer oder Richard von Weizsäcker.
Dessen Amtsnachfolger verhält sich aber seinem Amt unangemessen, wenn er beim Staatsakt zum runden Geburtstag des Grundgesetzes eine solche Mobilisierung eines politischen Lagers gegen ein anderes als „Demonstrationen für ein friedliches Zusammenleben“ framt, nachdem er noch 2022 denen, die auf „Spaziergängen“ gegen die Ausgrenzung einer Minderheit aus dem öffentlichen Leben demonstriert haben, eine „Missachtung des sozialen Friedens in unserem Land“ vorwarf.

Global und historisch betrachtet, ist es bemerkenswert, dass ich als unbedeutender Schreiberling den höchsten Mann im Staate öffentlich kritisieren darf. Trotz aller Epochenbrüche ist Deutschland eines der freiesten Länder der Welt. Diese Freiheit gilt es zu bewahren, und bei aller Enttäuschung erscheint mir das Grundgesetz dazu als eine gute Grundlage. In ihrem gegenwärtigen Zustand wäre unsere Gesellschaft ohnehin nicht in der Lage, sich eine neue Verfassung zu geben.
Für die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates von 1948/49, war die Erinnerung an die Gräuel der Nazizeit noch frisch, als sie niederschrieben: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Schwer vorzustellen, dass sie damals, als das Land in Trümmern lag und Menschen Hunger litten, daraus abgeleitet hätten, der Staat habe eine Verantwortung, Geschäfte und Schulen zu schließen und selbst den nächtlichen Ausgang zu verbieten, um die Übertragung einer Atemwegserkrankung zu verlangsamen, wie es das Bundesverfassungsgericht 2021 im Urteil zur sogenannten Bundesnotbremse tat.
Die Gefahr für Leib und Leben, die das Coronavirus mit sich brachte, trumpfte vor den Gerichten über beinahe alles. Eilanträge wurden regelmäßig mit der sinngemäßen Begründung abgewiesen, dass der Antragssteller durch ein paar Wochen oder Monate Einschränkungen seiner Grundrechte keinen bleibenden Nachteil erleide, während die Toten tot bleiben. So ließen sich auch Straßenverkehr oder Alkoholverkauf verbieten, doch es schien, als wurden selbst viele Politiker und Richter erst durch die geschürte Angst vor dem Virus an ihre eigene Sterblichkeit erinnert.
Vereinzelt gaben Gerichte Maßnahmengegnern recht, dann aber meist erst Jahre später. Zum Beispiel erklärte das Bundesverwaltungsgericht im November 2022 die Ausgangssperre in Bayern während des ersten Lockdowns für unwirksam und im Juni 2023 entschied es entsprechend über ein allgemeines Versammlungsverbot in Sachsen. Das mag manchen eine späte Genugtuung verschaffen, aber das Trauma erlebter Unfreiheit in einer auf dem Papier freiheitlichen Gesellschaft bleibt unvergessen.




