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Thomas Brussig ist fasziniert vom Thema Kipppunkt: ängstigende Prozesse, die sich stark beschleunigen und dann in Katastrophen münden können, bei denen Millionen Menschenleben auf dem Spiel stehen. Während die instinktive Furcht uns vor unmittelbarer Gefahr warnt, verweist Angst auf weiter entfernte Risiken. Wem es gelingt, unsere Ängste zu steuern, der kann uns beeinflussen. Oft genug werden damit Ziele verfolgt, für die es im demokratischen Verfahren keine Mehrheiten gäbe, Vorsicht ist also geboten. Aber zwischen Angst und Unglück liegt genug Zeit, um die Vernunft hinzuzuschalten.
Brussig untersucht zu Recht, ob im Fall der Tipping-Points das Ausmaß der Angst gerechtfertigt ist. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die Gefahren von Kippprozessen in der Klimaentwicklung übertrieben werden. Gekippte Gewässer erholen sich wieder. Wo Permafrost war, können Bäume künftig CO₂ binden. Je genauer man Systeme betrachte, als umso stabiler würden sie sich erweisen. Brussig sieht sich im Ergebnis seiner Überlegungen in einer Art Horrorfilm. Irgendjemand will ihn gezielt erschrecken, aber er sitzt nur im Kino.
Was aber, wenn der Schrecken kein Film ist, keinem Drehbuch folgt? Dafür spricht viel. Millionen Menschen erfahren realen klimainduzierten Horror, in Überflutungen, Schlammlawinen, Dürren, Waldbränden und nicht zuletzt in Kriegen um Ressourcen. Brussig beruhigt sich mit dem Vergleich, dass ein Würfel kippen kann, dass er aber deswegen als Würfel nicht verschwindet. Klassische Spielwürfel zeigen jedoch nicht nach jedem Kippen dieselbe Zahl. In einem Fall steht die Augenzahl für den Tod vieler Menschen. Extinction Rebellion warnen gewissermaßen vor einem Würfelkippen, bei dem die angezeigte Augenzahl bedeutet, dass menschliches Überleben auf der Erde unmöglich wird.

Katastrophisten und Apokalyptiker
Folgt man Brussig, ist die Letzte Generation auf ein Angstnarrativ hereingefallen. Die Kipppunkte wären zum G8-Gipfel 2005 in Gleneagles von Tony Blair als Ablenkungsmanöver in Szene gesetzt worden. Nun ist Tony Blair lange weg, Brussig sieht aber weiterhin ein Angstpotenzial der Kipppunkte.
Wer also sind heute die Angstmacher? Zu den üblichen Verdächtigen gehören Regierungen und international tätige Großkonzerne. Im Fall der Klimapolitik haben diese beiden Gruppen allerdings ein Alibi: Sie sind träge bis widerständig, was Aktivitäten zur Reduktion der Klimaerhitzung betrifft. Allgemein grassierende Angst vor drastischen klimatischen Entwicklungen bringt sie geradezu in Schwierigkeiten, sie werden kaum versuchen, solche Ängste selbst zu induzieren.
Wohl oder übel muss ich mich selbst zu den Angstmachern zählen. Zumindest habe ich mich seit der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen von 2009 mehrfach an öffentlichen Warnrufen bezüglich Kipppunkten im Weltklima beteiligt. Gehöre ich also einer apokalyptischen Sekte an, stets mit einer Propagandazeitschrift in der Ellenbeuge? Möglich. Dann wäre ungefähr Folgendes mein Glaubensmantra: Ich bin überzeugt davon, dass der menschliche Umgang mit der planetaren Umwelt lokale und globale Gleichgewichte gehörig durcheinanderbringt. Ich glaube daran, dass es noch zu meinen Lebzeiten Folgen hat, über Jahrmillionen hinweg gespeicherte Kohlenwasserstoffe in nur wenigen Hundert Jahren zu verbrennen.
Unter den Folgen sehe ich auch irreversible Schäden, von denen einzelne wiederum weitere Schadenszunahmen verursachen. Manche dieser Schäden sind nach meiner Einschätzung schon eingetreten. Ich halte Fotos von chinesischen Bauern, die von Hand Obstbäume bestäuben, für eine Veranschaulichung, wie hilflos wir ohne Insekten sein werden.
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Das Leben verläuft nicht linear
Dass Wachstum exponentielle Phasen haben kann, ist unübersehbar. Zu meiner Geburt gab es auf der Erde 3,6 Milliarden Menschen, heute sind es 8,2 Milliarden. Im selben Zeitraum sind die Wildtierpopulationen um rund 70 Prozent zurückgegangen. Der Artenschwund wurde von uns Menschen um den Faktor 100 bis 1000 beschleunigt. Das Bevölkerungswachstum schwächt sich zwar gerade ab. Dafür nehmen Flucht und Vertreibung zu – auch und gerade im Zuge von Veränderungen im Weltklima.
Nichtlineare Prozesse sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Vorgänge entwickeln sich, sie beschleunigen oder bremsen ab oder durchlaufen eine Abfolge von beidem. Das ist kein Grund für Panik. Für den Alltag ist es erlaubt und nützlich, geeignete Teilprozesse als linear anzusehen.

Man muss nur im Kopf behalten, dass Linearität Grenzen hat. Im Kampf gegen die Erderhitzung ist diese Erkenntnis wichtig, um knappe Ressourcen dort einzusetzen, wo sie die größte Wirkung zeigen. Mit dem Wissen darüber, welche Teilsysteme als Nächste zum Umkippen neigen, können wir unsere Gegenmaßnahmen gewichten. Aus der Kenntnis heraus, dass verschiedene Systeme einander sowohl stützen als auch destabilisieren können, können wir Fehler vermeiden und gute Entwicklungen stärken.
Sprachbilder für Systemversagen in der Psychologie und anderen Disziplinen bedienen sich oft bei der Physik. Danach brechen Nerven(-Systeme) zusammen wie Brücken, beim Burn-out brennt sprachlich das psychische Haus nieder, Finanzmärkte crashen wie Autos in einer Massenkarambolage. Bezogen auf das Weltklima ist die sprachliche Analogie jedoch ambivalent: Worte wie Einsturz oder Kollaps suggerieren buchstäblich sekundenschnelle Abläufe. Planetare Teilsysteme kollabieren aber zehn, 25 oder 100 Jahre lang. Danach ist dieses System unwiederbringlich zerstört.
Die Regenwälder produzieren etwa die Hälfte des Wassers, das sie benötigen, selbst. Ab dem Verlust von einem Viertel der Waldfläche beginnt eine selbstinduzierte Versteppung, die weder durch den Stopp von Rodungen umgekehrt werden kann noch durch Aufforstungen. Im Amazonasgebiet werden bis 2050 zwischen zehn und 47 Prozent der Waldfläche zerstört sein, der Kipppunkt ist dann überschritten. Wir beobachten womöglich gerade einen Zusammenbruch in extremer Zeitlupe.

Noch können wir umdenken
Brussig hatte sich den klimatischen Kollaps anders vorgestellt. Er empfiehlt uns, zu akzeptieren, dass die Ursachen von Klimaerhitzung nicht wirkungsvoll bekämpft werden können: eine anthropologische Kränkung, aber unvermeidlich. Damit fällt Brussig jedoch hinter die zentrale Erkenntnis unserer Generation zurück: Die Erhitzung des Planeten im Anthropozän ist von Menschen verursacht. Das ist bitter, aber auch ermutigend: Es ist kein Meteorit, der auf uns zurast, wir selbst bedrohen unsere Zukunft, und auch wenn wir nicht mehr alle Schäden beheben können, so können wir immerhin mit dem Schädigen aufhören.
Wobei das Wort Anthropozän suggeriert, dass alle Menschen für die Misere dieselbe Verantwortung tragen. Tatsächlich verursachen manche Länder einen deutlich größeren CO₂-Ausstoß als andere, und wenige sehr vermögende Menschen haben einen vielfach größeren ökologischen Fußabdruck als die allermeisten. Dort anzufangen, hätte fraglos den größten Effekt. Wir alle können beim Zähneputzen künftig das Wasser abstellen, statt es weiter laufen zu lassen. Aber solange Quartalsberichte und Hochfrequenzhandel die Förderung von Erdöl und Kohle belohnen, solange der Ausstoß von CO₂ so ungemein lukrativ ist, bleiben persönliche Bemühungen zu schwach. Wir sollten uns daher damit befassen, dass wir selbst Systemen unterliegen, die nicht linear sind – und in die wir eingreifen können.

Wir brauchen junge Wut
Der Begriff Kapitalozän besagt, dass das System des real existierenden Kapitalismus treibende Kraft ist hinsichtlich der Emission von Treibhausgasen und anderer Umweltzerstörungen. Der eingeschriebene Zwang zum Wachstum bei endlichen Quellen und Senken mündet für die Menschheit in die Katastrophe, linear wie nichtlinear. Dabei ist der Kapitalismus ohne eigenes Bewusstsein. Der eigene Untergang nach Überschreiten planetarer Kipppunkte ist dem Kapitalismus gewissermaßen gleichgültig.
Allerdings ist diese Form der Organisation des menschlichen Miteinanders keineswegs ein Naturgesetz. Es gab und gibt ein Leben jenseits des Zwangs zur immer weiteren Kapitalakkumulation. Wir Menschen haben Bewusstsein und Vorstellungskraft. Im Moment haben unsere Gesellschaften vielfach Schwierigkeiten, für mehr als fünf Jahre im Voraus zu planen. Aber in der menschlichen Geschichte haben wir uns immer wieder als fähig erwiesen, bestehende Gesellschaftsformen zu überwinden. Das kann uns auch beim auf Zerstörungskurs befindlichen Kapitalismus gelingen.
Persönlich finde ich es nicht ratsam, viele Jahre im Alarmzustand zu verbringen. Als Menschheit benötigen wir jedoch Kraft und Ausdauer, um uns der Prozesse bewusst zu bleiben, die sich in Zeitlupe um uns herum vollziehen. Dabei kommt uns zugute, dass Jugendliche und junge Erwachsene in jedem neu heranwachsenden Jahrgang zu dem Schluss kommen, dass sich zu ihren Lebzeiten etwas fundamental ändern muss. Werden sie wütend angesichts der Erkenntnis, dass viel zu wenig getan wird gegen die Zerstörungen, die ihre zukünftigen Lebensbedingungen stark beeinflussen werden, dann sollten wir nicht abwiegeln, sondern ihre Impulse aufgreifen. Es gibt keinen Grund, schon aufzugeben. Mithilfe der berechtigten Angst junger Menschen vor einer dystopischen Zukunft können wir die Welt noch retten.






