Kürzlich veröffentlichten die Autoren Peter Brandt, Hajo Funke, Harald Kujat und Horst Teltschik in dieser Zeitung einen Artikel mit dem Titel „Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden“. An diesem völlig empathielosen Beitrag ist besonders auffällig, wie General a.D. Kujat, der seit Beginn der russischen Offensive gegen die Ukraine noch mit jeder Prognose danebenlag, jetzt mit professoraler Unterstützung apodiktisch behauptet, die Ukraine könne diesen Krieg nicht gewinnen.
Da mag ein großes Missverständnis vorliegen: „Sieg“ über Russland muss man sich in diesem Fall nicht vorstellen wie die Zerstörung und Besetzung Nazideutschlands 1945, sondern er würde darin bestehen, dass die Position von Russlands Streitkräften in der Ukraine so unhaltbar wird, dass sie abziehen müssen.
Das ist durchaus vorstellbar, vorausgesetzt, dem überfallenen Land wird weiterhin geholfen, und zwar nicht nur „so lange wie nötig“, sondern auch „mit allem, was erforderlich ist“ – und jeweils zeitgerecht ohne monatelange Verzögerung.
Folgendes ist an diesem Plädoyer für einen „Verhandlungsfrieden“ kritisch zu sehen: Außer dem ersten Satz, der eher einer Pflichtübung gleicht (russischer Angriffskrieg, legitimer ukrainischer Verteidigungskrieg) geht der Appell, „Vernunft walten zu lassen“ und „sich der Steigerung von Gewalt und Zerstörung nicht hinzugeben“, nicht etwa an den Aggressor, sondern an die ukrainische Regierung, als ob diese für die „ständige Intensivierung der Kriegführung“ verantwortlich sei.

Naiv und verharmlosend?
Diese latente Identifizierung mit der Position Russlands durchzieht das ganze Papier. Der verbrecherische Charakter der russischen Unterwerfungsoffensive, sowohl nach dem ius ad bellum (Rechtfertigungsgrund) als auch nach dem ius in bello, angesichts der kriegsvölkerrechtswidrigen Methoden, wird völlig unterschlagen.
Die Auflistung der „politischen Ziele, derentwegen sie diesen Krieg führen“, beziehungsweise der „Positionen der Kriegsparteien“ ist naiv, fast tendenziös verharmlosend.
Denn Russlands oberstes Ziel ist die Unterwerfung der Ukraine und, wenn sie sich dem widersetzt, ihre Zerstörung samt Vernichtung ihrer staatlichen Identität und Kultur. Das Ziel der überfallenen Ukraine ist Überleben in ihren staatlichen Grenzen nach den zentralen Regeln der europäischen Sicherheitsordnung (Helsinki 1975, Paris 1990), die Präsident Putin allesamt mit Füßen getreten hat: souveräne Gleichheit der europäischen Staaten, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitbeilegung, freie Bündniswahl.
Wie kann man da so tun, als handele es sich um zwei „Kriegsgegner“, die ihre Kräfte messen, und auf diese Weise Aggressor und Verteidiger implizit gleichsetzen? Wie kann man glauben, zwischen Vernichtungswillen und Überlebenskampf seien Kompromisse denkbar? Wo ist denn hier der Appell an Russland, „die Eskalationsschraube anzuhalten“?
Der pseudowissenschaftliche Anstrich des Beitrags durch zahlreiche Fußnoten kann nicht beeindrucken, ist aber aufschlussreich, weil die Zitate hauptsächlich die russische Position reflektieren. Insbesondere Putins Aussagen scheinen zum Nennwert genommen zu werden.
Ob er die Sowjetunion oder Großrussland wiedererstehen lassen will, ist beispielsweise völlig belanglos, und angesichts vieler seiner Aussagen – nicht zuletzt in dem Aufsatz vom Juli 2021 über die „historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ (natürlich unter russischer Beherrschung) wie auch der militärische Kräfteansatz am 24. Februar 2022 – lassen die Aussage in dem Pamphlet ziemlich arglos erscheinen, es gebe „keinen Beleg dafür, dass das politische Ziel der ‚militärischen Spezialoperation‘ die Eroberung und Besetzung der gesamten Ukraine ist“.

Die hier mithilfe mehrerer zitierter Äußerungen so positiv bewertete „Bereitschaft“ Präsident Putins zu Verhandlungen lässt kein auch noch so geringes Abrücken von irgendeinem seiner Ziele oder Neigung zur Rückgabe eroberten Territoriums erkennen. Sie steht unter dem Motto „Was ich haben will, nehme ich mir, über den Rest können wir verhandeln“.
Der vorgeschlagene Verhandlungsplan soll hier nicht im Einzelnen kommentiert werden. Angesichts der mit Russland gemachten Erfahrungen hat er keinerlei Chance auf Realisierung und eröffnet keine Aussichten auf Vertragstreue der russischen Führung.
Würde es zu einer weiteren Offensive kommen?
Bezeichnend ist, dass deren Schreiben an die Nato und die USA vom 17. Dezember 2021 „berücksichtigt“ werden sollen, in denen ja die Rückabwicklung der Veränderungen in Mittelosteuropa seit 1991 verlangt wurde.
Und es darf angenommen werden, dass Russland jeglichen Waffenstillstand zur Auffrischung und Neuordnung seiner militärischen Kräfte benutzen, die nächste Offensive vorbereiten und generell so handeln wird wie nach dem Minsk-II-Abkommen, das die Verfasser nur hinsichtlich der die inneren Angelegenheiten der Ukraine betreffenden Aspekte würdigen und nicht hinsichtlich der russischerseits übernommenen Verpflichtungen. Über 12.000 Tote gab es nach dem damaligen „Waffenstillstand“!
„Die Ukraine hat dem russischen Angriffskrieg bisher durch die umfassende Unterstützung des Westens widerstanden“ ist nur die halbe Wahrheit. Ohne den geradezu heldenhaften Widerstand der Streitkräfte und des ganzen Volkes in seiner Entschlossenheit, sich nicht unterwerfen zu lassen, hätten auch westliche Waffen nichts genützt.
In diesem Zusammenhang fällt der Vorwurf gegen „die bisher und immer wieder aufs Neue von Laien geforderte Lieferung von ‚Wunderwaffen‘“ auf die Verfasser zurück. Damit sind wohl Experten wie MdB Roderich Kiesewetter („deutsche Politiker, die das strategische Prinzip der Zweck-Mittel-Relation nicht verstehen“) oder auch General a.D. Bühler und der Autor dieser Zeilen gemeint, die schon lange für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern eintreten.
Der Fall möge hier als Exempel dafür dienen, wer wohl laienhaft argumentiert: Taurus ist eine Luft-Boden-Abstandswaffe mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern. Circa 600 Systeme befinden sich im Bestand der deutschen Luftwaffe.
Die Ukraine fordert seit langem einen Teil davon mit zunehmender Dringlichkeit, weil damit hinter den russischen Verteidigungslinien und aus sicherer Entfernung Ziele wie Gefechtsstände, Straßen und Eisenbahnlinien, Brücken, logistische Einrichtungen wie Depots und dergleichen getroffen werden können – zur Reduzierung der russischen Kampfkraft und zur Beeinträchtigung des Nachschubs.

Entscheidungen werden hinausgezögert
Wie wirksam solche Systeme sind, erweist sich an den von Großbritannien und Frankreich bereits gelieferten Marschflugkörpern Storm Shadow und Scalp. Insofern gibt es hier nicht die Gefahr eines deutschen „Alleingangs“. Trotz der Appelle auch aus den Koalitionsparteien zögert Bundeskanzler Scholz mit einer Entscheidung.
Es wiederholt sich offenbar das Drama um die Kampf- und Schützenpanzer, wo die positive Entscheidung erst ein Dreivierteljahr nach dem Bundestagsbeschluss vom 28. April 2022 für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine fiel.
Dass diese im vergangenen Herbst nicht die Mittel hatte, das Angriffsmomentum bei Charkiw und Cherson auszuweiten, hat es den russischen Kräften erst ermöglicht, sich während eines halben Jahrs ungestört zu tief gestaffelter, befestigter Verteidigung einzurichten und das Gelände in nie gesehenem Ausmaß zu verminen.
Warum die Appelle auch von Koalitionspolitikern an ihm abprallen, begründet der Bundeskanzler nicht und verweist lediglich auf die Unterstützung seines „besonnenen“ Kurses durch die Bevölkerung.
Die wäre jedoch sicher zu größerer Zustimmung bereit, würde eindringlich erklärt, dass bei einem Sieg Putins die Kosten auch für uns viel höher wären, als was wir jetzt „auszuhalten“ haben in puncto Flüchtlinge, Inflation, Energiekosten. Setzte er seine Ziele durch, werden vielleicht sogar eines Tages deutsche Soldaten bei der Verteidigung Litauens ums Leben kommen.
Natürlich sind Scholz’ eigentliche Beweggründe leicht zu vermuten: verstecken hinter dem auch zögerlichen US-Präsidenten; Eskalationsfurcht (die sich aber bei keinem Übergang zu einem potenteren Waffensystem als berechtigt erwies); Misstrauen gegenüber ukrainischen Zusagen, westliche Systeme nicht auf russischem Territorium einzusetzen; Rücksichtnahme auf Kräfte in der SPD.

Keine Wunderwaffe
Auch wenn das Zeitfenster für Taurus eigentlich schon fast verpasst ist (gut, dass wenigstens London und Paris geliefert haben!), hätte man gehofft, dass am Rande der UN-Generalversammlung oder bei der letzten Ramstein-Konferenz endlich eine positive deutsche Entscheidung verkündet worden wäre.
Natürlich ist das System Taurus keine „Wunderwaffe“, solche gibt es nicht, und eine derartige Unterstellung gegenüber den „laienhaften“ Politikern ist albern. Aber es kann im oben beschriebenen Sinn zur Verkürzung des Krieges beitragen.
Der wird wohl nicht dadurch enden, dass der letzte Quadratkilometer eroberten ukrainischen Territoriums physisch befreit wird. Aber realistische Szenarien, wie die russischen Streitkräfte zum Abzug gezwungen werden, lassen sich durchaus vorstellen und sollten verfolgt werden.
Der Beitrag ist auch durchzogen von dem Unterton, Russland verfolge mit dem Krieg vertretbare Ziele, „eine weitere Eskalation durch absehbare Offensiven der russischen Streitkräfte“ wird als Reaktion auf ukrainisches Handeln dargestellt, und von der „Verteidigung“ durch die russischen Streitkräfte wird mit einer Konnotation des Legitimen gesprochen.
Ja, die Initiative liegt mittlerweile bei den ukrainischen Streitkräften, und taktisch ist Russland in der Gefechtsart Verteidigung. Aber diese „Verteidigung“ spielt sich auf ukrainischem Territorium ab, sie ist das fanatische Festkrallen an geraubten Gebieten, ohne Rücksicht auf Verluste. Diese sind übrigens auf russischer Seite wesentlich höher als auf ukrainischer, was der Beitrag nicht erwähnt.

Zum Schluss noch Folgendes: Wenn diese Reaktion im ersten Satz das Wort „empathielos“ benutzt, so bezieht sich das auf die herzlose Art, in welcher der Verhandlungsvorschlag die Abtretung der von Russland annektierten Oblaste voraussetzt. Man hört ja oft, wie von oben herab gesagt wird, ohne Gebietsabtretungen werde es für die Ukraine nicht abgehen.
Dabei wird übersehen, dass „abzutretende Gebiete“ nicht abstrakte Landstriche sind, sondern Regionen, Städte, Dörfer mit Millionen von Einwohnern, denen unter russischer Herrschaft das passiert, was andernorts schon vorkam und hier teilweise bereits im Gange ist: Mord, Folter, Vergewaltigung, Vernichtung von Lebensgrundlagen und Kulturgut, Liquidation von Kommunalpolitikern, gewaltsame Russifizierung – und, besonders verwerflich, die Verschleppung Zehntausender Kinder, deren Personalpapiere vernichtet werden und die man in russischen Familien oder Heimen einer „Umerziehung“ unterzieht.
Können die Verfasser sich in die Lage der Eltern versetzen, die nach Kriegsende verzweifelt nach ihren Kindern forschen müssen?
Diese Vorschläge zur Kriegsbeendigung gehen einseitig von der russischen Sicht aus, verschweigen den Charakter dieses verbrecherischen Angriffskrieges, implizieren eine Kapitulation der Ukraine und gehen in den Einzelheiten an den Realitäten vorbei. Ein „gerechter“ Frieden kann nicht auf Anerkennung der russischen Kriegsziele aufgebaut werden.
Brigadegeneral a.D. Dr. Klaus Wittmann lebt in Berlin und lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.









