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Schnellfahrstrecke Peking–Shanghai: In Siebenmeilenstiefeln zum Ziel

In vier Stunden von Chinas Hauptstadt in die 1300 Kilometer entfernte Metropole Shanghai: Ein Bericht von einer futuristischen Reise mit dem Hochgeschwindigkeitszug.

Der Südbahnhof in Peking, China, 2023
Der Südbahnhof in Peking, China, 2023Cfoto/imago

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Natürlich, wir hätten auch die U-Bahn nehmen können. Aber unser chinesischer Freund meinte, wir seien mit dem Auto schneller. Von der Innenstadt bis zum Südbahnhof sei es nicht so weit. Angesichts des dichten Verkehrs auf den drei, bisweilen sogar fünf Spuren war das ein kühnes und kaum einlösbares Versprechen. Wie sich allerdings zeigte, wollte er jedoch nur den Mietwagen loswerden, mit dem wir am Tag zuvor durch Beijing gefahren waren. Parkplätze sind in der Hauptstadt rar. Selbst die meisten Fahrräder, die durch die Stadt rollen, sind darum geliehen. „There are nine million bicycles in Beijing“, sang 2005 Katie Melua nach einem Besuch dort. Vermutlich sind es heute noch mehr. Wo aber stellt man das Privat-Rad ab, wenn man es nicht braucht? Da scheint die Lösung mit dem Leihfahrzeug logisch. Das gilt für Zwei- wie für Vierräder.

Die Beijing South Railway Station ist, wie die meisten Bahnhöfe, die wir auf der Fahrt nach Shanghai passieren sollten, keine zwanzig Jahre alt. Und auch dieser Bahnhof gleicht einem Airport-Terminal. Im Obergeschoss befinden sich die üblichen Einrichtungen, auf der Ebene darunter die Gleise. Wang hat unsere Tickets auf dem Handy, sie mussten bis 24 Stunden vor der Abfahrt elektronisch geordert werden. Man geht schließlich auch in Schönefeld nicht zum Schalter am Flughafen und sagt: Bitte einmal Berlin-Brüssel und zurück. Und da wir seine Gäste sind, hat er 1. Klasse gebucht. Chinesen wollen ihren Gästen stets das Beste tun. Das beginnt beim Essen und endet beim Essen. Und dazwischen liegt noch einiges. Zum Beispiel eine Bahnfahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug ins 1300 Kilometer entfernte Shanghai im Süden. Vier Stunden mit 350 km/h. Ein Katzensprung.

Die Bahnhofshalle ist ein einziger riesiger Wartesaal unter einer gewaltigen Glaskuppel, eine Ellipse von 380 mal 400 Meter. Überhaupt ist die gesamte Konstruktion sehr innovativ: Zu den Olympischen Spielen 2008 wurde sie planmäßig nach drei Jahren Bauzeit eröffnet, offiziell hat sie umgerechnet weniger als 800 Millionen Euro gekostet. Der ganze Südbahnhof erstreckt sich über 30 Hektar und ist damit nicht einmal Chinas größter. Was die Ausdehnung betrifft. Hinsichtlich der Reisenden, die hier starten oder ankommen, ist dieser Bahnhof jedoch der größte. In Asien. Man zählt um die 200 Millionen Reisende im Jahr, heißt es, 30.000 in der Stunde.

So viele sind wohl gerade in der Halle. Sie stehen oder sitzen, dehnen ihre Gelenke bei sportlichen Übungen oder laufen umher, warten diszipliniert in Schlangen vor den Gates, von denen Rolltreppen nach unten zu den zwei Dutzend Gleisen führen. Das Licht fällt durch das Glasdach auf das bunte, lockere Gewimmel sowie auf elektronische Anzeige- wie auf Werbetafeln. Auffällig präsent: deutsche Automarken, die hier für Modelle werben, die wir daheim nicht kennen. Wie auch die erstaunlich günstigen Preise für chinesische Elektroautos.

Futuristische Architektur: Bauwerke, von denen wir nur träumen können

Die Weitläufigkeit der Halle mit ihren tragenden Säulen und den Blumenkübeln lässt nicht im Entferntesten den Anflug von Enge oder gar Gedrängtheit aufkommen. Ein britischer Architekt hat in Kooperation mit einem chinesischen Designerbüro dieses gleichermaßen fantastische wie futuristische Kunstwerk entworfen. Wie überhaupt unzählige Architekten aus Europa in China Bauwerke errichteten, von denen wir in Europa nur träumen können. Insbesondere in Deutschland, wo die Architektur auf den Hund gekommen zu sein scheint. Das liegt aber kaum an den Architekten allein.

Wie auf den internationalen Airports – und auf den chinesischen Bahnhöfen, der Übergang ist gleitend, selbst die Sicherheitskontrollen unterscheiden sich nicht – gibt es auch hier eine Business-Lounge für die Erstklässler. Der Unterschied vielleicht: Wenige Minuten vor der Abfahrt tritt eine junge Frau in Uniform heran, sagt, dass der Zug bereitstehe, greift sich den Koffer und rollt mit uns zum Gate. Wir müssen die Pässe zücken, sie entschuldigt sich, dass unser Abteil ganz vorn sei und wir ein paar Schritte gehen müssten. Wir plaudern ein wenig. An der Schule – sie spricht von „Studium“ – hat sie natürlich Englisch gelernt. Diesen Job wird sie nicht ewig machen, sagt sie auch, sie werde bald in der riesigen Verwaltung der Staatsbahn aufsteigen. Immerhin: China Railway (CR) betreibt das größte Hochgeschwindigkeitsnetz der Welt, über 40.000 Kilometer. Zwei Drittel der Welt. Deutschland ist an dem restlichen Drittel übrigens nicht beteiligt. Die Strecken, auf denen die DB mehr als 200 km/h fahren kann, lassen sich an wenigen Fingern abzählen. Der schnellste deutsche Zug kommt auf 300 km/h. Die Chinesen „fliegen“ nicht nur weiter, sondern auch schneller.

Unser Abteil, in welchem die Chinesin unser Gepäck verstaut und sich dann so freundlich verabschiedet wie sie uns begleitete, weist zehn klobige Sessel auf, die sich elektrisch in alle Lagen bringen lassen. Und die beiden Zugbegleiterinnen – zuständig nur für diese paar Menschen – bringen sogleich Kopfkissen und Schlappen, selbstverständlich auch wärmende Decken für den Fall, dass einem die Klimaanlage zu kühl ist oder man sich beim Schlafen bedecken möchte.

Kaum dass sich der Zug in Bewegung setzt, telefoniert Wang. In einer Stunde gibt es den ersten Halt, da möchte er ein warmes Essen von einem lokalen Anbieter gebracht haben. „Eine Spezialität“, begründet er. Bisher verzehrten wir nur „Spezialitäten“. Vermutlich veranlasste ihn zu diesem Telefonat kaum die Sorge, wir könnten bis Shanghai verhungern. Denn zum Service gehört selbstverständlich auch ein üppiges warmes Mahl, das in der Bordküche zubereitet wird. Das Menü ist wie im Flieger – nur der Platz ist üppiger, um mit den diversen Behältnissen zu hantieren. Und wir müssen an den Automaten in den Wagenübergängen auch nicht gratis heißes Wasser für den Tee oder kaltes für den Durst zapfen – das wird selbstverständlich gebracht, wenn man es denn wünscht.

Aufforstung in China: Bäume pflanzen ist Bürgerpflicht

Wir fliegen mit weit über 300 Sachen durch eine flache Landschaft, die zumeist grün ist. Felder und Wäldchen. Die Bäume oft ziemlich jung. Vermutlich wurden sie im Rahmen des seit Jahrzehnten laufenden Aufforstungsprogramms gesetzt. Bis 2050 will China 350.000 Quadratkilometer – das ist die Gesamtfläche Deutschlands – bepflanzt haben. Deshalb muss jeder Chinese, der zwischen elf und 60 Jahre alt ist, in jedem Jahr drei bis fünf Bäume pflanzen; kommt er dieser staatsbürgerlichen Pflicht nicht nach, droht ein Bußgeld. Natürlich gibt es auch eine Art Ablass: Wer nicht selber pflanzt, gibt einen adäquaten Obolus in einen Fonds. Selbstverständlich rümpfen aus Prinzip – wie bei uns ebenfalls Praxis – auch in China einige Kritiker die Nase. Etwa weil sogar die Uiguren zur Errichtung der „Grünen Mauer“ herangezogen werden (ausgenommen die Minderjährigen). Und weil insbesondere für die Schutzwälder vorzugsweise schnell wachsende, aber nichtheimische Baumarten genommen werden, etwa Pappeln und Tannen. Die chinesische Vertretung von Greenpeace moniert die fehlende „Lebendigkeit natürlicher Wälder“. In diesen Monokulturen wollten keine Vögel leben. Und dass diese Bäume den Grundwasserspiegel senkten. Das sind Probleme, wohl wahr, Monokulturen sind anfällig für Krankheiten – im Jahr 2000 gingen etwa eine Milliarde Pappeln allein im Autonomen Gebiet der Hui im Nordwesten Chinas verloren. Aber kann man hundert Jahre warten, bis ein gesunder Mischwald gewachsen ist? Das in die Luft geblasene Kohlendioxid muss heute und nicht erst morgen gebunden werden.

Am Fenster schweben Wind- und Solarparks vorüber, die Paneele und Windräder reichen mitunter bis zum Horizont. Und was ein für deutsche Augen ungewöhnlicher Anblick ist: Alle Rotoren sind in Bewegung und produzieren also nachhaltigen Strom. An der Stirnseite, über der automatisch schließenden Tür, werden unablässig die relevanten Daten auf einem eleganten Display angezeigt: Geschwindigkeit, Uhrzeit, die Innen- und die Außentemperatur. Die draußen steigt unablässig Richtung 40 Grad, je weiter wir nach Süden düsen. Ruhig, ohne Turbulenzen oder Erschütterungen. Die Schienen liegen nicht auf Schotter, sondern auf einem Betonbett, und dieses streckenweise auf Stelzen über dem Boden. Das Gleis wird nicht mit Güter- und Nahverkehrszügen geteilt, es gibt folglich kaum Weichen. Und wenn die freie Fahrt doch einmal gebremst werden sollte, der Rückstand zum laufenden Fahrplan mehr als eine Minute ausmacht, bekommt der Pilot über Funk eine Weisung aus der Zentrale, schneller zu fahren als vorgegeben. Denn die Bullet Trains der neuesten Generation können dies: nämlich schneller als 350 km/h rasen. Bei einer Testfahrt auf der Strecke Beijing–Shanghai fuhr man schon 487 km/h, berichtete Spiegel online bereits 2010. Bei rollendem Material ist bei 600 km/h jedoch objektiv Schluss. Deshalb arbeiten die Chinesen an einer Schwebebahn, die durch eine Vakuumröhre schießen soll.

Waggonwerk in Wuhan nach Dessauer Vorbild

Die Anfänge der chinesischen Bahngeschichte wurzeln indes in der DDR. Mitte der 50er-Jahre hatte der VEB Waggonbau Dessau auf Wunsch Beijings spezielle Kühlzüge entwickelt und zugleich 600 Chinesen zur Ausbildung in die DDR entsandt. Danach baute man in Wuhan ein eigenes Waggonwerk nach Dessauer Vorbild. Der VEB Waggonbau Ammendorf und der VEB Waggonbau lieferten Ende der 70er-Jahre, nach Chinas Öffnung 1978, Reisezugwagen in großer Menge in die Volksrepublik. (Nebenbei: Der DDR-Anteil am weltweiten Export von Reisezugwagen betrug damals 75 Prozent.) Der Bedarf Chinas an Schienenfahrzeugen stieg in den 80er-Jahren gewaltig an, den die DDR allein nicht bedienen konnte – obgleich auch die volkseigenen Waggonbaubetriebe in Niesky, Bautzen und Görlitz unter Hochdruck produzierten.

So kamen beide Seiten überein, dass die DDR Personal und Knowhow nach China entsendet, um dortige Eisenbahnbetriebe zu rekonstruieren. Im Gegenzug schickte China an die tausend Landsleute zur Ausbildung in die DDR. Insbesondere der Technologietransfer half dem chinesischen Schienenfahrzeugbau voran. Inzwischen ist die China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC), an deren Wiege die DDR stand, der größte Schienenfahrzeughersteller der Welt. Die EU hat CRRC auf dem Zettel: Im Februar dieses Jahres leitete es eine Untersuchung wegen angeblicher Nutzung staatlicher Subventionen zur Unterbietung von Konkurrenten in Europa ein …

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Wir fliegen träumend dahin, vergessen die ideologischen Händel von Derisking und Decoupling, womit auch der Zugang dieser Hochgeschwindigkeitszüge zum europäischen Markt verhindert werden soll. Und erreichen Shanghai mit einer Minute Verspätung. Was zu allgemeiner Empörung im Zug und auf dem Bahnsteig führt. Männer in Uniform dokumentieren diesen auf den elektronischen Tafeln angezeigten Betriebsunfall. Auch Wang bedient entrüstet seine Handy-Kamera.

Nutzer der Deutschen Bahn würden an dieser Stelle in homerisches Gelächter ausbrechen. Was ist schon eine Minute …

Frank Schumann ist Verleger des 1990 gegründeten Verlages Edition Ost.

Konrad Herrmann: Technologietransfer. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik China in den 1980er Jahren. Edition Ost, Berlin 2024. 388 Seiten, 21 Euro

Hans Modrow: Brückenbauer. Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen. Edition Ost, Berlin 2021. 236 Seiten, 15 Euro

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