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Fachkräftemangel in Berlin: „So krass war es noch nie“, sagt die Friseurin

Akademisierung, Überalterung: Gründe für Fachkräftemangel gibt es viele. Aber was ist mit den vielen Arbeitslosen? Verschärft das Bürgergeld die Lage?

Wo sind nur die Friseure hin?
Wo sind nur die Friseure hin?Benjamin Pritzkuleit

Alle paar Wochen gehe ich zum Friseur. Seit Jahren bin ich Kundin im gleichen Salon, und dass Termine schwer zu kriegen sind, nehme ich in Kauf. Die Stimmung ist unverkrampft, es wird viel gelacht und hinterher sehe ich besser aus als vorher. Mehr kann man nicht erwarten, finde ich. Ein Friseurbesuch ist Vertrauenssache. Wenn die Sache schiefgeht, hat man ein Problem.

Bei meinem letzten Besuch begrüßte mich die Chefin. Wir kennen uns, aber persönlich treffe ich sie selten. Normalerweise frisiert sie nämlich in ihrer zweiten Filiale in Neukölln. „Wir wickeln den Salon in Neukölln gerade ab“, erzählte sie, „Ende Dezember ist Schluss.“ An Kundschaft mangele es nicht, erfuhr ich, vielmehr sieht sich die Unternehmerin gezwungen, den Laden zu schließen, weil sich partout kein Personal finde. „Niemand will mehr Haare schneiden.“

Die Friseurin ist Meisterin in dritter Generation, sie und ihre zwei Salons haben so manche heiße Phase durchgestanden. Die Wende, die Geiz-ist-geil-Welle, die Wirtschaftskrise und Corona. Jetzt aber ist Schluss, zumindest für die Neuköllner Zweigstelle. „Ich habe den Laden von meinen Eltern übernommen“, erzählte sie, „er ist immer gut gelaufen. Aber was soll ich machen?“ Mit Farbe auf dem Kopf saß ich im Stuhl, blickte der Chefin durch den Spiegel ins Gesicht und hörte ihre Geschichte. „Friseure und Friseurinnen sind seit Jahren Mangelware“, erklärte sie, „so krass aber wie in den letzten Monaten war es nie.“

Friseure gesucht!
Friseure gesucht!dpa/Felix Hörhager

Kein einziger Mensch würde sich auf ihre Stellenanzeigen bewerben und die Jobbörse der Arbeitsagentur sei auch keine Hilfe. „Regelmäßig melde ich denen eine offene Stelle und mir als Unternehmerin werden auf deren Online-Portal im Gegenzug Hunderte Friseure angezeigt. Darunter viele gut ausgebildete Leute.“ Schreibt ein Salon eine Stelle aus, erfuhr ich, fordert die Arbeitsagentur die als arbeitssuchend gemeldeten Friseure und Friseurinnen auf, sich zu bewerben.

Umgekehrt werden der Meisterin die in Berlin als arbeitslos gemeldeten Fachkräfte verschlüsselt angezeigt. Allein in diesem September waren das 676 Gesellinnen und Gesellen. Im Friseurgeschäft kam allerdings keine einzige Bewerbung an. Null Komma nichts. Wenn die Meisterin bei der Arbeitsagentur anruft und fragt, wo all die Menschen sind, die sich nicht bei ihr bewerben, erhält sie keine Auskunft. „Die im Amt ersticken in Anträgen und haben sowieso längst resigniert“, vermutet sie.

Ist denn bei 3,5 Millionen Hartz-IV-Empfängern kein Friseur dabei?

„Wenn es um das Thema Fachkräftemangel geht, dann berichtet ihr Journalisten immer von der Überakademisierung, von den Babyboomern oder der Alterspyramide. Aber von den 3,5 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfängern in unserem Land höre ich nie was. Ist da kein einziger Friseur dabei, der bei mir arbeiten kann?“ Ihr Tonfall war nicht vorwurfsvoll, aber sie war frustriert.

Früher, erzählte die Unternehmerin, kamen ab und an Langzeitarbeitslose im Salon vorbei. Die meisten wollten sich einen Stempel abholen, damit ihnen die Sozialleistungen nicht gekürzt werden. Manchmal aber waren es auch sogenannte Zuverdiener, also Menschen, die weiterhin vom Amt Leistungen bezogen und diese mit einigen Stunden Arbeit pro Woche aufstockten. „Die meisten sind leider nicht lange geblieben. Die frisieren lieber nebenher schwarz, verdienen am Ende mehr und lachen mir ins Gesicht.“ Mittlerweile, sagt sie, käme ohnehin niemand mehr.

Für Friseure ist es lukrativer, privat Haare zu schneiden als angestellt im Friseursalon. 
Für Friseure ist es lukrativer, privat Haare zu schneiden als angestellt im Friseursalon. imago/imagebroker

Schwarzarbeit im Friseurhandwerk ist ein imminentes Problem. Und die Corona-Krise hat es nicht besser gemacht. „Rund ein Viertel aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben sich nach insgesamt 17 Wochen Corona-Lockdown aus dem Angestelltenverhältnis verabschiedet“, schätzt Jan Kopatz, der Obermeister der Friseurinnung Berlin. „Nicht wenige haben sich arbeitslos gemeldet und schneiden jetzt in ihren Wohnzimmern der Nachbarschaft die Haare.“

Tatsache ist: Friseure verdienen nicht viel. Das Einstiegsgehalt nach Abschluss der Ausbildung liegt bei unter 2000 Euro. Damit arbeiten über 90 Prozent aller Friseure und Friseurinnen im Niedriglohnbereich. Das zumindest ergab im Jahr 2021 eine Anfrage der Linke an die Bundesregierung. Der Job ist körperlich anstrengend und psychisch fordernd. Wer frisiert, steht acht Stunden am Tag, muss freundlich sein und Trinkgeld ist keine kalkulierbare Größe. Wen wundert es, dass die sozialen Sicherungssysteme hier ein attraktives Konkurrenzangebot darstellen? Andererseits ist der Beruf kreativ, kommunikativ und definitiv zukunftssicher.

Warum in seinem Handwerk so wenig gezahlt wird, frage ich Kopatz. „Wie viel darf bei Ihnen ein Friseurbesuch kosten?“, fragt er zurück. „Es gibt keine hohe Preisakzeptanz in der Branche. Wenn ein Meister seiner Fachkraft 14 oder 15 Euro in der Stunde zahlt, muss er das als Arbeitgeber mit dem Faktor 3,5 multiplizieren, um kostendeckend arbeiten zu können.“

Dafür, dass Langzeitarbeitslose ab Januar mehr Geld bekommen sollen, haben in meinem Friseursalon die Chefin und die Angestellten durchaus Verständnis. Was ihnen allerdings übel aufstößt, ist, dass das Bundeskabinett im Mai dieses Jahres ein Moratorium beschlossen hat, das die Sanktionen, also Kürzungen von Sozialleistungen bei Hartz-IV-Empfängern, ausschließt. Seit Juli 2022 ist es in Kraft. Konkret heißt das: Pflichtverletzungen (zum Beispiel die Weigerung, eine zumutbare Arbeit/Ausbildung aufzunehmen oder sich darum zu bewerben; Ablehnung oder Abbruch einer Weiterbildung) werden bis auf weiteres nicht mit Kürzungen des Regelsatzes sanktioniert.

Dieses Sanktionsmoratorium gilt für zwölf Monate. Unabhängig davon, dass ab Januar das sogenannte Bürgergeld das Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, ersetzen soll. Zwar streiten sich aktuell Union und Ampelkoalition über Details und die CDU hat gar eine Blockade im Bundesrat angedroht – aber egal, wie die Sache ausgeht, an dem Moratorium wird das nichts ändern. „Mir graut vor dem Bürgergeld“, sagt Kopatz. Er fürchtet, dass es für die Berliner Friseurbetriebe nach der Einführung im Januar noch schwieriger werden wird, Personal zu finden.

Über die Gründe der Bundesregierung, die Sanktionen auszusetzen, haben wir viel gehört in den letzten Monaten. Während der Corona-Krise waren die Mitarbeitenden der Jobcenter nur digital erreichbar, das Vermitteln in den Arbeitsmarkt und das Durchsetzen der Sanktionen war kaum möglich. Und bei steigender Inflation den Menschen, die ohnehin mit wenig Geld klarkommen müssen, die Sozialleistungen zu kürzen, ist politisch und moralisch schwer vertretbar.

Obendrein hat in diesem Frühjahr das unabhängige Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES) die Ergebnisse einer Langzeitstudie publiziert. Demnach sind Sanktionen kein geeignetes Mittel, um Menschen in Beschäftigung zu bringen. Die Kürzungen, heißt es, hätten keinen besonderen Effekt auf die Motivation der Betroffenen. „Die Befunde zeigen, das jedwede Sanktion unabhängig von Dauer und Höhe kontraproduktiv ist. Sanktionen fördern die soziale Isolation der Betroffenen und erzeugen einen immensen Druck. Sie können psychische Erkrankungen verursachen oder nach sich ziehen.“

Die Corona-Krise hat den Fachkräftemangel von Friseuren verstärkt.
Die Corona-Krise hat den Fachkräftemangel von Friseuren verstärkt.imago/ Bernd Feil/M.i.S.

Für Arbeitgeber ist Fachkräftemangel belastend

Ich glaube das sofort. Man kann Menschen, zumindest in einer freien Gesellschaft wie der unsrigen, zu nichts zwingen. Und Druck erzeugt bloß Gegendruck. Wie viele erwerbsfähige Langzeitarbeitslose in Berlin tatsächlich eine Tätigkeit ausüben wollen, aber partout keine Anstellung finden, vermag ich nicht zu sagen. Sicherlich viele. Aber nicht zu leugnen ist doch ebenfalls: Eine ganze Reihe dieser Menschen ist, aus welchen Gründen auch immer, in den Arbeitsmarkt nicht mehr zu integrieren. Und auch mit Sanktionen wird man diese Leute nicht in ein Büro, ans Akkordband oder hinter den Friseurstuhl bekommen. Am Ende streiten sich alle, sind fix und foxy und nichts hat sich verändert.

Insofern kann ich die Beweggründe der Bundesregierung für das Moratorium nachvollziehen. Was ich aber ebenfalls nachvollziehen kann, ist das Unverständnis über diese Entscheidung seitens vieler Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Bei aller Empathie für Menschen, die langzeitarbeitslos sind und am Rande der Gesellschaft mit wenig Geld klarkommen müssen – wer macht sich über die psychische Belastung meiner Friseurmeisterin Gedanken?

Bevor sie zu dem Entschluss kam, einen ihrer zwei Läden zu schließen, konnte sie monatelang nicht schlafen. Sie quälte sich mit belastend dünner Personaldecke durch die Zeit und nun verliert sie die Hälfte ihrer Kundschaft. Nicht nur als Privatperson, sondern auch als Inhaberin einer Firma ist sie von den Preissteigerungen und den hohen Energiekosten betroffen, die Abwicklung ihres Salons ist mit erheblichen Kosten verbunden und obendrein trägt sie die Verantwortung für ihre sechs Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Dem gegenüber stehen allein in Berlin mehr als 550.000 Männer und Frauen, die teilweise seit Einführung des ALG II im Jahr 2005 in den sozialen Netzen hängen. Viele von ihnen sind arbeitsfähige Menschen, die angesichts des allumfassenden Fachkräftemangels in diesem Land dringend gebraucht werden. Natürlich macht es etwas mit Unternehmerinnen und Unternehmern, die sich tagtäglich den Arsch aufreißen und am Wochenende die Buchhaltung für ihre Firma wuppen, wenn sie wissen, dass es hierzulande potenziell gut ausgebildete Arbeitskräfte gibt, diese aber leider nicht zur Verfügung stehen.

Haare wachsen und Kunden gibt es genug. 
Haare wachsen und Kunden gibt es genug. imago/Sabine Gudath

Meine Friseurin ist politisch weder rechts noch links. „Ich sah mich eigentlich immer in der Mitte“, sagt sie und ich glaube ihr das. Aber sie versteht die Welt nicht mehr. Und am Schlimmsten ist: Sie fürchtet, dass es gefährlich sein könnte, diesen Frust laut zu äußern. „Ich gehe nicht demonstrieren“, sagt sie. „Ich habe Angst mit den Idioten, die jeden Montag fremdenfeindliche Parolen schreien, in eine Tonne geworfen zu werden. Aber in diesem Land läuft etwas schief. Und zwar gewaltig!“

In ihrer Verzweiflung hat sie eine Mail an den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil geschrieben. Darin fragt sie: „Warum zählen die Menschen, die unsere Steuergelder bekommen, mehr als diejenigen, die sie erwirtschaften?“ Wochen später erhielt sich eine Antwort, darin verwies man auf das Grundgesetz, Artikel 12: Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.

Im Antwortschreiben heißt es: „Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind frei in ihrer Entscheidung, welche Beschäftigung sie auswählen und zu welchen Bedingungen sie sich vertraglich binden.“ Darüber hinaus forderte man die Unternehmerin zur Mitarbeit auf. „Wurde dem Arbeitgeber ein Vermittlungsvorschlag unterbreitet, ist die Bundesagentur für Arbeit (BA) auf die Rückmeldung des Arbeitgebers angewiesen, ob sich die arbeitslose Person beworben hat … Insofern bestärke ich Sie, Ihre konkreten Erfahrungen bei der Stellenbesetzung der BA mitzuteilen, sofern Sie dort einen Vermittlungsauftrag erteilt haben.“ Die Friseurmeisterin soll also, neben der täglichen Arbeit und der Buchhaltung am Wochenende, Rückmeldung ans Arbeitsamt geben. Umgekehrt aber wird einem Erwerbslosen keinerlei Druck gemacht, sich zu bewerben. Ganz ehrlich, da würde mir auch die Hutschnur platzen.

Das Gespräch im Friseursalon beschäftigt mich bis heute. Auch wenn ich am Ende mehr als zufrieden aus dem Laden kam. Eine neue Mitarbeiterin hat mir tiptop die Haare geschnitten. Sie heißt Oxsana und kommt aus der Ukraine. Vor einigen Wochen betrat sie den Salon und zeigte ihr Handy vor. Darin hatte sie auf Google Translate eingetippt: Hallo, ich heiße Oxsana, ich kann Haare schneiden und suche Arbeit.

Die Chefin zögerte keine Sekunde.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels wurde von 550.000 arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängern gesprochen. Diese Zahl umfasst jedoch auch Menschen, die nicht oder nicht voll erwerbsfähig sind. Die Formulierung des Artikels wurde entsprechend angepasst.

Sabine Platz ist Reporterin beim ZDF und schreibt seit einigen Monaten für die Berliner Zeitung die Gartenkolumne „Tulpen und Tomaten“.

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