„Unsere Stadt wird in den Medien ja immer als Hort der Rechtsradikalen dargestellt“, ereifert sich Sandra Loos, die für das „Zeitsprungland“, wie sich die Region um Zwickau neuerdings nennt, das Marketing macht. Im Brauhaus Zwickau wird das Bier vor den Augen der Besucher hergestellt, und Lokale gibt es in der Altstadt mehr als genug. Natürlich würden am Marktplatz ein paar Jugendliche herumhocken, die zweifelhafte Sprüche von sich geben. Aber die Mehrheit der Zwickauer vertreten sie nicht, da ist sich Loos sicher. Zwickau würde sich in dieser Hinsicht nicht von gleich großen Städten unterscheiden. Doch die Medien hätten immer diesen Fokus auf die Stadt, so der Vorwurf, den einige in der Stadt teilen.
Zwickau geht es wirtschaftlich besser als ähnlichen Städten in Ostdeutschland, hier herrscht Fachkräftemangel und Wohnungsüberschuss. Am Preisniveau kann es nicht liegen, dass Arbeitskräfte den Umzug nach Zwickau meiden. Zwei-Zimmer-Wohnungen liegen meist unter 500 Euro Warmmiete. In Städten wie Berlin sind solche Preise undenkbar. Im VW-Werk am Stadtrand herrscht Hochbetrieb, hier wird seit zwei Jahren das neue Elektroauto ID produziert. Zurzeit arbeiten hier 11.500 Mitarbeiter im modernsten E-Auto-Werk Deutschlands.
Beim Rundgang durch die Produktionshallen fallen die vielen Roboter auf, die auf markierten Fahrbahnen hin- und hersausen. „Die übernehmen Arbeiten, die für die Arbeiter ergonomisch zu schwer sind“, erklärt Loos. Zum Beispiel das Einhängen der Türen in die Autos, oder die sogenannte Hochzeit. Darunter verstehen die Autobauer das Aufsetzen der Karosserie auf den Unterbau mit der Batterie. Jeder Arbeitsplatz wird von medizinischen Fachkräften ergonomisch überwacht und eingeteilt in rote, gelbe und grüne Arbeitsplätze. Die Einstufung „rot“ soll dabei unbedingt vermieden werden, denn solch körperlich schwere Arbeiten hält niemand lange durch.

Rund 90 Prozent der Arbeiter in der Fertigungshalle sind männlich, zehn Prozent weiblich. Manche sitzen bei der Arbeit auf rollenden Stühlen, andere stehen. Die Bänder bewegen sich unaufhaltsam weiter, pro Tag werden hier rund 1400 Autos produziert. Nachdem hier 2020 das letzte Auto mit Verbrennungsmotor vom Band lief, investierte VW massiv – rund 1,2 Milliarden Euro ließ sich das Unternehmen die neue E-Auto-Produktionsanlage kosten, denn schon 2025 soll bei VW jedes fünfte Auto ein E-Auto sein.
Wegen der Krise hat VW derzeit, wie die gesamte deutsche Industrie, massive Schwierigkeiten bei der Teileanlieferung durch die Zulieferindustrie, deswegen kommt es zu hohen Wartezeiten bei der Auslieferung der Autos. In Zwickau werden am gleichen Fließband sechs verschiedene Modelle gefertigt, was einen außergewöhnlichen logistischen Aufwand nach sich zieht. An einer Station tönt laute Pop-Musik, man versucht es den Arbeitern so angenehm wie möglich zu machen. Denn es herrscht Fachkräftemangel, offene Stellen bleiben lange Zeit unbesetzt.

Ringsherum ist die Zulieferindustrie
Zwickau ist wohl die deutsche Stadt mit der längsten Automobilgeschichte, vor 100 Jahren wurde hier der Horch gebaut. Dann der Trabant, jetzt der ID. August Horch gründete in Zwickau 1904 sein Unternehmen, gebaut wurden damals vor allem Autos der Luxusklasse. In den 30er-Jahren waren die Horch-Wagen Marktführer, sie rangierten vor Mercedes-Benz und Maybach. Auch Grand-Prix-Wagen, die viele Siege errangen, wurden produziert.
Ringsherum hat sich im „Zeitsprungland“ die Zulieferindustrie angesiedelt. „Man schätzt, dass jeder Arbeitsplatz im Automobilwerk noch mal drei Arbeitsplätze in der Zulieferindustrie drumherum kreiert“, schätzt Astrid Modrack. Modrack war 1989 beteiligt am Bau des neuen Trabant-Werkes, in dem der Trabant 1.1 im VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau gebaut werden sollte, mit dem Motor des VW Polo. Doch der Fall der Mauer bedeutete das Aus für das technisch veraltete und mit 18.900 Mark relativ teure Auto. Trotzdem ist Modrack noch sichtbar stolz auf „ihre“ Fabrik, in der nun hochmoderne E-Autos produziert werden.
Zur Zulieferindustrie zählen auch Unternehmen, die Akkumulatoren bauen. Dafür wurde in Zwickau extra ein „Akkumulatorencampus“ eingerichtet, dort geht es um die ganze Palette der Energiespeichersysteme. Auch die Vernetzung mit 5G wird vorangetrieben, um Maschinen und Produkte über mehrere Standorte hinweg zu vernetzen. Zur Wirtschaftsförderung gehört auch eine sogenannte Start-up-Box, ein leer stehendes Ladenlokal, das von Geschäftsgründern jeweils für drei Monate kostenlos genutzt werden kann.
Der Niedergang der Industrie in der Region in den 90er-Jahren war für viele Menschen hart. Eine von ihnen ist Silvia Schumann, die in der DDR als Tuchveredlerin in der Tuchfabrik Zwickau gearbeitet hat. Nach der Abwicklung der Fabrik war sie arbeitslos. Seit 1999 ist sie Gästeführerin und erhält ein schmales Gehalt für die Führung von Touristen durch das Sächsische Industriemuseum Tuchfabrik Gebrüder Pfau. Alte Industrietechnik gibt es auch noch in der Seilerfabrik Zwickau – hier wurde der Film „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ gedreht, der vor kurzem in die Kinos kam. Für Besucher hat Zwickau touristisch einiges zu bieten: etwa die fürstliche Residenz Schloss Waldenberg, heute piekfein restauriert. Zu DDR-Zeiten diente das Schloss als Krankenhaus.
Modrack war hier Patientin, sie kann sich noch gut an die edlen Krankenzimmer erinnern. Wegen der hohen Luftverschmutzung litt sie schon als 18-Jährige an Asthma, und in Waldenburg wurde sie von westdeutschen Arzneimittelherstellern als „menschliches Versuchskaninchen“ benutzt, wie sie es ausdrückt. Das Schloss dient heute als Filmkulisse, hier wurde etwa „The Grand Budapest Hotel“ oder „Die kluge Bauerntochter“ gedreht. Eine Schlossführung sollte man sich nicht entgehen lassen, denn um 1910, als das Schloss renoviert wurde, war es das modernste Schloss Europas.
So ist noch heute zu sehen, dass jeder Saal eine Anschlussbuchse für einen Zentralstaubsauger von Siemens hatte, versteckt hinter einer Holzverkleidung. Auch Zentralheizung, Klimaanlage und fließend Warmwasser waren im Schloss schon 1910 installiert, zu jener Zeit ein echter Luxus. Schließlich war Schloss Waldenburg auch Schauplatz für den neuen Imagefilm des „Zeitsprunglands“, und zwar für eine Geistergeschichte. Der Film läuft derzeit im Werbeprogramm des städtischen Kinos – und natürlich im Internet.



