Fußball ist ein Sehnsuchtsspiel. Theo Schwarzmüller, 62, kennt das. Er ist nicht nur Historiker. Der Mann aus der Pfalz hat auch in den höchsten Jugend- und Amateurligen gekickt. Mit wem ließe sich vor dem Finale des DFB-Pokals am Sonnabend, 20 Uhr, im Berliner Olympiastadion zwischen dem 1. FC Kaiserslautern und Bayer Leverkusen also besser über das Spiel und seine Geschichte sprechen. Vor allem den Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern verbindet viel mit Berlin. Und wie so oft, wenn es sich in Lautern um den Fußball dreht, stehen die Ausnahmekicker Fritz und Ottmar Walter am Anfang der Geschichte. Dabei geht es mal nicht nur um den Sport, sondern um Liebe.
„Ludwig Walter, der Vater der beiden, war aus der Pfalz in die USA ausgewandert, aber noch vor dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt“, sagt Schwarzmüller. Während des Kriegs war Walter als Soldat in Berlin stationiert, dort lernte er Dorothea Kieburg aus Teltow kennen und lieben. 1920 wurde geheiratet. Die beiden zogen nach Kaiserslautern. „Dort betrieb das Paar in der Bismarckstraße eine Gaststätte“, erzählt Schwarzmüller.
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In der späteren Vereinskneipe nimmt der Aufstieg des 1. FCK seinen Anfang. Aber damit endet nicht die Liaison des Vereins mit Berlin. Fritz Walter, 1920 geboren, und sein vier Jahre jüngerer Bruder Ottmar verbrachten als Kinder oft ihre Sommerferien in der Hauptstadt. „Tante Icke, die Schwester meiner Mutter, führte in Wilmersdorf eine Kneipe zusammen mit ihrem Mann Max Levi. Onkel Max unternahm mit uns Kindern von früh bis spät etwas, viele Berlin-Touren, die er organisierte. ‚Wenn die Kinder schon da sind‘, sagte er immer, ‚dann sollen sie auch was von Berlin erleben‘“, so hat es Ottmar Walter dem Historiker Schwarzmüller einst für dessen Buch „Heimat Pfalz“ erzählt. Darin findet sich auch ein Foto, es zeigt Dorothea Walter mit ihren Kindern und mit Großvater Friedrich Kieburg beim Badeausflug am Wannsee. Das Fazit des jüngeren Walter-Bruders: „Berlin war immer eine herrliche Sache.“

Der Verein blickt nicht allein auf eine lange familiäre Beziehung zu der Stadt. 1951 holte Kaiserslautern seine erste deutsche Meisterschaft, damals noch in einem Finale ausgespielt. Das Endspiel gegen Preußen Münster wurde im Berliner Olympiastadion ausgetragen. Beim 2:1-Triumph erzielte der Halbberliner Ottmar Walter beide Tore. Auch 1953 beim zweiten Meisterschaftserfolg des Klubs gegen den VfB Stuttgart stieg das Finale im Berliner Olympiastadion, diesmal gelang Fritz Walter der Führungstreffer zum 4:1-Endstand. Kaiserslautern war also immer in Berlin präsent. Und die Walters waren so etwas wie das erste erfolgreiche Brüderpaar im Berliner Fußball – lange vor Niko und Robert Kovač oder Jérôme und Kevin-Prince Boateng.
Noch in den 90er-Jahren schlug manch gestrandetem Lautern-Fan in Eckkneipen im Osten Berlins Sympathie für seinen Verein entgegen. „Mein Vater fand die immer gut“, hieß es da. Der Historiker Schwarzmüller sieht die Gründe für den Zuspruch nicht allein in der Berliner Vergangenheit der Walter-Brüder und den frühen FCK-Erfolgen in der Hauptstadt: „Nach dem WM-Gewinn von 1954 mit dem Wunder von Bern wurde die DFB-Elf von Bundespräsident Theodor Heuss im Berliner Olympiastadion empfangen.“ Fünf Spieler des 1. FC Kaiserslautern standen damals im Weltmeisterteam des DFB. Noch einmal schrieb die Pfalz also in Berlin Geschichte.
Schwarzmüller verweist auf den Publizisten Joachim Fest. Der sah drei Gründerväter der Bundesrepublik nach 1949: „Politisch Kanzler Konrad Adenauer, ökonomisch Ludwig Erhard als Vater der sozialen Marktwirtschaft und ideell Fritz Walter mit dem WM-Erfolg von Bern“, so der Historiker. Adenauer und Erhard waren politisch besetzt. „Als Sportler bot Fritz Walter die große Projektionsfläche für ein gesamtdeutsches Idol“, erklärt Schwarzmüller. Fußball überwindet Systemgrenzen.

Ein Jahrhunderttor im Zentralstadion
Das zeigt auch eine ganz besondere Begegnung. 1956 spielte Kaiserslautern gegen den DDR-Meister Wismut Karl-Marx-Stadt. 110.000 Zuschauer kamen zum Spiel im Leipziger Zentralstadion. Die Partie schrieb nicht nur sportpolitisch Geschichte. Sie ging auch fußballhistorisch in die Annalen ein. Den schönsten Treffer beim 5:3-Erfolg des FCK erzielte Fritz Walter mit der Hacke. Senkrecht in der Luft liegend. Nur ein Foto hält die Szene fest. Der Fotograf hat die Flugkurve des Balls mit einer gestrichelten Linie nachgezeichnet. Ein Tor wie gemalt, von dem alle schwärmten. „Fritz Walter hatte einfach auch in der DDR unglaublich viele Fans“, bilanziert Schwarzmüller.
Bei der guten Beziehung zu Berlin ist es geblieben. 1990 holte Kaiserslautern im Olympiastadion den DFB-Pokal. 1996 stieg man zwar aus der ersten Liga ab, gewann aber das Pokalendspiel in Berlin gegen den Karlsruher SC. Seit 1997 gibt es in Berlin sogar einen eigenen Lautern-Fanklub, Berliner Bagaasch. Das pfälzische Wort stammt aus dem Französischen und bedeutet sehr frei übersetzt „familiärer Anhang“. In den Anfangsjahren der Bagaasch traf sich die Berliner FCK-Familie zu den Spielen des Vereins in der damals noch nicht so hippen Kastanienallee in Prenzlauer Berg, später zog man weiter in den Gun Club am Helmholtzplatz.
Der Gun Club ist längst Geschichte. Und Kaiserslautern dümpelt in der zweiten Liga. Die Berlinerin Laura Gies, 40 und Vorstandsreferentin in Berlin, ist dem Verein treu geblieben. Was soll sie auch anderes machen: „Man kann sich den Verein nicht aussuchen, in den man hineingeboren wird“, sagt die Anhängerin des 1. FC Kaiserslautern. Ihr Vater ist nur 500 Meter Luftlinie vom Stadion auf dem Betzenberg aufgewachsen. Das prägt. Auch in der Fremde. Sie ist in Zürich aufgewachsen, hat in Brüssel im Europaparlament gearbeitet und arbeitet jetzt in Berlin. „Ich wohne immer rund 500 Kilometer vom Betzenberg entfernt – eine distanzierte Liebe“, sagt Laura Gies und lacht.

Die Liebe zu einem Verein funktioniert aber nicht allein auf Distanz. Natürlich war Laura Gies zuletzt beim FCK-Gastspiel gegen Hertha BSC im Olympiastadion. Aber sie fährt auch ab und zu hoch zum Betzenberg in Kaiserslautern. An den ersten Stadionbesuch in ihrer Kindheit dort kann sie sich nicht mehr so recht erinnern. „Jedenfalls habe ich ein Lautern-Trikot mit dem Sponsor Crunchips, das muss so Mitte der 90er-Jahre gewesen sein“, erzählt sie.
Das war die bisher letzte erfolgreiche Zeit des Teams aus der Pfalz. 1990 holte die Elf im Berliner Olympiastadion den DFB-Pokal gegen Werder Bremen, 1991 überraschend die Meisterschaft. 1996 gewann Kaiserslautern erneut den Pokal in Berlin, diesmal als Absteiger aus der Bundesliga. 1998 gelang dem Klub etwas Einmaliges: Als erstes Team wurde Kaiserslautern in der Aufstiegssaison Meister. Danach ging’s bergab. Bis zeitweise in die dritte Liga. „FCK-Fan zu sein heißt leiden“, sagt Laura Gies und ergänzt: „Es gibt Gefühle, die man nur beim Fußball erleben kann.“ Nicht nur zum Pokalfinale. Nicht nur in Berlin.
Der 1. FC Kaiserslautern schleppt viel Geschichte mit sich rum. Das zieht. Nicht nur in der Pfalz. So wird auch beim Fanklub Berliner Bagaasch nicht nur Pfälzisch geredet. „In meiner Familie gab’s niemanden, der mit dem Verein auch nur annähernd etwas zu tun gehabt hätte“, sagt Ulrike, 43. Und das akzentfrei. Aufgewachsen ist Ulrike im brandenburgischen Neuruppin. Dort hat sie als Kind vor mehr als drei Jahrzehnten den Betze kennen und lieben gelernt. „Da war ein Mannschaftsposter, und irgendwo oben in der Ecke leuchtete es 1. FCK“, erinnert sie sich. Eine Fernbeziehung mit Folgen. 1998, an ihrem 18. Geburtstag, schuf die Brandenburgerin Fakten und wurde Vereinsmitglied. Überhaupt spielt der Klub in ihrem Leben eine große Rolle. So feiert die Anhängerin nicht nur ihren Geburts- und Hochzeitstag, sondern auch den Tag ihres ersten Stadionbesuchs auf dem Betzenberg. „28. März 1998!“, sagt sie kurz und nennt auch das Ergebnis. „0:3 gegen Leverkusen.“ Es kann im Finale also nur besser werden.

Ulrike trägt zum Spiel in der Fankneipe ein FCK-Trikot. Ihr Sohn Paul Béla eine Jeans-Kutte mit rot-weißem Aufnäher „Westkurve“. „Meine Lautern-Liebe habe ich vererbt“, sagt die Mutter. Ihr Teenager-Sohn aus Berlin erklärt seine Faszination für den Klub aus der Pfalz so: „Fritz Walter war ein ganz besonderer Spieler, sein Vermächtnis spürt man bis heute. Vor allem im Stadion rund um den Spieltag. Der FCK und vor allem Fritz Walter sind Bestandteile meines Lebens. Nichts steht über dem Verein.“ Das zeigt der Junge auch in Berlin. Täglich geht er im Lautern-Trikot zur Schule. „Ich wasche ständig Fußball-Trikots“, sagt die Mutter.
Wenn Weltmeister weinen
So ist Kaiserslautern weit über die Region hinaus populär, das zeigt auch ein Blick in die Geschichte. Das Meisterschaftsfinale 1954 fand zwar in Hamburg statt und Kaiserslautern verlor gegen Hannover 96. Wegen einer Szene abseits des Spielfelds blieb es deutschlandweit dennoch vielen in Erinnerung. FCK-Kapitän Fritz Walter schlich nach Abpfiff unter Tränen vom Platz.
So viel männliche Rührung war im Nachkriegsdeutschland selten. TV-Kameras bannten die Tränen in Bilder. Fritz Walter, der Sensible, war längst ein Held, ehe sich kurz darauf das Wunder von Bern ereignete. Der Historiker Theo Schwarzmüller hat kein Ticket fürs Finale in Berlin. Aber wie sieht der ehemalige Amateurfußballer die Chancen für den FCK? „Ich spreche jetzt mal weniger als Forscher“, sagt Schwarzmüller und gesteht: „Als Fan hofft man immer auf ein Wunder.“
Laura Gies geht es ähnlich. Auch sie hat keine Karten fürs Finale ergattert. Ihr Tipp für das Spiel: „2:1 für Kaiserslautern. Mehr Wunsch als Realität, aber so tippen Fans eben manchmal.“
Die Berlinerin Ulrike ist am Finaltag im Stadion – sie erwartet: „So eine tolle Stimmung und rot-weiße Choreo wie 2003 beim letzten DFB-Pokalfinale des FCK in Berlin.“ Und ihr Tipp? „Wir gewinnen. Einer muss Leverkusen ja mal schlagen.“
Das hoffen viele. Nicht nur in der Berliner Fanszene des FCK. Und sollte es am Finaltag anders kommen, dann reicht ein Blick zurück zu Fritz Walter und dem unglücklichen Finale gegen Hannover 96. Auch Tränen schaffen Sympathien.








