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Ostdeutsche Identität: Auch West-Berliner Forscher mussten Reiseberichte schreiben

Zu DDR-Zeiten arbeitete unser Autor an der Humboldt-Universität. Er sagt: Trotz der Probleme der DDR waren Wissenschaftler oft freier als weithin angenommen.

DDR-Bürger überqueren den Grenzübergang Friedrichstraße
DDR-Bürger überqueren den Grenzübergang FriedrichstraßeSMID/imago

In der Tat ist mir ebenso, wie Detlev Möller hier schrieb, keine andere Tageszeitung bekannt, die in so umfassender Weise, auch kontroverse Meinungen berücksichtigend, über die tiefsitzenden Kränkungen der Ostdeutschen nach der staatlichen Vereinigung berichtet.

Vor allem Natur- und Technikwissenschaftler sowie Mediziner haben sich nunmehr zu Wort gemeldet, kaum ein Geisteswissenschaftler.

Dabei war es gerade diese Spezies, die nach 1990 im globalen Verdacht stand, dem „Unrechtsstaat“ DDR gedient und ihn ideologisch am Leben erhalten zu haben. Im Mittelpunkt des nach 1990 aus dem Westen einsetzenden Sturms auf die begehrten Wissenschaftlerstellen und Lehrstühle standen diejenigen der Parteisekretäre, die angeblich aufgrund ihrer dogmatischen Überzeugungen auf wissenschaftliche Stellen gekommen sein sollen.

Auch in dem Artikel von Erhard Geissler wird indirekt unterstellt, dass der ihm begegnete Parteisekretär „aber fachlich hoch qualifiziert war“. In meiner DDR-Zeit als Afrika- und Kolonialhistoriker an der Humboldt-Universität und der Akademie der Wissenschaften habe ich nur gute Fachleute, die auf unteren und mittleren Ebenen Parteifunktionen übernommen hatten, erleben können.

Diskussionsveranstaltung der Historiker der Humboldt-Universität zu Fragen der SED-Vergangenheit, 1990
Diskussionsveranstaltung der Historiker der Humboldt-Universität zu Fragen der SED-Vergangenheit, 1990Rolf Zöllner/imago

Sie alle wurden nach dem Elitenaustausch zumindest noch einige Jahre weiter beschäftigt, weil die sie evaluierenden Westkollegen ihnen kaum das Wasser reichen konnten oder gingen ins Ausland. Wie sehr in den 90er-Jahren die wenigen entscheidungsbefugten ostdeutschen Politiker unter dem Druck ihrer westdeutschen Berater standen, zeigt die Antwort auf einer entsprechenden Anfrage von mir für ein Forschungsprojekt vom Januar 1999 an den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg Manfred Stolpe.

Etwas blauäugig versicherte er mir, dass er sich bemühe, ostdeutschen Wissenschaftlern „über Jahre hinweg“ die Gelegenheit zu geben, „ihr Wissen á jour zu halten und sich gleichzeitig auf Professuren zu bewerben oder in selbständigen Forschungseinrichtungen dauerhaft tätig zu werden“. Anscheinend in Verkennung der realen Situation wurde von ihm bedauert, dass „nicht noch mehr von ihnen diesen Weg gegangen sind“.

Als Erfolgsmeldung konstatierte er: „Von über 640 Professoren, die in Brandenburg berufen wurden, stammen fast 220 aus den neuen Bundesländern.“ Welch ein Erfolg! Knapp ein Drittel der Inhaber von Professuren stammten aus den neuen Ländern, nicht einmal nur aus Brandenburg.

Forschungsreisen ins Ausland

In den bislang veröffentlichten Beiträgen wird hervorgehoben, dass auch nicht SED-Genossen in den „Westen“ reisen konnten. Es soll „eines der größten Privilegien“ in der DDR gewesen sein. Um Reisekader zu werden, waren Anträge, Begutachtungen der wissenschaftlichen Leistungen und eine Sicherheitsüberprüfung durch das MfS notwendig.

Es spielten immer auch die erbrachten wissenschaftlichen Leistungen sowie die Kosten eine Rolle. Denn die Wissenschaftler sollten ja die DDR im Ausland repräsentieren, da wollte man sich nicht blamieren. Zum Ende der DDR, also bis zur Maueröffnung, sind mehr DDR-Wissenschaftler in die BRD und nach West-Berlin gereist, als man gemeinhin annimmt.

Für das Akademie-Institut für Allgemeine Geschichte waren 93 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter zum Ende der DDR Reisekader. Nach der Errichtung der Gauck-Behörde benutzte ich dort jahrzehntelang das Archiv zu wissenschaftlichen Zwecken und sah mir auch meine persönliche, fast 250 Blatt umfassende Akte an. Zur „Reisekaderüberprüfung“ fanden sich dort nur Nichtigkeiten.

Kritikwürdig wurde im Zuge der Aufarbeitung der DDR-Geschichte, dass nach jeder Auslandsreise ein „Reisebericht“ angefertigt werden musste, der mit mehrfachen Durchschlägen auch die entsprechende Abteilung der Stasi erreichte. Es war schon eine Überraschung, dass uns ein West-Berliner Professor im Jahre 1992 auf einer Konferenz mitteilte, dass auch verbeamtete Wissenschaftler von der Freien Universität nach einem Besuch in einem Land des Ostblocks Reiseberichte schreiben mussten.

Wahlen und Meinungsfreiheit

Die in den beiden Artikeln anklingende Kritik an den Wahlen in der DDR, zu der jeder berechtigt und verpflichtet war, muss auch differenzierter gesehen werden. Natürlich war deren Vorbereitung nicht vergleichbar mit dem heutigen Wahlkampfgetöse. Aber ich erinnere mich, dass die „Kandidaten der Nationalen Front“ sich den Wählern, etwa in der Humboldt-Universität, an der ich einige erlebte, vorstellten und sich den nicht immer leicht zu beantwortenden Fragen stellen mussten.

Eine Hausgemeinschaft geht gemeinsam zur Wahl der Volkskammer am 14.06.1981 in Lobenstein in der ehemaligen DDR.
Eine Hausgemeinschaft geht gemeinsam zur Wahl der Volkskammer am 14.06.1981 in Lobenstein in der ehemaligen DDR.imago

Ob es dann anschließend nur zum „Zettelfalten“ kam, konnte jeder selbst entscheiden. An jeder von mir erlebten Wahl in der DDR gab es Wahlkabinen, die ich jedes Mal aufsuchte und entweder ungültig machte oder Streichungen vornahm. Die Kabine besuchte ich selbst dann, als wir im Entenmarsch bei der NVA in das Wahllokal geführt wurden. Um es gleich vorwegzusagen: Dass ich mein verfassungsmäßiges Recht in Anspruch nahm, um geheim wählen zu können, tauchte nicht in meiner Stasi-Akte auf. Was wäre gewesen, wenn viel mehr Bürger dieses verbriefte Recht in Anspruch genommen hätten? Hätte man dann noch wie 1989 das Ergebnis fälschen können?

Ich arbeitete in keinem Kollektiv, in dem man nicht den Mund aufmachen konnte. Natürlich war die Grenze erreicht, wenn es um Kritikpunkte ging, die an die Öffentlichkeit gelangen sollten, etwa Protestnoten. Auch hinsichtlich Parteistrafen hatte ich an der Akademie nur eine wegen politischen Fehlverhaltens erlebt. Da hatte ein zurückkehrender Reisekader eine Illustrierte aus West-Berlin unter der Kleidung über die Grenze schmuggeln wollen. Mein Kollege und ich haben wie andere Inner-Berliner Zurückkehrer mehrmals folgenlos kiloweise vom Tagegeld gekaufte Fachliteratur oder kostenfreies Material der Zentrale für Politische Bildung mitgebracht – ohne dass dies kritisiert oder an der Grenze bemerkt worden wäre.

Aber das war ja auch schon ab Mitte der 1980er-Jahre, als es schwierig war, sich einen Weg durch die vielen Richtung West-Berlin flutenden DDR-Bürger vor und im „Tränenpalast“ zu bahnen. Das Narrativ von Beobachtung und Denunziation auch der Wissenschaftler an der Akademie der Wissenschaften ist in Wirklichkeit nicht so fundiert zu beweisen, wie behauptet. Aber es gab solches! Und meist von Kollegen, von denen man es nicht gedacht hätte.

Bei mir war es der staatliche Leiter, ein bis heute geschätzter, nunmehr verstorbener Wissenschaftler, der sich für seine Leute damals einsetzte, bis hin zu Hilfen bei Ausreiseanträgen. Wir waren zusammen Bier trinken, lachten über politische Witze, diskutierten ernsthaft. Einen ebenfalls damals jungen Kollegen und mich belobigte er in seiner Funktion als Vorgesetzter, weil wir dafür warben und durchführten, dass wir – Afrika-, Islam-, Asien- und sonstige Orienthistoriker – zwanglose abendliche Diskussionsveranstaltungen organisierten, um politische Debatten ohne Vorgaben und Verpflichtungen zu unseren Arbeitsthemen führen zu können.

Welche Überraschung erwartete mich, als ich in den MfS-Akten sah, dass er wohl noch am gleichen Tag seiner ausgesprochenen Belobigung seinen Führungsoffizier traf und uns „anschwärzte“. Er erhielt „den Kampfauftrag“, zu eruieren, was wir mit dieser Veranstaltungsreihe bezwecken würden. Auch wenn ich erschüttert war, nachdem ich dies gelesen hatte, ließ ich den Betreffenden nicht wissen, dass er uns enttäuscht, ja verraten hatte. Denn er war als einer der wenigen Kollegen des Instituts von den „Wessis“ in eine, nennen wir es, Nachfolgeinstitution übernommen worden. Nur einige enge Kollegen klärte ich über diese dissoziative Persönlichkeitsstörung auf.

Die „Einigungsfolgen“

Wir entschlossen uns, Stillschweigen zu bewahren, denn es war uns bewusst, dass seine neuen Westchefs seine Vergangenheit als informeller Mitarbeiter des MfS bekannt sein musste. Neben verschiedenen Dokumenten sah ich einige prall gefüllte Aktenordner, die ich nicht einsehen konnte und wollte, die mit seinen Berichten gefüllt waren. Wie konnte es sein, dass ein wirklich „Stasibelasteter“ in gehobener Position im vereinten Deutschland zu seiner alten Thematik weiterhin arbeiten konnte?

Karteien des ehemaligen MfS, jetzt unter der Kontrolle der Gauck-Behörde, 1992
Karteien des ehemaligen MfS, jetzt unter der Kontrolle der Gauck-Behörde, 1992imago

Ein zeitweilig in der Gauck-Behörde arbeitender Kollege klärte uns auf: Solche Menschen, die „Dreck am Stecken“ haben, lassen sich in der neuen Gesellschaft, wo sie ohne eigenes Zutun und Wollen angekommen waren, effektiv beherrschen. Sie würden nicht aufmucken, verspürten Dankbarkeit gegenüber den neuen Herren. Und ließen sich gut einsetzen für unangenehme Aufgaben. So auch in meinem Fall. Mein alter und temporärer neuer Chef überreichte mir mit vielen Entschuldigungen meine von ihm in Eigeninitiative unterschriebene Kündigung, da der große Westchef gerade nicht in Berlin weilte.

Wenn man die Argumente aus dem Buch von Dirk Oschmann, die er auch im Interview in dieser Zeitung vertritt, zur Kenntnis nimmt, kommen dem Kolonialhistoriker unweigerlich Parallelen des deutschen Kolonialisierungsprozesses aus der Zeit von 1884/85 bis 1918/19 in den Kopf.

Die Diskussionen um die Kolonialisierung der DDR waren in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund geraten und sind, ohne dass man eine solche Absicht Oschmann unterstellen kann, nun wiederbelebt worden. Die Fakten, warum sich so ein Vergleich anbietet, sind hinlänglich bekannt; angefangen von der weitgehenden Beseitigung der intellektuellen Elite im Osten Deutschlands, die „Enteignungen“ von Grund und Boden, den Werte- und Elitenaustausch und den vielen anderen kritisierten „Einigungsfolgen“ bis hin zu der Frage, wer die ostdeutsche (und auch die westdeutsche) Bevölkerung überhaupt gefragt hat, wer eine solche staatliche – ohne innere – Vereinigung wollte.

Ein Plebiszit wäre völkerrechtlich richtig und sinnvoll gewesen, denn die gesamte deutsche Bevölkerung hätte über die Folgen eines solchen politischen Schritts aufgeklärt werden müssen. Die Kohl’schen Verheißungen über blühende Landschaften hätten so schon früher als Fake enttarnt werden und ein gleichberechtigter Weg zur wirklichen deutschen Einheit diskutiert werden können. Vor allem wäre die Verhinderung einer kolonialistisch anmutenden Übernahme der DDR vermutlich nicht möglich gewesen, womit wirklichkeitsferne Vorstellungen vom Leben im Osten Deutschlands von vornherein hätten korrigiert werden können.

Ein Bild, welches viele Ostdeutsche geradezu beleidigt, wenn behauptet wird, dass es ungesühnte rassistische Morde gegeben habe oder dass Andersdenkende „gefoltert und ermordet wurden“ (Leserbrief Stefan Schuster, 3.4.23). Uns im Osten wäre vermutlich erspart geblieben, wie nicht-ostdeutsch Sozialisierte ihre ideologisch verbrämten Vorstellungen in den heutigen Erinnerungen von der DDR eingebracht haben.

Prof. Dr. mult. Ulrich van der Heyden ist Historiker, Politikwissenschaftler und Spezialist für die Kolonialgeschichte Afrikas, tätig an FU, HU und in Südafrika sowie Autor zahlreicher Bücher.

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