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Was die ewige Diskussion um „die Ostdeutschen“ bedeutet

Der Begriff „die Ostdeutschen“ dient häufig zur Distanzierung. Unser Autor denkt: Dadurch ist der Osten vielen Westdeutschen auch heute noch fremd.

Demonstrationszug vor dem Rathaus in Chemnitz gegen die Arbeit der Treuhand, 1993.
Demonstrationszug vor dem Rathaus in Chemnitz gegen die Arbeit der Treuhand, 1993.Harry Haertel/imago

Gerade habe ich in einem Artikel gelesen, „die Nazis“ hätten 1933 mit einem Gesetz die Grundlage gelegt für den heutigen Maßregelvollzug. Es ist auffällig: In Beiträgen über jene Zeit fallen oft Begriffe wie „die Nazis“ oder „die Nationalsozialisten“, selbst oder gerade wenn es um Geschehnisse geht, die ganz Deutschland als Land oder als Gesellschaft betreffen.

Die Erklärung liegt im Wunsch nach innerer Distanzierung. Der wiederum oft aus der nur punktuell erfolgten Aufarbeitung eigener Geschichte und Familiengeschichte resultiert: Es waren „die Nazis“ und nicht „die Deutschen“ und mithin wir Deutschen. Und damit womöglich auch der Opa oder die Uroma. Ein Impuls der moralischen Selbstüberhöhung, der die Verantwortung für alles Schlimme delegiert, zu Recht oder zu Unrecht.

Eine ähnliche Funktion erfüllt für viele westdeutsche Politiker und ihren Multiplikatoren in Medien und Verlagen die Formulierung „die Ostdeutschen“. Tauchen diese in den westdeutsch geprägten Leitmedien als Gruppe auf, dann auch aus dem Wunsch nach Distanzierung: Die Autoren und ihre Leser in Westdeutschland sind damit nicht zuständig. Geschweige denn verantwortlich; wo kämen wir da auch hin.

Zu dieser sich permanent distanzierenden Haltung trägt auch die häufige Floskel von der „zweiten deutschen Diktatur“ bei. Sie ist so treffend wie inhaltsleer und damit beliebig. Die Sprach-Stanze kracht herab, und der Staub vernebelt die Umrisse der Zeit: die DDR als Produkt des Kalten Krieges, die Altnazis an den Schalthebeln der Bundesrepublik (zwei Drittel der Richter und Staatsanwälte hatten bereits unter Hitler gedient), die oft Adenauer fälschlich als direktes Zitat zugeschriebene, aber im Westen verbreitete Haltung „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb“.

Dass die DDR so geworden ist, wie sie war, hat mit geopolitischen Weichenstellungen im Kalten Krieg zu tun, die wiederum geholfen haben, einen heißen Krieg zu vermeiden. Für viele Westdeutsche ist es aber mit „den Ostdeutschen“ so komfortabel, wie es für sie wie mit den Nazis ist: Man ist nicht zuständig und hat sich nichts vorzuwerfen. Was für Nora und Norbert Normalbürger meist sogar stimmen dürfte, aber nicht für die Entscheider und deren Wiederkäuer in Medien, Verbänden, Agenturen.

In der gern praktizierten Gleichsetzung von Ostdeutschen und Nazis als Rechte wird es dann noch einmal doppelt so bequem. Manchmal ist Ostdeutschland dem Westen noch so fremd, dass es nicht einmal mitgedacht wird. Das „Lehrbuch für Erzieherinnen + Erzieher. Professionelles Handeln im sozialpädagogischen Berufsfeld“ verkündet in seiner aktuellen Auflage 2021: „So konnten verheiratete Frauen beispielsweise noch in den 1970er-Jahren in Deutschland nicht ohne die Zustimmung ihres Ehemannes eine Arbeit antreten.“

Raider zu Twix, sonst ändert sich nix – und die Ostdeutschen?

Das Stahl- und Walzwerk Maxhütte in Unterwellenborn, Thüringen, nach der letzten Schicht im Juli 1992.
Das Stahl- und Walzwerk Maxhütte in Unterwellenborn, Thüringen, nach der letzten Schicht im Juli 1992.imago

Von Sylt bis zur Zugspitze gab es 1991 nur eine Veränderung: „Raider heißt jetzt Twix – sonst ändert sich nix.“ Von Ahlbeck bis Zwickau hat sich hingegen alles verändert: politisch, wirtschaftlich, oft auch familiär. 1991 betrug die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland im Jahresdurchschnitt zwar „nur“ rund eine Million. Für ein Land, das eben noch Vollbeschäftigung gewöhnt war, war das ein Erdrutsch.

Hinzu kam eine verdeckte Arbeitslosigkeit, die nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit 1991 im Jahresdurchschnitt weitere 1,8 bis 1,9 Millionen Menschen traf – Kurzarbeit null, Arbeitsbeschaffungsmaßnamen, Weiterbildung, Wartestand. Das sind knapp dreimal so viele wie in der offiziellen Arbeitslosenstatistik. Auf einmal saß das halbe ostdeutsche Ländchen bei dessen anderer Hälfte auf der Couch und versuchte, Versicherungen zu verkaufen. Oder Kosmetik. Oder Finanzdienstleistungen.

Ein gängiger Witz aus dieser Zeit geht so: Was sagt ein ostdeutscher Akademiker zum anderen? Bitte einmal Pommes mit Ketchup und Mayo, Herr Professor. Die Wende hat die Ostdeutschen hinausgefegt aus den Betrieben und aus den Lehrstühlen, den Ministerien, den Entscheiderstellen in Stäben, Redaktionen, Behörden. An die freien Schalthebel rückten Westdeutsche, geholt als Aufbauhelfer. Und gekommen, um zu bleiben.

Die Wut der ostdeutschen Dissidenten über erlittenes Unrecht wurde zu einem Generalverdacht gegen alle, denen Systemnähe unterstellt werden konnte, und zum allgegenwärtigen Klangteppich für Personalentscheidungen. Dazu passten schrille Fanfarenstöße der Medien („Stasi! Stasi! Stasi!“), falls ein ostdeutscher Lümmel doch einmal frech zu werden drohte.

Demonstration am Hansering Fahnenmonument im Dezember 1989, bei der zunehmend nationalistische Töne laut werden. 
Demonstration am Hansering Fahnenmonument im Dezember 1989, bei der zunehmend nationalistische Töne laut werden. Lutz Sebastian/imago

Eine gängige Begründung für die Abwicklung der Ost-Eliten lautet, beim Umgang mit der zweiten deutschen Diktatur sollten nicht dieselben Fehler passieren wie bei der Aufarbeitung der ersten. Das ist eine überaus bequeme Auslegung. Weil sie gleichsetzt, was nur zu vergleichen wäre. Weil sie generalisiert, statt nach individueller Schuld zu fragen. Am Splitter im Auge anderer reißen schmerzt nicht und birgt kein Risiko, während der Balken im eigenen zum Maßstab der Augenheilkunde und zum Donnerbalken der Geschichte verklärt wird.

Im Ergebnis sehen Entscheider in Ostdeutschland auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung meist mit westdeutscher Brille. Was so ist, als würden in Bayern fast ausschließlich Hanseaten und Rheinländer alle wichtigen Entscheidungen treffen – seit Jahrzehnten. Und dabei sagen, sie wären jetzt schon so lange im Land, dass sie eigentlich Bayern wären, kruzitürken. Was ein Schnack.

Sinnsuche auf Trümmern

Jeder Mensch ist verantwortlich für seinen Lebensentwurf, für seine Taten oder deren Ausbleiben. Hineingeboren in ein Universum ohne Sinn kann nur er selbst seinem Leben Sinn geben. Freiheit ist dabei mit Verantwortung verbunden und Verantwortung mit Schuld. Ostdeutschen wird nun seit 30 Jahren von Westdeutschen erklärt, wie sie, die Ostdeutschen, gelebt haben und wie sie stattdessen hätten leben sollen.

Mit dem Ende von Springers Gänsefüßchenland DDR gerieten persönliche Lebensentwürfe über Nacht in den Schredder. Auch vieles von dem Größeren, dem sich Menschen auf Sinnsuche zugehörig fühlen konnten, zerbröselte, ob sozialistische Staatengemeinschaft, größte DDR der Welt, Brigade oder Oppositionsgruppe.

Die Ostdeutschen, und das ist ihnen bei aller Vielfalt gemein, haben sich aufgerafft und neuen Sinn geformt – aus den Trümmern alter Gewissheiten, aus erfüllten und gestorbenen Hoffnungen. Vielen ist das gut gelungen, manche sind daran gescheitert. Ich ziehe meinen Hut. Und falls ich ihn nicht finde, dann die Mütze mit dem Emblem des glorreichen 1. FC Magdeburg.

Warum ich diesen Text geschrieben habe? Weil viele Texte aus dem Westen über den Osten sich immer noch so lesen, als kämen sie aus einem Tal der Ahnungslosen. Müssen verdammt hohe Berge sein.

Mario Kluge betreibt seit 2011 das Blog www.StimmederDDR.de rund um die Themen Ostdeutschland und Gesellschaftspolitik. 

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