Als die DDR von der Bildfläche verschwand, war ich 41 Jahre alt und gehörte zur mittleren politischen Ebene. Ich war fest davon überzeugt, für die bessere Gesellschaftsordnung gearbeitet zu haben. Das tat ich nicht dogmatisch und ohne Scheuklappen. Dass die DDR, wenn sie eine Zukunft haben sollte, politische und ökonomische Reformen brauchte, wurde mir ab Mitte der 1980er-Jahre immer bewusster. Die Hoffnung lag zunächst bei Gorbatschow.
Dienstliche Reisen in die heutige Ukraine ließen jedoch bald Zweifel aufkommen. Mir war früh klar, der Westen wird „Gorbi“ nur so lange hofieren, wie er nicht zur Gefahr für ihn wird. Eine erfolgreiche Reformierung der UdSSR hätte auch die übrige Welt verändert, aber anders als es 1989/1990 dann gekommen ist. Dem Untergang „meiner Republik“ wollte ich nicht tatenlos zusehen.
Als Mitglied des Runden Tisches des Bezirkes Leipzig versuchte ich, Chaos zu verhindern. In NRW gab es einige Gewerkschafter, die wollten mich gern in den Aufbau demokratischer und freier Gewerkschaftsstrukturen im Osten einbeziehen. Dafür sollte ich ab September 1990 ein Studium an der Akademie der Arbeit in Frankfurt/Main aufnehmen. Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, was mir damals mehr Zukunftsängste gemacht hat, der über uns rollende Kapitalismus oder die damit einhergehende Entwurzelung meiner Landsleute.

Während meines Studiums gehörte das Fach Politische Ökonomie des Kapitalismus zu meinen Einser-Prüfungen. Ich wusste, was auf uns zukommen wird, dass nichts so bleiben wird, wie es einmal war. Egal ob es etwas Gutes oder Schlechtes war. In der Geschichte haben die Sieger immer bestimmt, wie es nach der Niederlage weitergehen soll. Deshalb hatte ich keine Illusionen. Der Mehrheit der Ostdeutschen hat dieser Systemwechsel regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen. Wirklich mitbestimmen konnten sie ihr Schicksal nicht.
Natürlich gab es demokratische Wahlen, die die Richtung bestimmten. Die Geschwindigkeit und Radikalität, mit der die Veränderungen sich vollzogen, überforderten aber die Menschen. Erst kam der Mauerfall und dann die D-Mark. Der Gute war Helmut Kohl. Die Bösen waren die, die in der DDR Verantwortung übernommen und dafür gesorgt hatten, dass das Leben zwischen Kap Arkona und Fichtelberg einigermaßen sorgenfrei funktionierte.
Meine Zukunft im vereinten Deutschland
Was einem damals an Verzweiflung und Hass in den Betrieben oder bei Diskussionsrunden entgegenschlug, das machte Angst. Dem war man hilflos ausgeliefert, es konnte nichts entgegengesetzt werden, was Akzeptanz hervorrief. Mario Kluge hat am 24.03.2023 zu dieser Debatte für die Berliner Zeitung zutreffend formuliert: „Die Wut der ostdeutschen Dissidenten über erlittenes Unrecht wurde zu einem Generalverdacht gegen alle, denen Systemnähe unterstellt werden konnte, und zum allgegenwärtigen Klangteppich für Personalentscheidungen. Dazu passten schrille Fanfarenstöße der Medien (‚Stasi! Stasi! Stasi!‘)“.
Vor meiner Zukunft in einem vereinten Deutschland hatte ich weniger Sorgen. Durch meine beruflich bedingten Begegnungen mit Westdeutschen, Franzosen und Italienern wusste ich: Wir sind zwar sehr unterschiedlich sozialisiert, aber gute und weniger gute Charaktere gibt es überall auf der Welt. Im Frühjahr 1990 hatte ich zwei weichenstellende Begegnungen. Die erste mit dem damaligen Präsidenten des Landesarbeitsamtes von NRW und späteren Staatssekretär der legendären Regine Hildebrand, Olaf Sund.
In Erinnerung sind mir zwei Episoden. Sein innigster Wunsch, dass die CDU nicht die Volkskammerwahlen am 18. März gewinnt und dass er für mich mit einer Büroklammer den Schreibtisch einer Kollegin „öffnete“ und mir die komplette Sammlung aller aktuellen Arbeitsrichtlinien der Bundesanstalt für Arbeit übergab. Ein wahrer Schatz, der mir in meiner späteren Arbeit sehr hilfreich war.
Und etwas, was mir sympathisch auffiel, in seinem Arbeitszimmer hing an der Wand hinter seinem Schreibtisch ein großes Gemälde, das August Bebel zeigte. Bei späteren Besuchen in den ostdeutschen Amtsstuben hing an dieser Stelle immer das Konterfei des Bundespräsidenten.

Die zweite Begegnung war wenig später in Leipzig mit Lothar Späth, dem damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und späteren Retter der Jenoptik GmbH in Jena. Nachdem er den Anwesenden die Vorzüge der Marktwirtschaft erklärt hatte, fragte ich ihn, ob er in seinem Bundesland Erfahrungen mit Massenarbeitslosigkeit hat. Zu diesem Zeitpunkt standen Zehntausende Arbeitsplätze im Südraum von Leipzig in der Kohle- und der Chemieindustrie vor dem Aus. Spontan sprach er eine Einladung nach Stuttgart aus. Kurz danach hockte bereits einer seiner Mitarbeiter neben meinem Sitzplatz und machte die Einzelheiten der fünftägigen Informationsreise klar.
Ein zweites Berufsleben im Westen
Weitaus schwieriger war es, von meinem Vorgesetzten das damals noch notwendige Westgeld für die Reisekosten zu bekommen. Wenige Tage später wurde unsere kleine FDGB-Arbeitsgruppe in der württembergischen Staatskanzlei empfangen und mit großer Offenheit zu den Themen Arbeitslosigkeit, berufliche Bildung sowie zur Arbeit und zu den Strukturen der IHK und HWK informiert. Beide Ereignisse lösten nachhaltige Erkenntnisse aus: Im Westen wird auch nur mit Wasser gekocht und das eigene Selbstbewusstsein und Vertrauen haben einen hohen Marktwert.
Zwischenzeitlich stand fest, dass sich der DGB dem politischen Druck beugte und jegliches Zusammengehen mit dem FDGB ab Mai 1990 von sich wies. Der Traum vom DGB-Sekretär war damit zu den Akten gelegt und die Bewerbungsmappe für Frankfurt kam mit der Post zurück. Was tun? Versicherungsvertreter oder Computerhändler, das kam nur als Notfalllösung infrage.
Als realistisch schätzte ich eine Chance in der neu entstehenden „Beruflichen Aus- und Weiterbildungsbranche“ ein. Zunächst folgten aber zwei Monate Leistungsbezug vom Arbeitsamt. Am 1. November 1990 war es dann so weit und ich konnte als Sachbearbeiter Lehrgangsorganisation beim Berufsfortbildungswerk des DGB (damals noch getrennt in eine West- und eine Ost-Gesellschaft) in der Geschäftsstelle Saale-Westsachsen neu durchstarten.
Als Seiteneinsteiger wurden mir umfangreiche Zusatzqualifikationen ermöglicht. Eine Entscheidung, die sich auszahlte. In den Ruhestand entlassen wurde ich als Geschäftsstellenleiter für Westsachsen mit einer Personalverantwortung für circa 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Im wahrsten Sinne des Wortes ein zweites erfülltes Berufsleben. Ja, es ist richtig, ich habe beruflich von der Arbeitslosigkeit meiner Landsleute profitiert.

Ich kann aber jederzeit in den Spiegel schauen, denn wir haben Umschulungen und Weiterbildung stets als Hilfe für die Betroffenen verstanden und dabei auf hohe Qualität gesetzt. Die Prämissen der Gemeinnützigkeit standen an erster Stelle. Es ging dem Unternehmen nie um Profit. Alle Beschäftigten wurden nach Tarifvertrag bezahlt. Das Bfw begeht in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen.
Wenige Probleme mit den „Wessis“
Fazit: Mit meiner Nachwendekarriere hatte ich großes Glück. Bis auf „vereinzelte Ausrutscher“ hatte ich keine Probleme mit den „Wessis“. Ich lernte vielmehr Kolleginnen und Kollegen kennen, die ähnlich tickten wie ich. Deshalb musste ich mich nie verbiegen und konnte stets offen und ehrlich über mein Leben im anderen Deutschland sprechen.
Am Ende meines Arbeitslebens stand ich sogar dem Sprecherausschuss der Leitenden Angestellten vor. Die Mehrheit der „Leitenden“ kam objektiv bedingt wegen der geografischen Ausdehnung des Unternehmens aus den alten Bundesländern. Bis heute gibt es freundschaftliche Kontakte und Begegnungen. Unvergessen sind für mich gemeinsame Starts bei den Marathons in Berlin, Hamburg und Frankfurt/Main. Wir sind immer wertschätzend miteinander umgegangen. Und das nicht nur, weil es in einem Unternehmensleitbild festgeschrieben war.
Nicht in allen Fragen waren und sind wir einer Meinung. Das zeigt sich auch heute bei der unterschiedlichen Bewertung der militärischen Unterstützung der Ukraine. Aber wir akzeptieren den anderen Standpunkt und sind nicht dogmatisch. Die DDR hat bei aller berechtigten Kritik ihrer Bevölkerung eine solide Ausbildung und humanistische Werte vermittelt. Leider konnten Hunderttausende diesen Fundus nicht einbringen. Sie wurden aussortiert und abgestempelt.
Das ist das große Versagen unserer jüngsten Geschichte und der jeweilig Regierenden. Die Analyse von Prof. Oschmann ist vollkommen zutreffend. Die Wunden sind nicht verheilt. Die Enttäuschung vererbt sich. Aktuell treten die Unterschiede wieder deutlich zutage. Es zeigt sich sogar eine gewisse Radikalisierung in Worten und Taten.
Werner Fritz Winkler, geboren 1949, ursprünglich Kraftfahrzeugschlosser und Diplomgesellschaftswissenschaftler, war ab 1990 für 22 Jahre im Berufsfortbildungswerk des DGB (Bfw) angestellt, zuletzt als Geschäftsstellenleiter für Westsachsen.




