Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann, einem Literaturprofessor aus Leipzig, ist sofort nach seinem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und eröffnet eine neue Debatte über ostdeutsche Identität. Gibt es sie überhaupt? Was macht sie aus? Verbergen Menschen, dass sie aus dem Osten kommen? Sind sie stolz darauf? Die Berliner Zeitung lässt Menschen mit Ost-Biografie zu Wort kommen. Wollen auch Sie von Ihrer Erfahrung berichten? Wir freuen uns über Zuschriften an briefe@berliner-zeitung.de. Dieser Beitrag zur Debatte stammt von Rainer Eckert. Er ist Historiker und war lange Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig.
Nein, geliebt habe ich die DDR nie, und sie war auch nicht meine Heimat. Das war dagegen die Gegend, die ich als Junge von Potsdam aus mit dem Fahrrad erkunden konnte, und später der Prenzlauer Berg bzw. der Friedrichshain in Ost-Berlin. Trotzdem gehörte ich zu denen, die – auch nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 – von einem demokratischen Sozialismus und einer reformierten DDR und dem Ende der SED-Diktatur träumten. Dafür verfolgte die Staatssicherheit mich und meine Freunde im „Operativen Vorgang Demagoge“ wegen staatsfeindlicher Hetze und Gruppenbildung, von der Humboldt-Universität wurde ich relegiert und für drei Jahre „zur Bewährung“ in die Produktion geschickt. Dazu kamen „Berlin-Verbot“ und das Verbot, die Gebäude der Universität zu betreten.
Der Westen beeindruckte mich wenig
Trotzdem gelang es mir, als Fernstudent mein Studium abzuschließen, mit wissenschaftlichen Hilfsarbeiten in einer Nische zu überdauern und sogar – nebenberuflich – zu promovieren. Die Friedliche Revolution war so ein großes Glück und eine Befreiung. Jetzt schien alles möglich zu sein, und dazu gehörte auch der Sturz der Berliner Mauer durch Ostdeutsche, die die Erfahrung wochen- und monatelanger systemkritischer Demonstrationen in sich trugen. Das erste Mal nach 28 Jahren sah ich West-Berlin, wo meine Großeltern gewohnt hatten, wieder. Der Westen beeindruckte mich ansonsten wenig. Mein Begrüßungsgeld gab ich für Bücher aus.
Etwas anderes ist für mich im Rückblick auf die Tage nach dem 9. November 1989 entscheidend: die grenzenlose Begeisterung, ja Verzückung von Millionen meiner Landsleute, endlich im Westen angekommen zu sein. Jede Reformhoffnung war dahin und nur noch der Weg zur Wiedervereinigung offen. Eine übergroße Mehrheit der Menschen wollte sie als Anschluss der DDR an die Bundesrepublik um jeden Preis. Darunter sicher zahlreiche Menschen, die während der Revolution „hinter der Gardine gestanden hatten“. Jetzt ging es darum, möglichst schnell in „blühenden Landschaften“ auf dem gleichen Niveau wie die Westdeutschen zu leben – und möglichst nie wieder ein Produkt aus der DDR zu kaufen.
Querdenker und Putin-Versteher
Die Ernüchterung folgte schnell. Das Lebensniveau des Westens war auf absehbare Zeit nicht zu erreichen, die neuen Eliten kamen fast komplett aus dem Westen und die alten Lebenswelten brachen zusammen. Millionen verloren ihren Arbeitsplatz und ihre gesellschaftliche Stellung und reagierten mit zunehmendem Frust und Wut. Das hält bis heute an und ist damit verbunden, dass sich viele im Osten Deutschlands als zweitklassig behandelt fühlen. Das war und ist der Nährboden für links- und rechtsradikale Ideologen und Verführer, für Verschwörungstheoretiker, Querdenker und Corona-Leugner. Dazu kamen seit dem brutalen russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine noch die „Putin-Versteher“. Dies alles ist oft mit der Scham verbunden, Ostdeutscher zu sein, und dem Versuch, auf der Karriereleiter diesen Umstand zu verschweigen.
Aber es ging auch anders. Für mich waren die Revolution und der Sturz der Mauer die Bedingungen für den Weg ins Freie und in eine neue Welt. Um diesen Weg zu gehen, war es jedoch notwendig, dafür zu kämpfen und sich aktiv einzubringen. Das begann für meine Freunde und mich bereits im November 1989, als wir im West-Berliner Literaturhaus bei einer Lesung auftauchten und verkündeten, dass wir aus Ost-Berlin kämen und jetzt mitreden wollten. Es war wie eine Explosion: Aus einer mäßig interessanten Veranstaltung wurde eine lebhafte Diskussion. Und so ging es in den nächsten Monaten und Jahren weiter.
Nie habe ich verschwiegen, Ostdeutscher zu sein, und nie hatte ich dadurch Nachteile. Ganz im Gegenteil erwies es sich für einen Historiker und Politikwissenschaftler als Vorteil, in zwei Gesellschaftssystemen gelebt zu haben – man musste daraus aber die richtigen Schlüsse ziehen. Selbstmitleid und Klagen über das Verlorene waren nicht hilfreich, sondern es ging darum, den westlichen wissenschaftlichen Diskurs zu verstehen, mitzugestalten und eigene Ideen einzubringen. Wichtig war es für mich, auf andere Menschen offen zuzugehen und auch Konflikte zu bestehen. Und man musste bereit sein, sich vollkommen einer Aufgabe oder Arbeit hinzugeben. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, verstecken zu wollen, dass meine Heimatstadt Potsdam war, und nie kam es für mich infrage, im Westen der Bundesrepublik ein berufliches Betätigungsfeld zu suchen.
Guten Tag oder Grüß Gott?
Das führte dazu, dass bei einer ersten Reise in die USA und bei der Teilnahme an internationalen Kongressen die westlichen Wissenschaftler vollkommen erstaunt waren, dass jetzt aus dem Osten ein neuer Typus Wissenschaftler auftauchte, der sich in seinem Auftreten grundsätzlich von den bisherigen Reisekadern des SED-Regimes unterschied. Dabei war mir natürlich bewusst, dass das nur wenigen Ostdeutschen gelang und dass mir weiterhalf, dass ich auf meine politische Verfolgung in der DDR verweisen konnte. So konnten einen Weg wie meinen nur wenige gehen. Trotzdem glaube ich, dass eine aktive und offene Auseinandersetzung mit ihrer ostdeutschen Herkunft vielen weitergeholfen hätte – die stattdessen versuchten, ihre Herkunft möglichst zu verschweigen oder sich als genuine Westdeutsche zu präsentieren. Und so fand ich es schon mehr als merkwürdig, wenn Ostdeutsche plötzlich nicht mehr „Guten Morgen“ sagten, sondern ein fröhliches „Grüß Gott“ verwendeten. Zu Bayern wurden sie deshalb nicht, auch nicht, wenn sie sich in eine Trachtenjacke kleideten.
Auf meinem Weg in die westliche Wissenschaftsgesellschaft und auch in politische Räume machte ich natürlich auch unangenehme Erfahrungen. Dazu gehörten das Ordinarien-Gehabe an vielen deutschen Universitäten und die Kumpanei sowie die gleichzeitigen Machtkämpfe in den Oberseminaren. Sehr merkwürdig fand ich auch, dass Jahre nach der Wiedervereinigung gutmeinende altbundesdeutsche Kollegen meinten, ich hätte es doch „geschafft“ und könne bzw. solle mit meinem Eintreten für ostdeutsche Belange aufhören. Dass es mir hier um Grundsätzliches ging, verstanden sie nicht – und konnten es bei ihrer wissenschaftlichen Sozialisation wohl auch gar nicht.
Mein Verhalten unterschied sich von dem von Dirk Oschmann also grundsätzlich und war dennoch erfolgreich. Offenbleiben muss dabei natürlich die Frage, wie es ihm ergangen wäre, wenn er sich schon vor 30 Jahren dazu bekannt hätte, aus Thüringen zu stammen. Doch letztlich geht es natürlich nicht um individuelle Lebenswege, sondern um die dramatische Unterrepräsentation von Ostdeutschen in den deutschen Eliten. Doch ist dies kein neues Problem, sondern wird von Ostdeutschen seit Jahren thematisiert – von Wolfgang Thierse über Thomas Krüger, Steffen Mau, Raj Kollmorgen und vor allem von Ilko-Sascha Kowalczuk. Viele andere wären noch zu nennen, etwa Jana Hensel, und alle fanden Resonanz. Doch etwas ist bei Oschmann anders: Innerhalb weniger Wochen stürmt sein Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ die Bestsellerlisten, und kaum eine wichtige deutsche Zeitung beziehungsweise Zeitschrift hat nicht – oft seitenlang – über sein Buch berichtet.
Oschmanns Streitschrift ist ein Phänomen
Das ist ein wirklich neues Phänomen und dessen Gründe liegen für mich noch im Dunkeln. Ist es die Qualität des Buches, der Zeitpunkt seines Erscheinens oder die geschickte Vermarktung? Um bei der Schaffung ostdeutscher Eliten voranzukommen, wird hier mehr Klarheit notwendig sein.
Jedenfalls ist es gut, dass Oschmanns Thema mit seinem Buch jetzt so massiv in die Öffentlichkeit gelangt. Und es ist grundsätzlich richtig, unser Land braucht eine gleichmäßige Verteilung der Herkunft seiner Eliten, Ostdeutsche sind nicht zweitklassig, sondern ihre Erfahrungen in der Diktatur und in der Transformation sind für die Stabilisierung unserer Demokratie und Gesellschaft unverzichtbar. Oschmanns Streitschrift wird dabei eine wichtige Rolle spielen, notwendig ist jedoch eine Diskussion im Verbund mit der Auffassung derjenigen, die vor ihm zu dem Thema das Wort ergriffen. Dazu kommt die Klärung zahlreicher Einzelfragen, ob es für eine Karriere wirklich notwendig ist, eine Zeit lang im Ausland gearbeitet zu haben, zum Beispiel, oder sich über Jahre, ja Jahrzehnte ein Netzwerk aufzubauen. Notwendig ist es letztlich, ein System der Chancengleichheit beim Erreichen von Elitepositionen zu etablieren. Eine Gleichheit auch für Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Angehörige unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen.





