Debatte

Ostdeutsche Identität: „Wir interessieren den Westen nach wie vor nicht“

Tatjana Mischke ist Buchhändlerin in Friedrichshain. Sie verkauft den Bestseller von Dirk Oschmann – an eine bestimmte Gruppe von Lesern.

Die Buchhändlerin Tatjana Mischke in ihrem Geschäft in Berlin-Friedrichshain
Die Buchhändlerin Tatjana Mischke in ihrem Geschäft in Berlin-FriedrichshainMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann, einem Literaturprofessor aus Leipzig, ist sofort nach seinem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und eröffnet eine neue Debatte über ostdeutsche Identität. Gibt es sie überhaupt? Was macht sie aus? Verbergen Menschen, dass sie aus dem Osten kommen? Sind sie stolz drauf? Die Berliner Zeitung lässt Menschen mit Ost-Biografie zu Wort kommen. Wollen auch Sie von Ihrer Erfahrung berichten? Wir freuen uns über Zuschriften an briefe@berliner-zeitung.de

Manchmal stehen Kunden in meiner Buchhandlung und können sich lange nicht entscheiden. Oder sie sagen mir gleich, dass sie ein Buch verschenken wollen, aber nicht wissen, was sie nehmen sollen. Ich frage dann: Ist denn derjenige, den Sie beschenken wollen, ost- oder westsozialisiert? Manche sagen dann, das sei doch völlig egal, aber wenn ich ihnen ein Buch mit Ost-Bezug empfehle, wollen sie es doch nicht. Oder sie sagen irgendwann: Bitte nicht so viel DDR-Zeug. Ich stelle die Frage nicht böse, sondern neugierig. Sie erspart mir ein bisschen Arbeit. 

Ich habe schon vor der Wende hier in der Franz-Mehring-Buchhandlung an der Frankfurter Allee gearbeitet, damals als studentische Aushilfe, und bin danach geblieben. Die Jahre nach dem Mauerfall waren gute Jahre. Die DDR war ja ein Leseland, als Buchhändlerin saß man an der Quelle und kam an begehrte Bücher. Jetzt konnten alle Leser ihren Nachholbedarf stillen, endlich die gesamte Weltliteratur lesen. Das Interesse war riesig. Das hielt etwa fünf Jahre an, dann hat es sich beruhigt, es war wohl das meiste aufgeholt.

Im Moment kommen täglich Leute und fragen nach dem Buch von Dirk Oschmann. Ich hatte vor einem Jahr seinen Artikel zum Thema Osten in der FAZ gelesen, den hatte ich sehr gut in Erinnerung. Dass noch ein Buch kommt, wusste ich nicht. Ich hätte gedacht, noch ein Buch über den Osten braucht man nicht, aber man braucht es offensichtlich doch. Die Leute fragen ganz offensiv nach dem Buch, vor allem ältere Menschen, und definitiv alle DDR-sozialisiert – ich kenne meine Kunden und ich erkenne auch immer noch, woher jemand kommt. Ich glaube, wir interessieren den Westen nach wie vor nicht mit unseren Befindlichkeiten. Wie sie es nennen würden.

Tatjana Mischke hat schon vor der Wende in einer Buchhandlung gearbeitet und beschreibt die DDR als „Leseland“.
Tatjana Mischke hat schon vor der Wende in einer Buchhandlung gearbeitet und beschreibt die DDR als „Leseland“.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Hattet ihr in der DDR auch Apotheken?

Die Westdeutschen haben immer diesen Sachsen mit Anglerhütchen im Kopf, wenn sie an Ostdeutsche denken. Als Berlinerin ärgert mich das natürlich. Wenn ich sage, dass ich aus Berlin komme, wird bis heute immer nachgefragt. Woher genau denn in Berlin? Welcher Stadtteil? Ich verstehe, wenn manche Leute sich lieber nicht als Ostdeutsche zu erkennen geben. Man wird ja ständig reduziert auf Klischees. Und dann beginnt immer diese Fragerei, wie wir gelebt haben. Ich bin sogar schon gefragt worden, ob wir in der DDR auch Apotheken hatten. Apotheken! In den letzten Jahren hat die Fragerei aber etwas abgenommen, vielleicht ändert sich ja doch was.

Ich habe jedenfalls immer gesagt, woher ich komme, wenn das jemand wissen wollte. Es ist meine Sozialisierung, es ist weder gut noch schlecht, es ist eben so. Ich kann mir ein Leben woanders als in Ost-Berlin auch nicht so richtig vorstellen. Nur einen Kollegenaustausch mit einer Buchhandlung richtig tief im Westen, das hätte ich gern mal erlebt. Bei uns hat jetzt eine junge Kollegin angefangen, die aus Bayern kommt, aus einem ganz kleinen Dorf, das ist eine ganz andere Welt, aber nicht, weil es Westen ist, würde ich sagen.

Ostdeutsche können keine Netzwerke bilden

Ich kann natürlich auch die Wut verstehen, die Dirk Oschmann antreibt. Ostdeutsche besetzen keine Führungspositionen an den Unis und sind auch sonst überall unterrepräsentiert. Das wird ständig thematisiert, aber es ändert sich nicht. Die Ostdeutschen haben in den vergangenen dreißig Jahren bis zum Umfallen gearbeitet. Falls sie Arbeit hatten. Wann sind unsere Leute denn mal in den Urlaub gefahren? Aber uns fehlen immer noch die Netzwerke. Ich glaube, es gab mal einen Versuch von jüngeren Leuten, das zu ändern, ein eigenes Netzwerk zu bilden, aber so richtig können Ostdeutsche das immer noch nicht. Vielleicht ändert sich das mit der nächsten Generation.

Wir verkaufen in der Buchhandlung auch antiquarische Bücher, aus der DDR und aus noch früheren Zeiten. Viele freuen sich vor allem über die Kinderliteratur aus der DDR. Es gab ja sehr schöne Bücher für Kinder. Aber auch DDR-Literatur wird nachgefragt. In letzter Zeit vor allem Maxie Wander und Brigitte Reimann. Die empfehle ich sehr häufig jungen Frauen. Wander und Reimann haben etwas vorgelebt, sehr selbstbestimmt, sie haben sich genommen, was sie wollten. Gerade diese Autorinnen passen wieder in die Zeit.

Tatjana Mischke, geboren in Ost-Berlin, ist Inhaberin der Franz-Mehring-Buchhandlung & Antiquariat in der Frankfurter Allee 65.

Aufgezeichnet von Wiebke Hollersen


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