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Belarus: Es gibt den Widerstand trotz zunehmender Repressionen

Wie geht es der Protestbewegung in Belarus? Die Autorin Nataliya Schliebner schätzt die Lage ein: Der Protest existiert. Ein Gastbeitrag.

Proteste in Belarus im Jahr 2020
Proteste in Belarus im Jahr 2020imago

1441 Nichtregierungsorganisationen wurden seit den Massenprotesten 2020 in Belarus aufgelöst und weitere 930 werden derzeit liquidiert, mindestens 1488 Personen befinden sich derzeit in politischer Haft, schätzungsweise bis zu 500.000 Belarus:innen haben ihr Land innerhalb der vergangenen drei Jahre verlassen. In ihrem neuen Bericht vom 10. Oktober spricht die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in Belarus, Anaïs Marin, über eine weitere Verschlechterung der dortigen Menschenrechtslage.

Gibt es nach all den dramatischen Entwicklungen seit dem Ausbruch der friedlichen Revolution in Belarus noch Protest oder Widerstand innerhalb der belarusischen Zivilgesellschaft?

Bei dem Mediengespräch „Drei Jahre Ausnahmezustand: Die belarusische Zivilgesellschaft im Herbst 2023“, zu dem die belarusische Gemeinschaft Razam e.V. Ende September ins Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin einlud, diskutierten darüber der ehemalige Botschafter Deutschlands in Minsk Manfred Huterer, die belarusische Philosophin, Autorin und Aktivistin Olga Sparaga und das Razam-Vorstandsmitglied Maria Rudz. (Dieser Open-Source-Text wurde von Razam-Mitglied Nataliya Schliebner verfasst, Anm. d. Red.)

In Belarus herrscht „fürsorglicher Widerstand“

Olga Sparaga, die seit Oktober 2020 im Exil lebt und in Deutschland vor allem durch ihr im Jahr 2021 erschienenes Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus“ bekannt ist, bezeichnet den belarusischen Staat als ein totalitäres System im 21. Jahrhundert, das von modernen digitalen Technologien unterstützt wird.

Olga Sparaga
Olga SparagaRazam

Bei täglichen Verhaftungen und nicht abreißenden Gerichtsprozessen spielen alltägliche Praktiken des fragilen Widerstandes eine zunehmende Rolle. Es sind kleine Formen von Aktivismus, die von täglicher Beschaffung unabhängiger Informationen und dem mentalen Widerstand gegen die allgegenwärtige Propaganda bis zum Boykott von staatlich verordneten Veranstaltungen und der Unterstützung von Repressionsopfern reichen.

„Lukashenko möchte die Gesellschaft wieder depolitisieren und da drei Jahre Repressionen dies noch nicht geschafft haben, zeigt der Widerstand, wie stark die belarusische Gesellschaft ist und wie lange sie die Vision vom demokratischen Belarus bereits hatte“, beschreibt Olga Sparaga die Situation in ihrem Heimatland.

„Aus den Briefen und Berichten von freigelassenen politischen Gefangenen sind uns unterschiedliche Formen des Widerstands in Gefängnissen bekannt: Hungerstreik der Frauen im Zhodina-Gefängnis nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, Protestweiblichkeit in Form des auffälligen Lippenstiftes bei Gerichtsprozessen. Man zeige einander, dass man nicht gebrochen ist, und helfe sich gegenseitig, sagt die Philosophin und nennt es „fürsorglicher Widerstand“.

Vereinfachung des Visaverfahrens und offene Grenzen

Auch Manfred Huterer, der von Oktober 2019 bis Juli 2023 in Minsk als deutscher Botschafter Zeitzeuge der Proteste und der darauffolgenden politischen Dauerkrise war, spricht über das Weiterwirken des Jahres 2020 und über „fast partisanenartige Formen des versteckten Widerstands“. Der Austausch mit der Zivilgesellschaft in Belarus sei sehr wichtig.

Manfred Huter
Manfred HuterRazam

„Die Visastelle der deutschen Botschaft in Belarus arbeitet auf Hochtouren. Wir stellen circa 4000 Visa pro Monat aus und haben eine lange Warteliste von Leuten, die einfach für zwei Wochen nach Europa reisen wollen. Wir tun das maximal Mögliche. Deswegen ist es wünschenswert, die Visastellen zu unterstützen und deren Kapazitäten auszubauen. Die Abschottungspolitik hilft nur denjenigen autoritären Kräften, die das Land sowieso vom Westen isolieren wollen. Wir haben kein Interesse an einem neuen Eisernen Vorhang in Europa und müssen alles tun, damit diese Entwicklung gestoppt wird. Dazu gehören die Vereinfachung des Visaverfahrens und offene Grenzen“, sagt der Diplomat.

Im Hinblick auf die Verwicklung von Belarus in den Krieg gegen die Ukraine weist er darauf hin, dass die Mehrheit der Belarusinen und Belarusen den Krieg ablehnt: „Das ist der Unterschied zu Russland und darf nicht vergessen werden.“

Eine Spende an einen Hilfsfonds kann Grund für eine Verhaftung sein

Maria Rudz, die in Belarus in der Umweltschutz- und Frauenbewegung aktiv war und seit vier Jahren in Berlin lebt, betont, dass das Lukaschenko-Regime seit langem auch die belarusische Diaspora unter Druck setzt. Deren Rolle in der Demokratiebewegung gewinnt zunehmend an Bedeutung. Das Regime in Minsk reagiert darauf mit Vergeltungsmaßnahmen, die von Verhaftungen bei der Einreise nach Belarus und dem angekündigten Entzug der Staatsangehörigkeit bis zum „Pass-Beschluss“ reichen.

Maria Rudz
Maria RudzRazam

„Demnach wird allen im Ausland lebenden Belarusinnen und Belarusen das Recht verwehrt, ihre Nationalpässe in Botschaften und Konsulaten der Republik Belarus zu erhalten und zu erneuern“, so das Razam-Vorstandsmitglied. „In der Praxis bedeutet dies, dass man für einen Pass, aber auch für eine Reihe von Bescheinigungen persönlich nach Belarus reisen muss. Allein in Deutschland könnten davon etwa 27.000 Belarus:innen betroffen sein. Die Einreise nach Belarus ist aber nicht nur für Aktivist:innen, sondern auch für politisch inaktive Exil-Belarus:innen gefährlich. Ein Kommentar oder ein „Like“ in sozialen Netzwerken, eine Spende an einen Hilfsfonds können Grund für eine Verhaftung bei der Einreise sein“, erklärt sie weiter.

Suche nach Lösungen

Ohne gültigen Reisepass kann aber kein Aufenthaltstitel in einem EU-Staat ausgestellt oder verlängert werden, was für viele Exil-Belarus:innen zum existenziellen Problem wird. „Wir, die belarusische Gemeinschaft Razam, führen derzeit Gespräche mit Vertretern aus der deutschen Politik und Verwaltung, damit schnellstmöglich eine Lösung auf Bundesebene geschaffen wird. Eine der Möglichkeiten sei die Ausstellung eines ‚Reiseausweises für Ausländer‘“, sagt Maria Rudz und macht auf ein weiteres Problem aufmerksam: „Zurzeit bedarf es bei jedem Antrag auf dieses Dokument einer Einzelfallprüfung und der Beweise, dass die Passbeschaffung im Heimatland unzumutbar ist. Die Erbringung solcher Beweise ist für viele nicht möglich.“

Manfred Huterer sieht es als Aufgabe der Bundesregierung, die Belarusinnen und Belarusen, die in diese Situation geraten sind, zu unterstützen. „Es ist nicht zumutbar, dass Aktivist:innen nach Belarus zurückkehren. Ich bin aber hoffnungsvoll, dass man da konstruktive Lösungen findet.“

Die Autorin dieses Textes bat darum, den Text in geschlechtersensibler Sprache zu publizieren und die Begriffe Belarus und Belarusen zu verwenden.

Über die Autorin
Nataliya Schliebner lebt seit circa 20 Jahren in Deutschland. Sie hat in Bielefeld Umweltwissenschaften studiert und ist seit Beginn der Protestbewegung in Belarus ein aktives Mitglied der belarusischen Gemeinschaft Razam e.V.

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