Will man derzeit über die Beziehung zwischen Ost- und Westdeutschland sprechen, kommt man an Dirk Oschmann nicht vorbei. Die Berliner Zeitung hat als Debattenorgan auch zu diesen Themen Oschmanns Werk mehrfach besprochen, Rezensionen zu dem Buch abgedruckt und Interviews mit ihm geführt. Aber darum soll es in diesem Text gar nicht direkt gehen. Ich will klarmachen: Ja, ich habe auch Oschmann gelesen. Jetzt über „den Osten“ schreiben – gerade als Wessi! – heißt jetzt auch, ich habe „meinen Oschmann“ studiert, der jetzt sogar die Spiegel-Bestseller-Sachbuchliste anführt.
Als westdeutscher Gewerkschaftssekretär, der schon mehrere Jahre mit und für Ostdeutsche arbeitet, ist es fast unumgänglich, irgendwann über die in Oschmanns Thesen dargelegten Einblicke in die ostdeutsche Seele nachzudenken: Welche Geschichte haben die Beschäftigten und ihre Familien, die vollkommen zu Recht Schutz von der sie vertretenden Gewerkschaft erwarten? Welche Brüche haben die Familien mit Angehörigen in den Betrieben eigentlich vorher schon erlebt? Warum gibt es teilweise eine so große Skepsis gegenüber der organisierten Arbeitnehmendenvertretung, aber vielmehr auch gegenüber den – oftmals westlichen – Unternehmens-, Konzern- und Betriebsleitungen?
Ja, und das sind wahrscheinlich wiederum westdeutsch geprägte Fragen, warum gibt es im Osten unseres Landes so viel Resignation und Wut und warum – und das kommt in Einleitungen bei Leitartikeln westdeutscher Schreibender auf bundesweiten Titelseiten oder in den Feuilletons natürlich immer und darf auch hier nicht fehlen – wählen DIE eigentlich in so großem Ausmaß Nazis, also früher NPD und jetzt AfD?

Die Firma Linpac in der Kreisstadt Beeskow (Brandenburg) hat zurzeit knapp 60 im Tarif Beschäftigte und stellt Verpackungen, hauptsächlich für Fleischprodukte, aus Kunststoff her. Den Betrieb gab es bereits in der DDR und er hat eine längere Historie in der Verpackungsherstellung. In der Region und auch darüber hinaus war das damalige Kombinat bekannt für die Herstellung von Eierverpackungen aus „Plaste“. Zurzeit gibt es sogar einen Beschäftigten vor Ort, der bereits 45 Jahre hier arbeitet. Linpac selbst ist ein britisches Unternehmen, 2017 wurde es von der US-amerikanisch geführten Firma Klöckner Pentaplast übernommen. Seit 2018 betreue ich den Betrieb als Gewerkschaftssekretär der zuständigen Multibranchengewerkschaft IGBCE.
Zu Beginn dieser Zeit berichtete der damalige zuständige Geschäftsführer, der seinen Sitz im West-Schwesterwerk in Ritterhude (Niedersachsen) hatte, auf einer Betriebsversammlung, dass er die Zukunft des Werkes nur mit recycelbarem Kunststoff (Polyethylenterephthalat, PET) sehe und er diesen Weg gemeinsam mit der Belegschaft und Investitionen gehen wolle. Das Werk produziert zwar PET, aber nur zu einem geringen Anteil. Hauptprodukt ist das kaum recycelbare Polypropylen (PP), das entweder „downgecyclt“ – es werden also keine Verpackungen mehr daraus herausgestellt – oder oftmals nur verbrannt wird.
Wichtig für diesen Text ist noch die Tatsache, dass die Beschäftigten im Werk in Beeskow knapp 800 Euro weniger verdienten als ihre Kolleginnen und Kollegen im Werk in Ritterhude und auch in etwa so viel weniger als die Beschäftigten in dem noch dazu gehörigen Werk in Montabaur (Nordrhein-Westphalen). Trotz gleicher Arbeit. Trotz gleichen Produkts. Linpac in Beeskow ist eine verlängerte Werkbank aus dem Westen. Ohne Führungsstrukturen vor Ort. Löhne niedrig, einfache Produkte, keiner entscheidet selbst – wie bei so zahlreichen Betrieben im Osten Deutschlands. Auch das prangert Oschmann in seinem Buch zu Recht an.

Arbeiterhebung Ost – Streik für gerechte Löhne
Sowohl Carsten Schneider, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, als auch beispielsweise der sächsische Arbeitsminister Martin Dulig sprechen in ihren Reden und Beiträgen immer wieder davon, dass sich die Beschäftigten im Osten mittlerweile erheben, um gegen diese Ungerechtigkeiten vorzugehen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Ostdeutschland war lange Zeit zu niedrig, um hier flächendeckend bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die zahlreichen Betriebsschließungen in den 90ern und die hohe Arbeitslosigkeit führten dazu, dass Beschäftigte froh über jeden Arbeitsplatz waren und sich oftmals mit niedrigen Löhnen abfanden.
Das Wachstum der Wirtschaft, gekennzeichnet durch große Ansiedlungen (auch und vor allem in Brandenburg), der demografische Wandel, der daraus resultierende Mangel an Fachkräften sowie gesetzgeberische Entscheidungen wie die Einführung und die dann kräftige Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro führten dazu, dass sich die Ausgangsbedingungen fast vollständig gedreht haben. Viel mehr Macht liegt mittlerweile bei den Arbeitnehmern und ihren Vertretern. Und diese wollten auch die Beschäftigten in Beeskow endlich nutzen.
Zur Vorbereitung der Tarifauseinandersetzung im Jahr 2020 legte ein führendes Gewerkschaftsmitglied bei der Aufstellung der Forderung für die anstehende Runde einfach die Gehaltstabellen der Kollegen aus Ritterhude und Montabaur auf und machte die Differenz zu Beeskow deutlich: „800 Euro Differenz. Daher müssen auch 800 Euro Anstieg unsere Forderung sein!“
Nach einer längeren Diskussion wurden es dann 600 Euro in der Forderung. Es war klar, dass diese Forderung nicht ohne einen harten Arbeitskampf durchzusetzen war. Und so streikten die Gewerkschaftsmitglieder dreimal 24 Stunden am Werk in Beeskow, setzten somit den Arbeitgeber unter Druck und brachten damit sogar wieder Bewegung in die Verhandlungen im Flächentarifvertrag Kunststoff Berlin-Brandenburg, in dem Linpac Mitglied ist.
Die Verhandlungen in der „Fläche“, zu der insgesamt knapp 2000 Beschäftigte in Berlin und Brandenburg in verschiedenen Betrieben gehören, waren vorher ins Stocken geraten. Das Ergebnis im Sommer 2021 war eine ordentliche Gehaltserhöhung im Flächentarifvertrag und ein Extra-Bonus für die Streikenden in Beeskow: eine „Beeskow-Prämie“ in Höhe von 200 Euro monatlich, geknüpft an bestimmte Kennzahlen im Betrieb.
Der Kampf hat sich gelohnt, dachte man damals und hatte vor allem auch das Gefühl, sich aufrecht und erfolgreich endlich mal erhoben zu haben. Breite Streikerfahrungen gibt es im Osten des Landes nämlich nicht. Steffen Mau beschreibt in seinem Buch „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ in einem Kapitel die Entwicklung der ostdeutschen Industrie nach der Wende und hier wird deutlich, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit über Jahrzehnte hinweg größer war als der Wille, die Verhältnisse zu ändern.

Nachhaltigkeit als Feigenblatt für knallharten Kapitalismus?
Im Februar dieses Jahres wurde im Betrieb bekannt gegeben, dass die Produktionslinie von PP-Verpackungen im Betrieb eingestellt werden soll. Begründet wurde dies offiziell mit der Nachhaltigkeitsstrategie des Konzerns Klöckner Pentaplast. Man wolle sich vom kaum recycelbaren Material trennen und setze zukünftig nur noch auf nachhaltiges PET. Die Produktlinie PP umfasst zwei Drittel der Produktion bei Linpac in Beeskow.
PET macht nur ein Drittel aus. Zeitgleich wurde aber eben nicht angekündigt, dass die PET-Produktion am Standort ausgebaut werden soll. Und im April kam dann die Nachricht: Die Produktion soll zum 30.9.2023 komplett eingestellt werden und der Standort wird aufgegeben. Man wolle im Rahmen von Interessenausgleich und Sozialplan eine Lösung für die Beschäftigten finden.
PP-Produktion und der Verkauf sind bisher nicht verboten, auch wenn die gesetzgeberischen Initiativen in die Richtung des Abbaus nicht recycelbarer Kunststoffe mehr werden und der Trend klar in die Vermeidung geht. Das hatte der ehemalige Geschäftsführer von Linpac schon vor fünf Jahren erkannt und verkündet, nur passiert ist am Standort Beeskow nichts. Die Produktion von PP lief – auch über die Pandemie hinweg – auf Hochtouren und die Nachfrage ist auch immer noch da. Jetzt aber erklärt die Firma, dass der Standort ohne PP nicht mehr wirtschaftlich sei und stößt dabei bei Belegschaft und Gewerkschaft auf vollkommenes Unverständnis.
Die Geschichte erweckt den Eindruck, dass ein Konzern über Jahre hinweg an der „verlängerten Werkbank“ Beeskow massiv verdient hat, keine Investitionen dafür tätigen musste, billige Löhne bezahlt hat und jetzt, wo Investitionen nötig wären, den leichtesten aller Wege geht und das Werk einfach dichtmachen will. Das wichtige Thema Nachhaltigkeit wird somit zum Feigenblatt von knallharten kapitalistischen Interessen eines westlichen Konzerns, der profitorientiert handelt. So jedenfalls mein Eindruck. Wenn Dirk Oschmann für seine Thesen ein brandaktuelles Beispiel braucht, gibt es kaum ein besseres als Beeskow!
Und jetzt kommt die politische Dimension und natürlich der ganz aktuelle Hinweis auf die AfD: Im Landkreis Oder-Spree, dessen Kreisstadt Beeskow ist, wurde der Landrat neu gewählt. Im ersten Wahlgang holte der Kandidat der AfD die meisten Stimmen und trat in der Stichwahl gegen den Beeskower Bürgermeister Frank Steffen (SPD) an, der nur knapp gewann.
In aktuellen Umfragen liegt die AfD im gesamten Land Brandenburg vorne, bedient ganz gezielt das Narrativ des ostdeutschen Abgehängtseins und schürt Ressentiments. Ähnlich zu beobachten ist das in der Lausitz beim Thema Kohleausstieg und vor allem auch in der Uckermark bei der Transformation der PCK-Raffinerie Schwedt weg von russischem Öl hin zu einer fossilfreieren Raffinerie. Insbesondere die Grünen, aber auch die gesamte Politik der Ampel auf Bundesebene bei den Themen Nachhaltigkeit und Transformation werden dabei ganz bewusst diskreditiert, um Wählerstimmen zu mobilisieren. Die geplante Betriebsschließung von Linpac in Beeskow gibt den Populisten des Landes dafür neue Nahrung!

Beeskow und die richtigen Freunde der einfachen Leute
Am Ende ist dieser Text auch der Versuch, die Beweggründe über der Wut, die Dirk Oschmanns Buch durchzieht, zu verstehen und damit auch ein Appell an die Konzernführung, die Entscheidung zur Schließung möglicherweise auch aus diesen Beweggründen heraus zu überdenken. Wirtschaftliche gäbe es auch, denn es gibt am Standort motivierte Beschäftigte, eine Akzeptanz von Industrie, eine große Fläche, einen funktionierenden Kundenstamm und mit strategischen Investitionen hat der Standort möglicherweise eine Zukunft. Auf den Versuch kommt es an.
Die Verhandlungen über die Zukunft des Werkes werden derzeit von zwei extern beauftragten „Sanierern“ und einem Anwalt mit Betriebsrat und Gewerkschaft geführt. Die Geschäftsführung hat auf einer Belegschaftsversammlung die geplante Schließung verkündet und war seitdem nicht mehr am Standort.
Brandaktuell und sogar zuerst auf Englisch erschienen, was für die amerikanisch-englische Geschäftsführung von Klöckner Pentaplast vielleicht leichter zu lesen ist, empfehle ich zum Schluss Katja Hoyers Werk über die Geschichte der DDR: „Beyond the Wall. East Germany, 19949–1990.“ In England wurde das Buch ein Bestseller und ein Blick hierein, um auch die Geschichte der Menschen in Beeskow etwas zu verstehen, lohnt sich.
Der Österreicher Robert Misik, etwas unverdächtiger im innerdeutschen Ost-West-Diskurs, hat in einer kleinen Streitschrift mit dem Titel „Die falschen Freunde der einfachen Leute“ die aufgezeigten Strategien der Rechtspopulisten analysiert und gibt bereits mit dem Titel eine Anspielung darauf, was zu tun ist. Es bedarf natürlich der richtigen Freunde der einfachen Leute und das wäre in diesem Fall zu zeigen, dass man durchaus bereit ist, die Entscheidung zur Betriebsschließung zu überdenken und Investitionen zu tätigen. Denn es ist mitnichten alles hoffnungslos in der ostdeutschen Wirtschaft. Im Gegenteil!
Anis Ben-Rhouma ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Gewerkschaftssekretär im Bezirk Berlin-Mark Brandenburg der Multibranchengewerkschaft IGBCE.
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