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In der Politik gilt: Bekommt ein Antrag genauso viele Ja- wie Nein-Stimmen, gilt er als nicht beschlossen. Dem zugrunde liegt das ungeschriebene Gesetz: Wer den Status quo verändern möchte, braucht mehr Menschen und bessere Argumente auf seiner Seite, als wer ihn erhalten will. Warum? Weil der Status quo etwas über die Zeit Gewachsenes ist, etwas, das sich bewähren konnte, ein kleinster gemeinsamer Nenner, auf den sich eine bestimmte Gruppe geeinigt hat.
Ein weiteres ungeschriebenes Gesetz ist: Möchte ich zu einem bestehenden System gehören, ist es meine Aufgabe, mich in dieses einzufügen, und nicht Aufgabe des Systems, sich meinem Wunschkonzept anzupassen.
Vor fünf Jahren bin ich aus einem chaotisch-lauten in einen sehr hübschen, gutbürgerlichen Berliner Kiez gezogen. Zu einer Zeit, in der Berlin schon unter Gentrifizierung ächzte, erhöhte ich allein durch meinen Zuzug (selbst wenn dieser „nur“ in die Wohnung meines Partners erfolgte) die ohnehin schon starke Nachfrage und damit die starke Gefahr der Verdrängung bisher dort Lebender, die sich verdoppelnde Mieten nicht mehr leisten können. Als „Neu-Nachbarin“ ist es mir daher besonders wichtig, diesen Menschen, die letztlich über lange Zeit ihren Teil dazu beigetragen haben, den Kiez für mich heute attraktiv zu machen, das Leben wenigstens nicht zu erschweren.

Der Gerechtigkeitssinn schlägt Alarm
Womit wir zu einer Beobachtung einer Art menschlichen Verhaltens kommen, die ich einfach nicht verstehen kann und bei der mein Gerechtigkeitssinn Alarm schlägt: das Hinzuziehen und das unter lautstarker Demonstration geäußerte Fordern nach Anpassung des Kiezes an die eigenen Bedürfnisse – als gäbe es schließlich kein Gewohnheitsrecht.
Seien es die Klagen wegen Ruhestörung in einem Kiez, der durch seine Nachtkultur primär hip und bekannt geworden ist. Sei es die gebürtige Prenzlauer-Bergerin, die von Nachbarn ermahnt wird, warum sie denn hier wohnen würde, wenn sie keine Kinder möge. Sei es das eigene Kinderkriegen oder die Lautstärkeempfindlichkeit und die damit verbundene Forderung, die Autos sollen nun gefälligst aus den Straßen verschwinden, die sie seit Beginn ihrer Existenz benutzt haben. Und hier kommen die Kiezblocks ins Spiel: jene, von einer weitumspannenden, teils durch Steuern, teils durch ausländische Stiftungen bezahlten NGO im Rahmen einer „Verkehrswende“ (kurz: Fahrräder rein, Autos raus) initiierten und vorangetriebenen verpollerten Nachbarschaften.
Über 70 davon sollen, so deren Plan, allein in Berlin entstehen. Insbesondere der Mitte- und der Ostteil von Berlin sind auf der Planungskarte als nahezu nahtloser Super-Kiezblock zu erkennen. Das bewusste Abschaffen von Parkplätzen läuft parallel dazu. „So unangenehm wie möglich“ will man es den Autofahrern machen, so die eigene Aussage, damit diese endlich von dem Verkehrsmittel ihrer Wahl wegkommen.
Es fällt jedem insgeheim auf, die wenigsten wollen es ansprechen, weil doch jeder den Menschen in den Mittelpunkt stellen will und nicht seine Herkunft, aber ein Umschiffen des Elefanten im Raum nützt ja auch nichts: Sowohl jene NGO als auch die Fraktionen im Ausschuss, die ihre Forderungen befürworten und umsetzen, sind in allergrößter Mehrheit Menschen, die in den letzten zehn Jahren zugezogen sind. Meist aus Gegenden, in denen die Leute besser situiert sind als jene, die die neue Nachbarschaft bisher bewohnten. Die sich wehrenden Vereine, Interessengruppen, Anwohner und die sie unterstützenden politischen Vertreter hingegen sind zu großen Teilen Ur- oder zumindest Langzeit-Berliner.

Der Kampf um den Kiezblock, im Volksmund „Pollerbü“ genannt, ist also ein Kampf der Milieus miteinander. Die Front verläuft hier eben nicht nur zwischen Fahrrad- und Autofahrern, sondern zwischen Eigentümer und Mieter, zwischen Homeoffice-Akademikern und umherfahrenden Handwerksbetrieben, zwischen Alt und Jung, zwischen Ostler und Westler, zwischen normal- und gutsituiert, zwischen Realos und Idealisten, aber in erster Linie: zwischen Verdrängern und Verdrängtwerdenden.
Ein vielsagender Kommentar
Für mich war es daher ein Ding der Selbstverständlichkeit, als in unserer Nachbarschaft der erste Poller aufgestellt wurde, mich auf die Seite derer zu schlagen, die seit dem ersten Tag des Aufstellens darunter leiden: das alteingesessene Gewerbe, das auf Belieferung und Fahrkundschaft angewiesen ist, und dem nichts von der bevorstehenden Änderung mitgeteilt wurde. Die Praxen und Friseursalons für die älteren Menschen im Bezirk. Die Anwohner der Hauptstraßen, auf die der ganze Verkehr nun verengt wird und die daher nur noch im Stau stehen. Die Einsatzwagenfahrer, die nicht mit extra Pollerkarte umherfahren möchten. Die, die sich einen Alltag ohne Auto zeitlich und, ja!, auch finanziell schlicht nicht leisten können. Oder auch einfach nur die, die allergisch auf das Gefühl, bevormundet und in ihrer Alltagsgestaltung erzogen werden zu müssen, reagieren.
Und als dann die ersten Beleidigungen losgingen – der Unternehmerin mit 50 Jahre existierendem Familienbetrieb im Kiez gesagt wurde, wenn sie nicht wisse, wie man ein Gewerbe führe, solle sie’s halt lassen; der anderen Unternehmerin, dass es dieses Geschäft im Kiez ja auch nicht wirklich brauche und es schöne Wohnungen blockieren würde –, da war ich dann sofort dabei, als ein Verein zur Unterschriftensammlung gegen die Pollerpolitik gegründet wurde.



