Ein junger Tschetschene heiratet im September 2022 in der Russischen Föderation eine deutsche Staatsbürgerin. Nachdem alle Urkunden übersetzt und beglaubigt sind, will er, wie es rechtlich vorgesehen ist, beim deutschen Konsulat in Moskau die Familienzusammenführung beantragen. Da erhält er die Einberufung in die Armee.
Weil er den russischen Krieg verurteilt und auf keinen Fall am ukrainischen Volk schuldig werden möchte, macht er sich ohne Visum auf den Weg zu seiner in Deutschland lebenden Ehefrau. Der Fluchtweg führt über Brest, Minsk, Istanbul, Sarajewo zur kroatischen Grenzstadt Velika Kladuscha, weiter über Slowenien, Österreich nach Deutschland.
Bei einer Grenzkontrolle am 20. Februar ist er gezwungen, Asyl zu beantragen, wird von der Bundespolizei nach München gebracht und ein paar Tage später zum Behördenzentrum Augsburg weitergeleitet. Immerhin überzeugen die Heiratsurkunde und ein Unterstützerschreiben der von mir geleiteten Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft die bayerischen Behörden, den jungen Mann nicht in eine bayerische Kleinstadt, sondern nach NRW zu verteilen, nach Bielefeld.
Die dortigen Asylbehörden schicken ihn zur Landeserstaufnahmeeinrichtung nach Bochum, diese zur zentralen Unterbringungseinrichtung in Bonn. Eine Deutschlandreise auf Kosten des deutschen Steuerzahlers und an jeder Station die Inanspruchnahme von Beamten, die dieselben Fragen stellen, bis endlich der Asylantrag gestellt ist.
Dabei möchte der junge Mann eigentlich gar keinen Asylantrag stellen, er möchte nur eines, endlich bei seiner Ehefrau sein dürfen, arbeiten und sich integrieren. Weil er als Minderjähriger mit seinen Eltern bereits von 2013 bis 2019 in Deutschland gelebt und deutsche Schulen besucht hat, besitzt er die besten Voraussetzungen dafür. Bis heute wartet er in Bonn auf die Verteilung in den Regierungsbezirk Arnsberg und zu seiner Ehefrau in Herford.
Abschiebung nach Russland trotz Arbeit
Wie auch der junge Tschetschene werden die beiden Männer, deren Geschichte ich in den folgenden Absätzen beschreibe, seit Jahren von mir begleitet und unterstützt. Der Fall von Artur E. und der bereits in der taz vom 20. April 2021 geschilderte Fall Shamil Nazhaevs sind ebenso absurd. Obwohl sie beide Arbeit hatten, wurden sie 2019 ohne nachvollziehbare Gründe auf Anweisung der Ausländerbehörde der Lessing-Stadt Kamenz von ihren Ehefrauen und kleinen Kindern getrennt und nach Russland abgeschoben.
Shamil Nazhaev hatte Glück. Polizei und Geheimdienst, die ihn am Flughafen in Moskau in Empfang nahmen, überstellten ihn nicht nach Tschetschenien, was für ihn mit großer Wahrscheinlichkeit Folter und Tod bedeutet hätte, sondern nahmen ihn in Untersuchungshaft. Sie erzwangen von ihm das Geständnis, dass er mit Drogen gehandelt habe, wofür der Ermittler seine Provision erhielt.
Obwohl Shamil sich keine Minute auf freiem Fuß befunden hatte und der Tatvorwurf absurd war, wurde er zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Nach der Haft geriet er in die Hände regierungstreuer Tschetschenen, der sogenannten „Kadyrowzy“, die ihn schwer misshandelten, ihm den rechten Fuß und mehrere Rippen brachen und einen Finger abquetschten. Als er hörte, dass er getötet werden soll, verlieh ihm die Todesangst solche Kräfte, dass es ihm gelang zu fliehen. Mit Unterstützung der Gesellschaft Memorial wurde er versteckt und anonym medizinisch behandelt.
Beide Männer gelangten auf abenteuerliche Weise wieder nach Deutschland, doch nicht etwa zu ihren Familien. Die Asylfolgeanträge verpflichten sie, dort zu wohnen, wohin sie die Asylbehörden verteilen. Artur E. wurde ins sächsische Schneeberg verteilt, seine Familie wohnt in Kamenz.
Dreieinhalb Jahre Ehefrau und Kinder nicht gesehen
Im selben Kamenz wartet Shamil Nazhaev inzwischen seit Jahren auf den Bescheid des Bundesamtes, dem alle Beweise für seine Fluchtgründe und seine Misshandlung vorliegen, gestützt von Dossiers der renommierten russischen Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina. Denn nur mit einer Aufenthaltserlaubnis hätte er die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und wieder mit seiner Familie zu vereinen. Dreieinhalb Jahre lang hat er seine Ehefrau und seine Kinder nicht gesehen!
Die hier beschriebenen Flüchtlingsbiografien zeigen ein bürokratisches Asylsystem, dass dem Staat hohe Kosten und einen großen Verwaltungsaufwand verursacht und dabei nicht besonders familienfreundlich ist.
Angesichts des Ansturms von circa eineinhalb Millionen Flüchtlingen sollten einfachere und menschlichere Lösungen möglich sein und Geflüchteten, die in Deutschland nahe Angehörige haben, erlaubt sein, bei ihren Familien zu leben und ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Behörden, die das ihnen wie in den hier geschilderten Fällen verweigern, schaden dem deutschen Staat.
Ekkehard Maaß, geb. 1951, ist Kaukasusspezialist und Inhaber eines Literarischen Salons. 2022 erschien sein Buch „Fluchtzeiten – 25 Jahre Deutsch-Kaukasische Gesellschaft“.






