Ukraine-Krieg

Umstrittene Einreiseregeln: Russen staunen über Deutschlands gebrochene Versprechen

Deutsche Behörden verweigern russischen Kriegsdienst-Flüchtlingen und Besuchern mit sich widersprechenden Gründen die nötigen Papiere. Nutznießer ist vor allem die Kreml-Regierung.

Nowosibirsk im April 2023: Wehrpflichtige stehen an einer Sammelstation des Rekrutierungsbüros der Armee, bevor sie zum Dienst bei den russischen Streitkräften aufbrechen. 
Nowosibirsk im April 2023: Wehrpflichtige stehen an einer Sammelstation des Rekrutierungsbüros der Armee, bevor sie zum Dienst bei den russischen Streitkräften aufbrechen. Kirill Kukhmar/imago

Der Moskauer Ingenieur Sergei* (33) möchte gemeinsam mit seiner Freundin seine Schwester besuchen, die als Ärztin in Deutschland arbeitet. Angesichts des Ukraine-Krieges gehe er schon mit einem schlechten Gefühl ins Antragsverfahren, obwohl er vor der Pandemie regelmäßig problemlos Schengen-Visa bekommen habe, erzählt er der Berliner Zeitung.

Tatsächlich wird sein Antrag – im Gegensatz zu dem seiner Freundin – abgelehnt, obwohl er sich daheim in ungekündigter Vollzeitstellung befindet und Immobilien in Russland besitzt. Ein Nachweis von Eigentum gilt bei der offiziellen deutschen Visumantragsstelle in Russland, VisaMetric, nach wie vor als Beleg der Rückkehrbereitschaft.

Der Fall von Sergei sorgte in russischen Medien für viel Aufsehen

Jedoch hat das deutsche Konsulat in diesem Fall Zweifel an seiner Rückkehrbereitschaft nach dem Besuch, da er als Russe „potenziell von der Teilmobilisierung der russischen Streitkräfte bedroht ist“, wie es im Ablehnungsbescheid heißt. Fälle wie von Sergei sind aktuell viele in oppositionellen exilrussischen Medien wie Meduza dokumentiert. Eine Meldung des russischen Investigativjournalisten Andrey Sakharov zur Antwort der Behörden auf Sergeis Antrag sorgte auf Twitter für großes Aufsehen.

Auch die Berliner Zeitung hat zuvor über ähnliche Fälle berichtet. Immer wieder wird die Absage damit argumentiert, dass der Antragsteller als „russischer Staatsangehöriger im wehrpflichtigen Alter zu dem Personenkreis gehört“, der in die russischen Streitkräfte einberufen werden könnte. Es sieht aufgrund der abrupt gestiegenen Fallzahl so aus, als ob nun generell männliche Russen überhaupt keine Besuchsvisa mehr für Deutschland bekommen, mit stets gleicher Begründung.

Russen warten in einem Behördenzentrum in Almaty, um eine persönliche Identifikationsnummer für Kasachstan zu erhalten.
Russen warten in einem Behördenzentrum in Almaty, um eine persönliche Identifikationsnummer für Kasachstan zu erhalten.Vladimir Tretyakov/dpa

Asylanträge von Russen werden mit einer anderen Begründung abgelehnt

Zeitgleich beantragen auch russische Männer in Deutschland Asyl, weil sie tatsächlich nicht in den Krieg in der Ukraine ziehen wollen und eine weitere Mobilisierungswelle befürchten. Wie die Hilfseinrichtung Connection e.V. für internationale Kriegsdienstverweigerer berichtet, werden solche Anträge jedoch vom zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) abgelehnt.

In der Begründung heißt es, es ergäbe sich nicht, dass in Russland eine „Mobilmachung in absehbarer Zeit bevorstehen würde. Eine solche Mobilmachung wird auch sonst für unwahrscheinlich gehalten, insbesondere, da sie nicht mit dem russischen Narrativ einer nach Plan verlaufenden, begrenzten Spezialoperation zu vereinbaren und politisch zu vermitteln wäre.“

Während also deutsche Konsulate mit der Begründung einer drohenden Mobilisierung Visaanträge ablehnen, stellt das Bundesamt zur Ablehnung von Asylanträgen die Möglichkeit einer solchen Mobilmachung generell infrage. Die Begründungen widersprechen sich mit dem gleichen, negativen Ergebnis für die Antragsteller. Entweder zwei Bundesbehörden haben über Russland völlig unterschiedliche Kenntnisstände oder es geht mehr darum, Ablehnungsgründe für nachvollziehbare russische Anträge auf Einreise oder Aufenthalt zu finden.

Nowosibirsk: Wehrpflichtige betreten einen Bus an einer Sammelstation des Rekrutierungsbüros der Armee, bevor sie zum Dienst bei den russischen Streitkräften aufbrechen.
Nowosibirsk: Wehrpflichtige betreten einen Bus an einer Sammelstation des Rekrutierungsbüros der Armee, bevor sie zum Dienst bei den russischen Streitkräften aufbrechen.Kirill Kukhmar/imago

Danach von der Berliner Zeitung befragt, verwies das Bamf lediglich auf eine Regierungspressekonferenz von Mitte April 2023. Dort betonten Regierungsvertreter den unterschiedlichen Charakter der Schengen-Visa und der Asylberechtigung, klärten den Widerspruch der Sichtweisen jedoch nicht auf. Auf Einzelfälle könne man in Unkenntnis der Details nicht eingehen, hieß es. Das Auswärtige Amt wiederum erklärte der Berliner Zeitung auf Anfrage, dass die Möglichkeit, zum Militärdienst herangezogen zu werden, „kein ausreichender Ablehnungsgrund“ sei. Es liegen jedoch zahlreiche Fälle vor, in denen Antragsteller unter identischen Verhältnissen in früheren Jahren Schengenvisa erhielten. Diese Tatsache belegt , dass sich entweder die interne Weisungslage nach dem Aussetzen des Visumerleicherungsabkommens mit Russland geändert haben muss oder die Praxis der Konsulate – mit dem Ergebnis einer neuen Ablehnungswelle. 

„Hohle Phrasen der Solidaritätsbekundung“ statt Schutz für russische Flüchtlinge

Rudi Friedrich von Connection e.V. hält dieses Verhalten für einen Skandal. Noch im September 2022 gab es im Bundestag eine parteiübergreifende Einigkeit, russische Flüchtlinge vor dem Militärdienst und Deserteure zu schützen, verweist er. Nun würden sich nach seiner Auffassung diese Bekundungen der Politiker als „hohle Phrasen der Solidaritätsbekundung erweisen“.

Es ist dabei nicht das erste Mal, dass deutsche Behörden versuchen, Verweigerer eines Wehrdienstes in einem Krieg führenden Land im Asylverfahren abzulehnen. Gleiches geschah bei syrischen Kriegsdienstverweigerern, die vor dem Assad-Regime nach Deutschland flüchteten, wenn sie sonst keine oppositionelle Tätigkeit nachweisen konnten. Dieses Verhalten führte zum Anruf des Europäischen Gerichtshofs, der befand, dass die syrischen Behörden die Verweigerung bereits als Akt der Opposition werten könnten.

Das ist eine Begründung, die nun auf das Krieg führende Russland ebenfalls zutrifft. Im Laufe der ersten Mobilisierungswelle wurden Truppen ohne ausreichende Ausbildung nahezu sofort an die Front geworfen und hatten hohe Verluste. Wehrdienstleistende werden zwar in der Regel noch nicht direkt an der Front eingesetzt. Allerdings werden sie während des Wehrdienstes genötigt, einen Zeitvertrag zu unterschreiben, mit dem sie unmittelbar bei der Invasion des Nachbarlandes eingesetzt werden können.

Werden die Russen pauschal an der Einreise nach Deutschland gehindert?

Wenn man der Meinung ist, diese Gefahren zählen nicht als Grund für einen erfolgreichen Asylantrag, fragt man sich jedoch, warum die deutschen Konsulate genau wegen dieser Gründe Verwandtenbesuche in Deutschland ablehnen. Es entsteht der Eindruck, es geht der deutschen Politik wohl darum, pauschal männliche Russen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit an der Einreise oder dem Aufenthalt in Deutschland zu hindern. Das entspricht am Ende dem Bild, das die Propaganda des Kreml in ihren Berichten von westlichen Behörden vermitteln will: dem eines angeblich pauschalen „Antirussismus“.

Die Auswirkungen solcher Entscheidungen treffen nur in seltenen Fällen Befürworter des russischen Angriffskriegs und keinen seiner aktiven Förderer vor Ort. Wer die Ukraine-Invasion unterstützt, reist kaum ins „feindliche Ausland“, das den Kriegsgegner mit Waffen beliefert. Russische Beamte mussten ihre Pässe beim Dienstherren abgeben und bekommen Aufenthalte im westlichen Ausland nicht mehr genehmigt.

Ein Mann mit einem russischen Pass wartet auf die Grenzkontrolle.
Ein Mann mit einem russischen Pass wartet auf die Grenzkontrolle.Jussi Nukari/imago

Getroffen werden von den deutschen Konsulaten mit der Verweigerung der Besuchsvisa vor allem mit dem Regierungskurs nicht einverstandene Russen, die den Kontakt zu deutschen Freunden und Verwandten aufrechterhalten wollen. Mit der Ablehnung von Flüchtlingsanerkennungen trifft man Männer, die nicht in einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland ziehen möchten. Nutznießer in beiden Fällen sind Russlands Mächtige, die jede Verbindung ihres Volkes nach Westen kappen wollen und neues Kanonenfutter angesichts der hohen Verluste an der Front im Donbass brauchen.

Zum Autor: Roland Bathon arbeitet seit 20 Jahren als auf Russland und Osteuropa spezialisierter Journalist und Publizist. Er schreibt für die Fach- und Tagespresse und ist Autor mehrerer Sachbücher.

* Name geändert


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