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Offene Briefe sind sinnlos. Oder wollen wir noch mehr schreiben?

Der offene Brief wird als Medium für leidenschaftlich vorgetragene Haltungen zum Krieg genutzt. Im Hausflur hat er sich allerdings schon bewährt.

Tippen, nicht twittern. Wer glaubt, etwas zu sagen zu haben, schreibt einen offenen Brief.
Tippen, nicht twittern. Wer glaubt, etwas zu sagen zu haben, schreibt einen offenen Brief.imago/Design Pics

Auf welcher Seite stehst du?

Die immer wieder aufkeimende Schlüsselfrage formulierte Florence Reece 1931 in einem Lied. Es handelte von einem Bergarbeiterstreik und wurde später zur kämpferischen Parole vieler gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen: „Which side are you on“ (Auf welcher Seite stehst du?). Haltung zeigen, sich positionieren – wenn es ernst wird, sollte man wissen, wo man steht? Oder etwa nicht?

In den vergangenen Tagen wurden zwei von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen unterschriebene offene Briefe veröffentlicht, die an Bundeskanzler Olaf Scholz adressiert waren. In dem von der Zeitschrift Emma initiierten Text bedanken sich die Unterzeichner für die bisherige Besonnenheit des Bundeskanzlers und warnen vor Eskalationen, die zu einem dritten Weltkrieg führen. In dem zweiten, darauf Bezug nehmenden Brief wiederum heißt es: „Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit durch kontinuierliche Waffen- und Munitionslieferungen stärken.“

Ich hätte keinen der beiden Briefe unterschrieben, obwohl mich seit Wochen die Frage quält, wie der Ukraine adäquat zu helfen sei. Ich war der Ansicht, dass der Emma-Brief das Problem auf unangemessene Weise verkürzt, im taz-Interview aber hat dessen Mitunterzeichner Harald Welzer gute Argumente für sein Engagement angeführt. Vielleicht könne man, so Welzer, sich auf die Minimalrationalität verständigen, dass die Betrachtung einer zivilen, einer zivilisatorischen Dimension wieder ins Spiel gehört.

Trotz meines Verständnisses für Waffenlieferungen stimme ich Welzer in diesem Punkt zu. Ich weiß also nicht, auf welcher Seite ich stehe, und hoffe bei einem Grundvertrauen in die gewählten Politiker auf die Richtigkeit von deren Entscheidungen. Darüber hinaus versuche ich, es mir unter größtmöglicher Offenheit für neue Argumente bei deren Abwägung nicht zu leicht zu machen. (Harry Nutt)

Wie man zum nützlichen Idioten wird

Das unübertroffene Vorbild aller offenen Briefe: Am 13. Januar 1898 veröffentlichte der französische Schriftsteller Émile Zola in der Tageszeitung L’Aurore unter dem Titel „J’Accuse“ (Ich klage an) einen längeren Text. Der Form nach war er ein Brief und richtete sich an Félix Faure, den damaligen Präsidenten der Französischen Republik, doch eigentlich wollte Zola einen Skandal öffentlich machen: Drei Jahre zuvor, 1894, war der französische Hauptmann Alfred Dreyfus aufgrund von gefälschten Beweisen wegen angeblicher Spionage zugunsten des Deutschen Reichs zu lebenslanger Haft verurteilt worden – für Zola ein klarer Fall von Antisemitismus, denn Dreyfus war Jude. Die Republik dankte es dem Schriftsteller allerdings nicht sofort, Zola musste vorübergehend ins englische Exil fliehen, Dreyfus wurde erst 1906 freigesprochen und rehabilitiert.

Heute, in Zeiten des Internets, finden sich Medien wie (papierene) Zeitungen in einem totaldiversifizierten und affektverstärkten Umfeld wieder, in dem beinahe im Sekundentakt ein offener Brief erscheint. Man kann das als Zerfall der Öffentlichkeit beklagen oder (besser) nicht: Die Empörung des Ich-klage-An macht hier den Grundton aus. Wenig hilfreich sind da Petitionen, wie sie zum Beispiel in der Debatte um den Ukraine-Krieg jetzt auch an Bundeskanzler Olaf Scholz verschickt wurden: offene Briefe mit Unterschriftensammlung. Schriftsteller, Intellektuelle sollten für sich allein sprechen, im Windschatten der vielen Unterschriften erscheinen sie medienkonform bestenfalls als Promis – schlimmstenfalls als nützliche Idioten. Überhaupt: Öffentliche Debatten werden nicht per Unterschriftensammlung geführt. Es zählt das bessere Argument.

Zugegeben: Das ist total altmodisch, unterscheidet aber eine Debatte von dem üblichen Lärm. (Christian Schlüter)

Der Hausflurbrief

Eine archaische Form der persönlich adressierten, aber öffentlich geteilten Botschaft ist der Hausflurbrief, zum Beispiel dieser: „Darf ich die neuen Nachbarn im zweiten Stock bitten, die Fenster beim Sex zu schließen?“ Diese Beschwerde macht den Widerspruch von Briefgeheimnis, das im 18. Jahrhundert in Frankreich noch mit der Androhung der Todesstrafe geschützt wurde, und der Suche nach Öffentlichkeit klar, mit der der Absender Druck auf den Adressaten ausüben will.

Statt mit dem – zugegeben heiklen – Thema das Gespräch unter vier oder sechs Augen zu suchen oder eine diskrete Note im Briefkasten zu deponieren und sich hierbei auf das Briefgeheimnis zu verlassen, klebt man die Nachricht für alle sichtbar an die Haustür, trötet also seinen Unmut heraus und stellt damit die Angesprochenen an den Pranger. Merke: Um jemanden zu beschämen, braucht man Publikum. Nun kann man einwenden, dass die neuen Nachbarn in dem Fall selbst kein größeres Problem damit haben, Intimitäten zu teilen, indem sie, wie ihnen angekreidet wird, ihren Liebeslärm (eigentlich eine lebensbejahende Musik) ungeschützt emittieren.

Worauf will dieses Beispiel, das vielleicht dem Ernst und dem Engagement vieler Offener-Brief-Schreiber mit wichtigen Anliegen nicht entspricht, hinaus? Vielleicht will es nur daran erinnern, dass nicht nur der Adressat und das Anliegen ins Licht gerückt werden, sondern dass sich das Publikum immer auch über den Absender ein Bild macht. Hier zum Beispiel könnte es sein, dass es dem Hausflurbriefschreiber Prüderie oder gar sexuellen Frust unterstellt. (Ulrich Seidler)

Das Mittel der Wahl in der Diktatur

Schriftsteller sollen schreiben und nicht unterschreiben. Das ist mein erster Gedanke, wenn ich diese offenen Briefe sehe. Darin ist in wenigen Sätzen eine Aufforderung formuliert, die sich zu einer Meinung verkürzen lässt. Wer unterschreibt, steht mit ganzem Namen dahinter, kann schlecht ein Sternchen „ja, aber“ dazusetzen. Gerade Schriftsteller, denen es doch eigentlich immer um die richtige Nuance des Ausdrucks geht, begeben sich mit so einer Unterschrift in ein starres Korsett des Für oder Wider.

Das haben die vergangenen Tage gezeigt. Viele, die den offenen Brief der Emma unterzeichneten, waren nicht nur der Kritik, sondern auch der Häme von Leuten ausgesetzt, die anderer Auffassung sind. Flinke Twitterer versahen das Wort Intellektuelle mit Anführungsstrichen, als wollten sie Unterzeichnern wie Alexander Kluge die intellektuelle Kompetenz absprechen. Und nun werden wiederum jene, die den bewusst als „anderen“ benannten offenen Brief unterschrieben, verdächtigt, Waffenlieferungen den Verhandlungen vorzuziehen, nicht friedliebend zu sein.

In der Diktatur kann ein offener Brief das Mittel sein, unterdrückte Meinungen publik zu machen. Denken wir an die Charta 77 in der Tschechoslowakei und in der DDR an die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976. In einer Demokratie aber ist es möglich, den Streit der Meinungen öffentlich auszutragen. Gleich, als der Krieg der russischen Armee gegen die Ukraine begann, äußerten sich Schriftstellerinnen, Intellektuelle, Künstler aller Sparten in den Medien dazu und kamen auf Podien zusammen. Wie heftig auch die wahrgenommen werden, zeigt die Debatte um den PEN-Präsidenten Deniz Yücel. Die Diskussion wird, soll, muss weitergehen.

Übrigens: Schauspieler sollen spielen und nicht Kampagnenvideos drehen. Aber im Grunde ist das alles komplizierter. (Cornelia Geißler)