Vitalina und Vitalina hätten eigentlich etwas zu feiern. Die Freundinnen aus der zentralukrainischen Stadt Poltawa würden wohl gerade eine Party für die ältere der beiden Vitalinas vorbereiten, wäre am 24. Februar nicht der Krieg ausgebrochen. „Ich habe morgen 22. Geburtstag“, sagt Vitalina Chyrowa.
Das Beinahe-Geburtstagskind steht mit der zwei Jahre jüngeren Freundin Vitalina Serbin in einem Zelt auf dem Rollfeld des 2020 geschlossenen Flughafens Tegel. Das wie ein Hexagon geformte Gebäude beherbergt seit dem 20. März ein Ankunftszentrum für Geflüchtete aus der Ukraine. Neben Rollbändern und unter Hinweisen zur Passkontrolle stehen nun abgetrennte Module mit Feldbetten. Wo Flughafengäste vor der Schließung von Tegel noch etwas für ihren Urlaub einkauften oder oder einen Kaffee vor dem Gate tranken, finden sich in früheren Läden oder Cafés Ausgabestellen für Essen oder Kleidung, eine Kinderbetreuung mit Spielecke oder Beratungsstellen.
Wir wären in jede deutsche Stadt gegangen.
Die beiden Vitalinas aus Poltawa haben sich im Zelt auf dem Rollfeld gerade registriert. Sie mussten dafür einen Fingerabdruck abgeben und ihren blauen ukrainischen Pass vorzeigen. Eine Kamera machte ein Foto von ihnen. Die jungen Frauen berichten, dass sie gemeinsam aus Poltawa mit einem Evakuierungsbus aufgebrochen seien und dann die ukrainisch-polnische Grenze überquert hätten. Sie lebten jetzt in Berlin bei Menschen, die sie nie zuvor gesehen hätten, sagen sie. „Wir wären in jede deutsche Stadt gegangen. Aber wir haben auf einer App für Geflüchtete aus der Ukraine in Berlin eine private Unterkunft gefunden. Jetzt bleiben wir hier“, sagt die ältere Vitalina.
Aus Freundschaft wurde eine gemeinsame Flucht
Die beiden Frauen erzählen, dass sie sich bei einem Tanzkurs an der Universität kennengelernt hätten. Es sei lustig gewesen, als beide entdeckten, dass sie den gleichen Vornamen hatten. Aus den Witzen ist eine Freundschaft entstanden und nun wurde daraus eine gemeinsame Flucht. Die Ukrainerinnen wollen einen Job finden in Berlin. „Wir wollen so schnell wie möglich Deutsch lernen“, die jüngere Vitalina.
Die beiden Vitalinas müssen aufbrechen. So bleibt keine Zeit, mehr über ihre „private Unterkunft“ zu erfahren. Ein Wohnungsnachweis für mindestens sechs Monate ist Voraussetzung für einen zunächst für ein Jahr gültigen und für weitere zwei Jahre verlängerbaren Aufenthaltstitel in Berlin.
Wer dagegen etwa von hilfsbereiten Berlinern am Hauptbahnhof angesprochen wurde und nur für einige Tage eine Schlafcouch vermittelt bekam, soll nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel im deutschen Quotensystem Easy für Geflüchtete auf die verschiedenen Bundesländer verteilt werden.
Es setzt sich aus dem Steueraufkommen und der Bevölkerungszahl in den deutschen Ländern zusammen und bemisst anhand dieser Kriterien die Aufnahmekapazität. Ukrainer mit einem biometrischen Pass können sich seit 2017 90 Tage lang visafrei in der EU aufhalten. Die Registrierung ermöglicht nun den Zugang zum Gesundheitssystem oder Sozialleistungen.

Die Geflüchteten sollen durchschnaufen
Reisebusse parken auf dem Rollfeld vor dem Hexagon-Gebäude der ehemaligen Abflughalle und den weißen Registrierungszelten. Wer keine Verwandten in Berlin hat oder zu den vulnerablen Gruppen der Hochbetagten, queeren Personen oder Menschen mit einer Behinderung zählt, verlässt in der Regel in diesen Bussen Tegel in Richtung anderer Städte in Deutschland.
So hat es die Senatsverwaltung in Berlin beschlossen. Die Aufnahmezentren am ehemaligen Flughafen Tegel sowie die zwei Hallen auf dem Messegelände dienen als Nadelöhr nach der Flucht über Polen aus dem Kriegsgebiet. Die Geflüchteten schnaufen in der Regel ein bis drei Tage durch, bevor sie weiterreisen.
Imke Siefer von den Maltesern ist erstaunt, wie gefasst die Geflüchteten ihr im Aufnahmezentrum begegnen, obwohl die Flucht aus dem Krieg oft nun wenige Stunden überstanden ist. Nervenzusammenbrüche habe sie keine erlebt. Nicht einmal Tränen seien in ihrer Gegenwart geflossen, meint Siefer. Dabei handelt es sich bei den Ankommenden in der Regel um Frauen, deren Söhne, Partner oder Väter aufgrund des Kriegsrechts die Ukraine nicht verlassen durften. Jeder Mann im wehrfähigen Alter muss sich den Streitkräften für die Verteidigung gegen die russischen Invasoren zur Verfügung stellen. „Ich weiß natürlich nicht, wie es ist, wenn die Menschen nachts auf ihren Betten liegen“, sagt die Helferin.
Die Malteser sind Teil des Netzwerks „Berlin hilft!“. Mehrere Organisationen teilen sich die Aufgaben im Ankunftszentrum. Die Malteser sind im Schichtdienst Ansprechpartner für die Ankommenden. Sie informieren, beraten und helfen auch bei alltäglichen Sorgen. „Gestern war jemand bei mir, weil die Katze ausgebüxt ist. Wir haben sie heute wiedergefunden“, erzählt Siefer.

Kinder spielen in der Abflughalle
Elisabeth Sow vom Deutschen Roten Kreuz in Charlottenburg-Wilmersdorf drückt vor der Kinderbetreuung in der ehemaligen Abflughalle einem Jungen zum Abschied ein Spielzeug in die Hand. Seine Familie macht sich auf zu den Bussen auf dem Rollfeld, um in eine andere deutsche Stadt zu fahren. Der gerade aus dem Krieg entkommene Junge würde lieber in der Spielecke bleiben, als schon wieder einen Bus zu besteigen. Er weint bitterlich.
Leicht falle es ihr nicht, dass die Kinder oft so schnell wieder aufbrächen, meint Sow. „Oft sieht man sie am nächsten Tag schon nicht mehr“, sagt die Betreuerin. Wie Imke Siefer im Umgang mit den Erwachsenen spürt auch sie bei den Kindern keine Spuren des im Krieg oder auf der Flucht Durchlebten. „Man merkt ihnen nicht an, was sie durchlitten haben“, sagt Sow. Sie spreche selbst kein Russisch oder Ukrainisch, eine Kollegin könne das. „Aber mit Kindern kann man sich auch ohne Sprache ganz gut verständigen“, sagt sie. Für Rumtoben und Spielen braucht es ohnehin kein Wörterbuch.
Sascha Langenbach, Sprecher des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), führt gemeinsam mit der Malteserin Siefer durch das ehemalige Flughafengebäude. Wer ihm zuhört, ist sich nicht sicher, ob Berlin gerade die Ruhe vor oder nach dem Sturm erlebt. Derzeit habe sich die Lage beruhigt, da weniger Menschen aus der Ukraine Berlin erreichten, erklärt der Sprecher des LAF. Er könne aktuell eine Belegung von 317 Betten für die Aufnahmezentren Messe und Tegel vermelden. Die Stadt habe die Lage im Griff und schnell reagiert, findet er. Aber niemand wisse, was die kommenden Wochen brächten, sagt er auch. Die Situation sei nicht mit 2015 zu vergleichen, meint Langenbach. „Wir haben es jetzt mit einer homogenen Gruppe zu tun.“ Sie besteht vor allem aus Müttern mit Kindern und stößt zurzeit überall auf offene Arme.




