Joggen für die Freiheit

Warum die JVA Plötzensee ein Wettrennen für Gefangene veranstaltet

Berliner Inhaftierte und externe Hobbysportler haben sich zu einem Zehn-Kilometer-Lauf getroffen. Ein Besuch bei einem außergewöhnlichen Event.

Teilnehmer des Berliner Gefängnislaufs in der JVA Plötzensee.
Teilnehmer des Berliner Gefängnislaufs in der JVA Plötzensee.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Der Flug beginnt gleich hinter dem Stahltor in einer mächtigen Mauer mit Rollen aus Stacheldraht oben drauf. Tolga macht sich warm für die bevorstehenden zehn Kilometer, nimmt in Gedanken Fahrt auf mit dieser Stimme im Kopf: „Ich heb’ ab, nichts hält mich am Boden.“ Im Training fällt ihm dieser Song oft ein. Dann, wenn er mit anderen Gefangenen in der JVA Tegel seine Runden dreht. Zweimal in der Woche machen sie das, meist sind sie zehn, manchmal 15 Leute.

An diesem Freitagnachmittag läuft Tolga in der JVA Plötzensee, aber er trainiert nicht, es ist ein Wettkampf. Sie werden um einen Häuserblock rennen, durch das geöffnete Stahltor, einen steinernen Korridor entlang, der zu einem Fußballplatz führt. Es geht um den Platz herum und durch den Korridor zurück. Das Ganze zehn Mal. „Ich fühle mich beim Laufen, als würde ich fliegen“, sagt Tolga, und so, wie der kräftige junge Mann dabei lächelt, bräuchte es niemanden zu wundern, wenn der gleich die Arme ausbreiten würde wie Flügel.

Jemand ruft in ein Mikrofon, dass es gleich losgeht, zählt rückwärts: „Zehn, neun, acht...“  Countdown statt Startpistole. Schüsse sind in einer Justizvollzugsanstalt tabu, selbst wenn die Munition nicht scharf ist. Der Tross setzt sich in Bewegung. Es ist die sechste Auflage des „Berliner Laufs für Gefangene“, die sich auf den Weg macht. Zweimal musste er ausfalleln, einmal wegen Corona.

Von den acht Anstalten der Stadt haben diesmal sechs ein Team geschickt, insgesamt 43 Teilnehmer, 40 Männer, drei Frauen. Interne nennt sie der Streckensprecher, ihre Startnummern sind rot unterlegt, damit man sie von den 37 Externen unterscheiden kann, den Hobbyläufern, wie Detlef Wolf einer ist. Ein Freund des Ausdauersports, hager, drahtig, er trägt eine hellblaue Jacke, der orange Schriftzug „Berlin-Marathon“ ist verwaschen. Er läuft nicht mit. Er ist der stellvertretende Anstaltsleiter.

Wolf schaut zum Stahltor, sieht die, die zu Beginn losgerast sind und nun weit zurückfallen. Die, die ihr Tempo klug dosieren. Und die, die es vom Start weg gemütlich angehen. Sie alle wollen ins Ziel. Sie alle sollen ein Ziel erreichen: irgendwann in ein normales Leben zurückkehren. Auch durchs Laufen.

„Angleichungsprinzip“ nennt Wolf das. „Sport ist ein wesentlicher Bestandteil des Alltags einer JVA.“ Er gehört zu den Beschäftigungen, die dem Leben hinter Mauern einen Rhythmus geben. „Aufstehen, zur Arbeit gehen, die Freizeit gestalten.“ Sie haben eine Theatergruppe im Gefängnis, gehen anderen kreativen Aktivitäten nach, aber vor allem Sport – Fußball, Basketball oder eben Laufen – leistet etwas, das in einer JVA sehr wichtig ist. „Er hilft, Kräfte zu kanalisieren“, sagt Wolf. „Man erlernt Sozialverhalten, lernt zu akzeptieren, dass an einem Tag mal ein anderer besser ist.“

In der Biografie der meisten Inhaftierten reiht sich eine negative Erfahrung an die nächste, nicht selten von Kindesbeinen an, mit dem Schlusspunkt Knast. Durch Sport erfahren manche zum ersten Mal in ihrem Leben Anerkennung für das, was sie tun. Beim Gefängnislauf bekommen die Sieger einen Pokal, die besten fünf Jacken vom Berlin-Marathon, Prestigeobjekte unter Läufern, und am Ende halten alle eine Urkunde in Händen, darauf die erreichte Zeit. Ehrenamtliche Streckenposten haben sie gestoppt.

Gefühl der Freiheit hinter Mauern

Durchhalten, hat Tolga vorhin erzählt, schaffen, was man schaffen will – das ist es, was ihn am Laufen fasziniert. Auch das Gemeinschaftsgefühl gefällt ihm, der Zusammenhalt in der Trainingsgruppe, die sich gegenseitig motiviert. Nicht mehr missen will er die Abwechslung vom Alltag, vom Stress durch die Enge und das Eingesperrtsein. Tolga arbeitet zwar, hat einen Job, acht Stunden, wie die meisten anderen in der JVA Tegel, aber das ist Verpflichtung, Pflicht, etwas ganz anderes als der Sport. „Wenn ich laufe“, sagt er, „fühle ich mich frei“.

Mehr als zwei Jahre seiner Strafe hat er hinter sich. „Ein Jahr liegt vor mir.“ Die Haftdauer der meisten Gefangenen in Berliner Anstalten liegt unter zwölf Monaten, bei 42 Prozent ist das laut Statistik so. Weswegen Tolga einsitzt, braucht er niemandem zu sagen, das gehört zu den Regeln beim Gefängnislauf. „Draußen“, sagt er nur, „hat man sich die Sachen, die man verbockt hat, immer schöngeredet.“ Die Erkenntnis kam ihm in der JVA Tegel.

Darum geht es schließlich, erklärt Detlef Wolf: „Defizite mit den Gefangenen besprechen und dann über Maßnahmen verhindern, dass das alte Verhalten wieder eintritt.“ Resozialisierung, Eingliederung in die Gesellschaft: „Im Grunde beginnt mit dem ersten Tag der Inhaftierung die Vorbereitung auf die Entlassung.“

Rund 3000 Menschen verbüßen in Berlin eine Haftstrafe. Der Gebäudekomplex in Plötzensee – die JVA mit angeschlossenem Krankenhaus und die Jugendstrafanstalt – hat beeindruckende Ausmaße. 620 Beschäftigte versehen dort ihren Dienst, etliche an diesem Nachmittag entlang der Strecke, erkennbar an den blauen Uniformen. Eine Gruppe von Beamten hat sich im Zielbereich versammelt, wo eine Band namens Plötzensee Allstars gerade aufdreht: „Sweet home Alabama“.

„Die Gesellschaft investiert viel“, sagt Wolf. Durchschnittlich 160 Euro werden für einen Gefangenen pro Tag an Kost und Logis fällig. Groß ist auch deshalb das Interesse des Staates, dass die Entlassenen nie wieder ins Gefängnis zurückkehren. „Wir wissen“, sagt Wolf, „dass Arbeit und Wohnung die wichtigsten Faktoren sind, um einen Rückfall zu verhindern.“ Sport mag nicht ganz so einflussreich sein. Doch Wolf sagt: „Er kann helfen, von den alten Beziehungen in andere gesellschaftliche Strukturen zu gelangen.“ Zum Beispiel durch Mitgliedschaft in einem Verein.

Wie viele derjenigen, die an diesem Nachmittag zwischen Mauern und Stacheldraht mitrennen, nach ihrer Entlassung und einer Zeit in Freiheit wieder hier landen, kann der stellvertretende Anstaltsleiter nicht abschätzen, weil er über keine verlässlichen Zahlen zu Rückfallquoten verfügt. „Wir erfassen das nicht“, sagt Wolf. „Das zu ermitteln, ist eher die Aufgabe der Kriminologie. Wenn die Gefangenen unsere Anstalt verlassen, geraten sie aus unserem Blickfeld.“ So viel ist immerhin bekannt: 60 Prozent der Berliner Inhaftierten sind vorbestraft. Zehn Prozent haben bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt. Knapp die Hälfte kommt auf fünf oder mehr Vorstrafen.

Die Plötzensee Allstars spielen „Knocking on Heavens Door“. Das Teilnehmerfeld hat sich stark gestreckt, immer häufiger kommt es zu Überrundungen. Tolga behauptet einen Platz im Mittelfeld, unterhält sich gerade mit einer Frau, die neben ihm läuft, eine Externe. Ganz vorn legt die Nummer 63 ein strammes Tempo vor, ein Interner. Interne, die in Führung liegen, dürfen nicht von Externen überholt werden. Noch so eine Regel beim Gefängnislauf. Die Hauptrollen sind klar verteilt.

Horst Milde und das Wettrennen in der JVA Plötzensee

Benedikt Morandi könnte das vermutlich: allen davonlaufen. Der Schweizer arbeitet in der Kunstszene, hatte am Vormittag einen Termin in einer Berliner Galerie. Am Nachmittag hat er sich an der JVA eingefunden, Tor I, ist durch die Sicherheitsschleuse wie jeder andere Besucher auch. Er hat Handy und Bargeld in Verwahrung geben müssen. Ein Beamter eskortierte ihn in den inneren Bereich der JVA.

Morandi nimmt normalerweise an Ultraläufen teil, in freier Wildbahn, absolviert 50 Kilometer und mehr. Seit 2008 startet er jedes Jahr beim Marathon, dem Original in Griechenland. „Der Gefängnislauf ist eine Supersache, weil er die Insassen auf eine gleichberechtigte Weise mit der Außenwelt in Kontakt bringt“, sagt der Baseler. Er ist vor wenigen Minuten locker ins Ziel getrabt. „In Darmstadt gibt es ja seit 2006 einen Gefängnis-Marathon“, sagt Morandi. Die JVA Oldenburg ging 2019 mit einem Wettkampf über 42,195 Kilometer an den Start. „Von dem Gefängnislauf in Berlin hat mir Horst Milde erzählt“, sagt Morandi. Wer lange Strecken rennt, wo auch immer auf der Welt, kennt Horst Milde, den Vater des Berlin-Marathons und Urheber anderer Wettkampfformate in der Hauptstadt.

Die Idee zum Gefängnislauf entstand 2013, als der frühere Marathon-Chef Berlins von einer Laufgruppe in der JVA Plötzensee erfuhr. Milde trainierte einmal mit, und nach einigen Gesprächen war klar: „Wir machen einen Lauf, bei dem Gefangene mit Leuten von außen zusammenkommen. Am 10. Oktober 2014 war es so weit.“

Es wurde ein Rennen nach den Regularien des Verbandes World Athletics. Die Strecke ist exakt vermessen, Wettkampfrichter überwachen das Geschehen. Liefe jemand einen Weltrekord, würde der offiziell anerkannt. An diesem Nachmittag fällt immerhin der Streckenrekord, aufgestellt 2014. Nummer 63 schafft die zehn Kilometer in 37:20 Minuten. Die alte Bestmarke lag bei 39:10.

Die Plötzensee Allstars spielen „The Lion sleeps tonight“. Auch Tolga hat es inzwischen geschafft, 55:13 Minuten, das gesteckte Ziel ist erreicht. Er reißt die Arme hoch. Er ist gelandet. „Ich wollte unter einer Stunde bleiben.“ Tolga schnauft, lächelt: „Nächstes Jahr würde ich gern wieder mitmachen.“ Wenn alles glattgeht, trägt er dann nicht mehr das grüne Trikot der JVA Tegel, sondern einen individuellen Sportdress. Er fühlt sich wieder frei – und ist es auch.