Pflegekräfte schlagen Alarm

Jetzt wollen sich die Notaufnahmen selbst retten

Ein Bündnis kämpft gegen die Misere in den Rettungsstellen an. Eine Umfrage zeigt: Die Situation wird sich weiter zuspitzen.

Eine Pflegerin in einem Krankenhaus
Eine Pflegerin in einem Krankenhausdpa/Fabian Strauch

Berlin - Spätschicht in der Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses, Berlin-Kreuzberg: Neue Patienten treffen ein, immer und immer wieder. Ein Rettungswagen nach dem anderen fährt vor. Tragen fehlen, um die Eingelieferten in die Behandlungsräume zu schieben, sie aufzunehmen, doch das ist längst nicht das einzige Problem. Inzwischen sind mehr als 50 Patienten zu versorgen. Drei Pflegekräfte müssen sich in dieser Schicht um sie kümmern. Sie sind aber erst einmal vollauf damit beschäftigt, einen Mann wiederzubeleben, Reanimation, höchste Priorität, alles andere muss warten. „Dadurch haben wir für eine gewisse Zeit eine Hirnblutung und einen Herzinfarkt übersehen“, sagt Lisa Einzmann.

Sie hatte an diesem Abend als Pflegefachkraft in dieser Rettungsstelle Dienst und erzählt die Geschichte, weil sie für die Misere der Notaufnahmen steht, in Berlin, deutschlandweit. Und weil sie von politischer Seite bisher kaum Unterstützung erfahren, die Beschäftigten, haben sie sich zu einer Initiative zusammengeschlossen: „Notaufnahmen retten“. Am Dienstag hat das bundesweite Bündnis von seiner Arbeit berichtet.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat gerade eine Expertenkommission eingesetzt, die eine groß angelegte Reform der Kliniklandschaft hierzulande anstoßen soll. 16 Wissenschaftler aus Medizin, Pflege, Ökonomie und Recht sind darin versammelt. Die Lage der Rettungsstellen zu verbessern, scheint dem SPD-Politiker besonders am Herzen zu liegen. Jedenfalls setzte sie Lauterbach bei einer Pressekonferenz am Montag auf seiner Prioritätenliste an Position eins. Schließlich sind die Rettungsstellen das wichtigste Einfallstor für die stationäre Versorgung. Die Pflegekräfte trauen allerdings den ministerialen Ankündigungen nicht. Sie sind enttäuscht von zu vielen Versprechungen der Vergangenheit, die nicht in die Tat umgesetzt wurden, haben sich deshalb organisiert und versuchen, die Defizite in Zahlen zu fassen.

Mehr als 400 Beschäftigte haben inzwischen an einer bundesweiten Umfrage teilgenommen. Ein erstes Zwischenergebnis liefern die Antworten von 135 Pflegekräften aus Berlin, befragt zwischen 21. Januar und 25. März. Der Befund ist eindeutig: 83 Prozent geben an, regelmäßig überlastet zu sein, bei 50 Prozent ist das in jeder zweiten Schicht so.

Dauerstress für Mitarbeiter der Rettungsstellen

Weil die permanente Ausnahmesituation die Mitarbeiter der Krankenhäuser stresst, stresst sie auch die Patienten, die auf eine krisenhafte Situation vielfach aggressiv reagieren. Nur sechs Prozent der Beschäftigten in Notaufnahmen erklärten, sie seien während des zurückliegenden Jahres von Übergriffen verschont geblieben, verbal, jedoch auch körperlich.

Insgesamt bis zu 25 Millionen Menschen werden in Deutschland pro Jahr von einer zentralen Rettungsstelle behandelt, rund 20 Prozent sind dort falsch aufgehoben, weil sie wegen ihrer Beschwerden eigentlich zum Hausarzt oder einem niedergelassenen Fachmediziner gehen müssten, deren Kapazitäten allerdings begrenzt sind. Die Notaufnahmen kompensieren somit ein Gesundheitssystem in akuter Schieflage. Finanziell entschädigt werden sie dafür nicht.

Das Vivantes Klinikum am Urban in Berlin Kreuzberg: permanente Ausnahmesituation für Mitarbeiter und Patienten.
Das Vivantes Klinikum am Urban in Berlin Kreuzberg: permanente Ausnahmesituation für Mitarbeiter und Patienten.www.imago-images.de

Louise Junge hat selbst in einer Rettungsstelle gearbeitet und Gesundheitsökonomie studiert. Sie engagiert sich im Bündnis „Notaufnahmen retten“ und sagt: „Im Durschnitt fallen 120 Euro pro Fall an, die pauschale Vergütung beträgt jedoch nur 40 Euro.“ Der wirtschaftliche Druck wird weitergereicht und kommt irgendwann bei den Patienten an. Overcrowding ist das neudeutsche Schlagwort, Englisch für Überbelegung. Die Mehrheit der Pflegekräfte will sich dafür nicht mehr in die Pflicht nehmen lassen. „In solchen Situationen bleibt das allerwichtigste unserer Pflegearbeit, Menschen sofort zu helfen, was unserem Berufsethos entspricht, ständig auf der Strecke“, sagt Lisa Einzmann stellvertretend für ihren Berufsstand.

Viele ihrer Kolleginnen haben daraus bereits die Konsequenzen gezogen. Laut der Umfrage der Initiative „Notaufnahmen retten“ arbeiten 51 Prozent bereits in Teilzeit, weil ihnen mehr für ihre Gesundheit und ihr Privatleben nicht zuträglich erscheint. Was zunächst paradox erscheint, hängt mit dem Arbeitsethos in der Pflege zusammen. 54 Prozent würden aufstocken. Allerdings nur, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Falls nicht, können sich lediglich 17 Prozent vorstellen, auch noch in fünf Jahren ihrem Job nachzugehen.

Die Rettungsstelle am Vivantes-Klinikum in Berlin-Neukölln.
Die Rettungsstelle am Vivantes-Klinikum in Berlin-Neukölln.

Ohnehin wird die Pflege innerhalb des nächsten Jahrzehnts einen großen Exodus erleben. Die Generation der Babyboomer verabschiedet sich schrittweise in den Ruhestand. Viele ihrer Vertreter in der Pflege werden sich deshalb nicht bis zur Rente durchbeißen, weil sie Angst davor haben, Fehler zu machen, die Patienten zu gefährden, die persönliche Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Das sind laut Umfrage von „Notaufnahmen retten“ die zentralen Gründe, den Beruf aufzugeben, der eigentlich als Berufung angesehen wird.

Kampflos wollen sie aber nicht aufgeben. Mit der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin haben die Aktivisten eine starke Verbündete. Gemeinsam fordern sie mehr Personal nach einem Bedarf, der mit zuverlässigen Instrumenten ermittelt wird. Sie fordern ein besseres Verhältnis von Pflegekraft zu Patient, unter anderem. Und sie fordern von der Politik, endlich aktiv zu werden.

Sie haben sich bereits mit Vertretern der Fraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus ausgetauscht, mit deren gesundheitspolitischen Sprechern: mit Bettina König (SPD), Catherina Pieroth (Grüne), Florian Kluckert (FDP) und Christian Zander (CDU). „Wir haben viel Unterstützung erfahren“, sagt Lisa Einzmann. Was am Ende davon in reale Politik umgesetzt werden könne, werde sich jedoch erst zeigen müssen.

Ates Gürpinar vertritt die Linke in Fragen der Krankenhäuser im Bundestag. Er hat unlängst mit Pflegekräften von Rettungsstellen gesprochen. Dabei ist ihm noch einmal bewusst geworden: „Die Probleme, die im gesamten Gesundheitswesen bestehen, verdichten sich in den Notaufnahmen. Der Öffentlichkeit ist das bisher zu wenig bewusst.“ Mitten in einer Pandemie. Komisch, aber wahr.