Berlin - Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – kognitive Verzerrung. Und das kam so: Ein Bekannter erzählte mir neulich, dass die Supermärkte bei ihm in der Gegend keinen Kaffee mehr hätten. Ich dachte mir zunächst nichts dabei; der Bekannte wohnt in Pankow Outback, am Rand der Zivilisation, ein Muckefuck-Zoni. Und dann auch noch ein Zugereister. Zur Vorsicht bemühte ich trotzdem eine Suchmaschine im Internet. Schließlich liest man seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine viel von einem hiesigen Mangel an lebenswichtigen Dingen, vor allem Sonnenblumenöl, Mehl und Vernunft. Ich gab „Krieg“ und „Kaffee“ ein und landete digital – im Jemen.

Ich hatte ganz vergessen, dass im Jemen Kaffee angebaut wird. Bekannt war mir, dass dort ein Krieg tobt, unterstützt auch von Katar. Mit Aggressoren macht man keine Geschäfte, doch zum Glück vertreibt Katar nur Gas und Öl, keinen Kaffee. Und was nun das Problem mit dem Jemen betraf, so entschloss ich mich zu einem Hamsterkauf, suchte einen Discounter auf und sicherte mir dort die letzten drei Pakete einer Billigmarke zum Vorzugspreis von 3,95 Euro das Pfund. Herkunftsland: Vietnam.
Am liebsten hätte ich mich vor der Kassiererin in Demut tief verbeugt, wurde aber durch ihr offen zur Schau gestelltes Lächeln in eine selbstdiagnostische Krise gestürzt. Zunächst befürchtete ich, dass ich unter der affektbesetzten Vorstellung leide, minderwertig zu sein, konnte diesen Anfangsverdacht jedoch bald ausschließen.
Inzwischen leitet mich ja meine Suchmaschine zügig an wissenschaftliche Artikel weiter und erspart mir den Umweg über Frauenzeitschriften und Randaspekte wie: „Sechs Gründe, warum Kaffee gut für Bauch, Busen, Po ist“. Wobei mir das auch eine spannende Frage zu sein scheint. Jedenfalls kam ich sofort mit Karestan Koenen in Kontakt. Die Professorin für Psychologie an der Harvard T.H. Chan School of Public Health erläuterte schlüssig, dass ich Angst vor Säbelzahntigern habe. Also indirekt, schließlich wird Frau Koenen wissen, dass ich eher selten mit prähistorischen Raubtieren in Berührung komme.
Mit der Evolution dagegen fast täglich. Ich habe gehört, dass sie pfiffig sei, meistens. Bei Kaffeeknappheit scheint sie dafür zu sorgen, dass sich mein Gehirn nicht mehr vernünftig mit sich selbst unterhält. Einerseits will mich die Amygdala, das emotionale Zentrum, aus der Gefahrenzone des kriegsbedingten Koffeinmangels herausbringen. Andererseits möchte der präfrontale Kortex, der alte Zauderer, erst einmal mit dem Rest der Rasselbande in meinem Kopf die Sache ausdiskutieren. Die Amygdala ruft: „Hört auf zu quatschen, ihr Spinner!“ Ich bekomme Panik und renne los.
Hamsterkauf: Wenn alle plötzlich Kaffee wollen
Das sind jetzt nicht exakt die Worte, die Professorin Koenen benutzte, aber dem Sinn nach wird sie es so gemeint haben. Während ich also losrenne, schaue ich noch kurz, was die anderen um mich herum veranstalten, und wenn die alle Kaffee kaufen wie die Geisteskranken, mache ich das auch. Selbst wenn mein präfrontaler Kortex resignierend den Kopf schüttelt und murmelt: „Ich dachte, wir wären Teetrinker.“ Bildhaft gesprochen.


