Judenhass in Berlin

Antisemitismus: Wie gefährlich es ist, in Berlin mit einer Kippa unterwegs zu sein

Täglich werden in Berlin mindestens zwei judenfeindliche Vorfälle registriert. Der Verein RIAS präsentiert neue Zahlen, die von Nancy Faesers Wahrnehmung abweichen.

In Berlin kann es gefährlich werden, wenn man mit einer Kippa unterwegs ist.
In Berlin kann es gefährlich werden, wenn man mit einer Kippa unterwegs ist.Benjamin Pritzkuleit

Zum Alltag in Berlin gehört Judenhass. Mehr als zweimal am Tag gibt es in der Stadt einen antisemitischen Vorfall. Und nicht selten ist das physische Gewalt.

So wurden im November in Spandau zwei Männer von einer Gruppe junger Erwachsener angegriffen. Sie warfen den beiden vor, „Free Israel“ gerufen zu haben.

Die Gruppe jagte die beiden dann durch einen Park und schlug sie. Erst als Passanten aufmerksam wurden, ließen die Täter ab. Beide kamen ins Krankenhaus. Ähnliches hatte es schon ein Jahr zuvor in Spandau gegeben. Damals wurde ein Mann krankenhausreif geprügelt, weil er sich geweigert hatte, „Free Palestine“ zu rufen.

Insgesamt zählte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) im vergangenen Jahr 21 solcher Angriffe. Hinzu kamen 31 gezielte Bedrohungen. Das geht aus dem Jahresbericht hervor, den RIAS am Mittwoch veröffentlichte.

Demnach registrierte die Recherche- und Informationsstelle im vergangenen Jahr 848 antisemitische Vorfälle physischer und verbaler Art. Das sind zwar weniger als im Vorjahr. Allerdings liegen die Zahlen, trotz der Schwankungen aus Sicht von RIAS auf einem hohen Niveau. Zudem liegt die Zahl der bekannt gewordenen Gewaltvorfälle auf dem Niveau des Vorjahres. In den Zahlen enthalten sind viele „niedrigschwellige“ Vorfälle, die die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht überschritten haben.

Für Judenfeindlichkeit gebe es in unserer Gesellschaft „keinen Platz“, twitterte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am 24. April 2022 als Reaktion auf eine israelfeindliche Versammlung in Neukölln. „An antisemitische Beschimpfungen dürfen wir uns niemals gewöhnen, egal, von wo und wem sie kommen.“ Rias Projektleiter Benjamin Steinitz sieht das anders: „Antisemitismus nimmt in Berlin sehr wohl seit Jahren sehr viel Platz ein“, sagte er bei der Vorstellung des Berichts. Zwischen 2017 und 2022 habe Rias 5845 strafbare und nicht strafbare antisemitische Vorfälle dokumentiert. „Der Tweet der Bundesinnenministerin verweist auf eine Diskrepanz in der Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen auf der einen Seite und der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite.“ Eine solche Behauptung könne Betroffene von Antisemitismus verstören.

Kippa entrissen, wegen eines Gebetsmantels angepöbelt

RIAS dokumentierte insgesamt 99 Vorfälle, die sich von Angesicht zu Angesicht ereigneten. Bei den bekannt gewordenen 21 physischen Angriffen wurden Juden oder Personen, die laut RIAS „zuvor antisemitisch markiert wurden“, geschlagen oder angespuckt. Auch neun der 24 Bedrohungen, in denen Betroffene mit unmittelbarer Gewaltandrohung konfrontiert waren, zählen hierzu.

68-mal gab es Fälle verletzenden Verhaltens, bei denen Personen unter anderem als „Jude“ beschimpft oder abwertend stereotypisiert wurden. Einen solchen Fall gab es im Februar in Mitte. Ein Passant spuckte ohne weiteren Kommentar eine Frau an, die einen Beutel trug, auf dem ein Davidstern abgebildet war.

Im August kam es in Mitte zu einem antisemitischen Angriff auf einen an der Ampel wartenden Radfahrer, der eine Kippa trug. Er wurde von einer ihm unbekannten Person bedrängt und beleidigt. Als er versuchte, sich zur Wehr zu setzen, wurde er bedroht, erneut beleidigt, und ihm wurde die Kippa entrissen. Erst durch die Hilfe einer dritten Person gelang es dem Betroffenen schließlich, sich in Sicherheit zu bringen.

Im September gab es einen Fall in Mariendorf: Ein Rabbiner war mit seinem Sohn unterwegs. Die Zizit, die Schaufäden an seinem Gebetsmantel, waren zu sehen, und er telefonierte auf Hebräisch. Plötzlich wurde er von einem Mann als „Jude“ bezeichnet, angerempelt und beschimpft. Einer Zeitung sagte der Rabbiner danach, dass er sich in Deutschland als Jude nicht mehr sicher fühle.

Antisemitismus hat viele Erscheinungsformen. Das können Bagatellisierungen der Schoah sein oder Täter-Opfer-Umkehrungen. Aus Sicht von RIAS gibt es den Antisemitismus in allen politisch-weltanschaulichen Milieus, und er reicht bis in die politische Mitte. Das Gleiche gilt für antisemitische Verschwörungsmythen und Formen des israelbezogenen Antisemitismus. „Antisemitismus fungiert so mitunter als verbindendes Element zwischen verschiedenen, sich sonst in keiner Weise nahestehenden politischen Milieus“, heißt es in dem Bericht.

Judenhass auch im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg

Auch im Internet werden Jüdinnen und Juden immer wieder angefeindet, beschimpft und bedroht. Ein jüdischer Facebook-Nutzer wurde dort wiederholt als „Judenschwein“ beschimpft. Einer jüdischen Nutzerin wurde als „Maßnahme gegen Judenhass“ empfohlen, dass Jüdinnen und Juden sich „verziehen“ sollten. 2022 stellten Vorfälle, die sich im Internet ereigneten (483) wie im Vorjahr die Mehrzahl dar. Der Großteil der antisemitischen Anfeindungen im Internet richtete sich gegen jüdische und israelische Institutionen.

Wie hoch die Anpassungsfähigkeit von Antisemitismus ist, zeigen zahlreiche dokumentierte Vorfälle, die sich auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beziehen. So kritisierte jemand unter dem Post einer jüdischen Organisation die mangelnde Solidarität mit Russland: „Als Dankeschön für die Befreiung hetzen viele westliche Juden jetzt zum Krieg gegen die Russen (Befreier) auf.“

Andere Kommentatoren warfen den Angesprochenen dagegen eine unzureichende Unterstützung der Ukrainer vor. In einer E-Mail an eine israelische Einrichtung kommentierte der Absender: „(…) ich bin empört, dass Sie Hilfe für die Ukrainer verweigern. Gerade Sie und Ihr Volk müssten doch wissen, was es heißt ungerechter Gewalt hilflos ausgesetzt zu sein. Ihr Verhalten ist asozial.“ Auch Verschwörungsmythen wurden geäußert, wonach Juden für den Krieg verantwortlich oder dessen Profiteure seien.

Die Konzerte von Roger Waters würden leer bleiben

Wie schon im vergangenen Jahr seien RIAS die polizeilich erfassten antisemitischen Straftaten nicht zur Verfügung gestellt worden. Steinitz geht deshalb davon aus, dass die Gesamtheit antisemitischer Vorfälle in Berlin deutlich höher liegt als in dem Bericht dargestellt.

Schätzungsweise 80 Prozent der antisemitischen Übergriffe werden nicht bekannt. Das dürften im digitalen Raum noch mehr sein, schätzt Berlins Antisemitismusbeauftragter Samuel Salzborn. Es brauche es eine Dunkelfeldstudie in diesem hochkomplexen Feld.

Wegen des Dunkelfeldes sei es wichtig, dass es die Meldestellen gebe, an die sich Betroffene wenden können, sagte Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde. Mit Blick auf Faesers Zitat sagte er: „Wenn Antisemitismus in Deutschland und Berlin keinen Platz hätte, dann würden 99 Prozent der Plätze beim Roger-Waters-Konzerts leer bleiben.“