Julius H. Schoeps hat einen Ordner, in dem er die üblen Briefe abheftet. Die Beleidigungen, die Bedrohungen, den Antisemitismus. Er sagt, er mache sich nicht viel aus diesen Briefen, nur eine Sache falle ihm auf: „Die Leute schreiben mit Adressen.“ Sie überschütten den Historiker ganz offen mit ihrem Judenhass. Micha Brumlik hat die Briefe, in denen er bedroht wurde, immer der Polizei gegeben. An den ersten, den er bekam, erinnert sich der Erziehungswissenschaftler noch gut. „Wenn ihr wüsstet, wie wir euch hassen“, so habe er begonnen.
Schoeps ist 80 Jahre alt, Brumlik ist 75. Beide sind am Dienstagabend in die Jüdische Gemeinde in der Fasanenstraße gekommen, um über die Frage zu sprechen: „Kann man im heutigen Deutschland als Jude noch leben?“ Mit dem Abend beginnt eine neue Diskussionsreihe zum Antisemitismus, veranstaltet von der Gemeinde, dem Förderkreis des Denkmals für die ermordeten Juden Europas und der Moses-Mendelsohn-Stiftung. Lea Rosh eröffnete die Diskussion, unter anderem mit einem Zitat aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD in Berlin: „Der Schutz jüdischer Einrichtungen wird garantiert.“
Kann man in einem Land, in dem das garantiert werden muss, leben? Die beiden Männer auf dem Podium sind Söhne von aus Deutschland vertriebenen Juden. Schoeps wurde im schwedischen Exil geboren, die Familie kehrte nach Kriegsende zurück, „um ein neues Deutschland aufzubauen“, sagt er, und den Sohn hier zur Schule zu schicken. In Deutschland lebte eine Tante, die hier versteckt den Holocaust überlebt hatte, aber nicht darüber sprach. Brumlik kam in Davos zur Welt, seine Eltern waren in die Schweiz geflohen, nach dem Kriegsende sah sein Vater eine Chance, sich in Frankfurt am Main ein neues Leben aufzubauen. Er erinnere sich bis heute an den Schock, aus der „Heidi-Bergwelt“ der Schweiz in die deutsche „Trümmerwüste“ zu kommen, sagt Brumlik.

Der Antisemitismus der Nachkriegsgesellschaft
In der Volksschule flog Schoeps aus dem evangelischen Religionsunterricht, weil der Lehrer keinen Juden im Unterricht haben wollte. Brumlik erinnert sich daran, wie ihn ein Mitschüler nach einem gegen ihn verlorenen Spiel als „Jude, Jude“ titulierte. Viel später war er bei den Eltern eines anderen Freundes zum Essen eingeladen, der Vater sagte, Brumlik erinnere ihn an etwas. An diesen Film, „Jud Süß“. Den antisemitischen Propagandafilm der Nazis. Als er gesagt habe, dass das wohl daran läge, dass er ein Jude sei, sei es dem Gastgeber furchtbar peinlich gewesen, erzählt Brumlik.
In der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in der beide aufwuchsen, studierten, als Akademiker Karriere machten, habe „immer und überall latenter Antisemitismus“ geherrscht, sagt Julius H. Schoeps. Die Professoren an den Universitäten waren größtenteils ehemalige Nationalsozialisten, „und das war auch allen bekannt“, so Brumlik. Schoeps bekam mal von einem Kollegen erklärt, die deutsch-jüdische Geschichte sei nicht Teil der deutschen Geschichte. In Teilen der linken Studentenbewegung, die gegen die alten Professoren aufbegehrte, war Hass auf Israel verbreitet.
Micha Brumlik, aufgewachsen in einer zionistischen Familie, zog als junger Mann für zwei Jahre nach Israel und trat später aus seiner Partei, den Grünen, aus, als die Israel keine Luftabwehrraketen liefern wollten. Die beiden Männer erzählen nüchtern aus ihren Leben, gelassen, aber es wird klar, wie kompliziert es immer blieb.
Mit Kippa in Neukölln beschimpft
„Bin ich Teil des Ganzen oder nicht?“, diese Frage habe ihn sein Leben lang umgetrieben, sagt Julius H. Schoeps. Inzwischen bezeichne er sich als „Jude, aber mit christlicher Denkstruktur“, geprägt durch ein akademisches Leben in Deutschland. Micha Brumlik sagt, er sei „richtig gern“ deutscher Staatsbürger im Sinne des Grundgesetzes, aber ethisch und religiös Jude.
Vor ein paar Jahren habe er mal vergessen, seine Kippa abzunehmen, als er die Synagoge verließ, erzählt er dann noch. In Neukölln beschimpften ihn Männer auf der Straße.
Solange der Rechtsstaat funktioniert, kann man in Deutschland leben, sagt Schoeps, und schließt an, dass ihm die Wahlergebnisse der AfD Sorge bereiteten. Es gebe eine Art Motto in seinem Leben, es laute: Es ist alles zu jeder Zeit an jedem Ort möglich.
In den nächsten Diskussionsrunden soll die Reihe ergründen, was aktuell in Deutschland und Berlin möglich ist – es wird um Antisemitismus im Kulturbetrieb, unter Linken oder auf dem Schulhof gehen.



