Die Frau unter dem Galgen blickt starr und stumm auf den vor ihr baumelnden Strick. Der Schatten ihrer weißen Haube verdeckt das Gesicht. Um sie herum hält die Menge mit ihren erhobenen Fahnen einen Augenblick inne. In ihrer rot-weißen Tracht braucht die als Dienstmagd aus der Fernsehserie „The Handmaid’s Tale“ verkleidete Demonstrantin keinen Lautsprecher und kein Banner. Jeder, der an diesem Samstagabend an dem Galgen in der Tel Aviver Kaplanstraße vorübergeht, versteht ihre Botschaft.
Seit Januar schon sind Woche für Woche Hunderte Israelinnen mit rotem Gewand, weißer Haube und gesenktem Blick Teil der Massenproteste in den Straßen Tel Avivs, Haifas und anderer Städte. Die als Seriendienstmägde verkleideten Demonstrantinnen beziehen sich auf den dystopischen Roman „Der Report der Magd“ der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood.
Frauen als Gebärmütter und dem Mann nach fundamentalistisch-biblischer Lesart in einer religiös verbrämten Militärdiktatur untergeordnet – für die Frauen ist ihr stiller Protest kein verspäteter Verkleidungsspaß zum fröhlich-ausgelassenen Purim-Fest, sondern Ausdruck tiefer Sorge um die Zukunft ihres Landes. Es ist die Angst vor einer Zukunft, wie sie nach Ansicht der Protestierenden von der rechtsreligiösen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit der höchst umstrittenen Justizreform angestrebt wird.
In etwa 150 israelischen Städten und Orten haben am vergangenen Wochenende nach Angaben der Protestorganisatoren mehr als 450.000 Menschen erneut gegen das Gesetzesvorhaben und die Regierung demonstriert. Obgleich Netanjahu am Montag zuvor eine vorläufige Aussetzung der angestrebten Justizreform angekündigt hatte, machten viele Demonstrierende deutlich, dass für sie nur ein endgültiger Stopp der Justizreform die Proteste unterbrechen werde.
Den laufenden Vermittlungsbemühungen von Präsident Jitzchak Herzog erkennen nur wenige auf beiden Seiten Aussichten auf einen zufriedenstellenden Kompromiss zu. Kritik zahlreicher namhafter Vertreter aus Israels Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und des Militärs an der Justizreform wurde zuletzt auch verstärkt aus dem Ausland – insbesondere aus den USA – aufgegriffen.
Tel Aviv: Protestschild mit der Aufschrift „Biden, hilf uns!“
„Demokratie! Demokratie!“, ruft die Menge auf der Kaplanstraße immer wieder. Nach Medienangaben sind es mehr als 170.000 Menschen allein in Tel Aviv. Sie sind mit Tausenden blau-weißen Nationalfahnen gekommen. Etliche schwenken auch Regenbogenflaggen, einzelne rote, schwarze, rosafarbene sowie Palästina-Fahnen. An diesem Abend sind erstmals auch etliche Demonstrierende mit amerikanischen Flaggen gekommen. Einer trägt ein Protestschild mit der Aufschrift „Biden, hilf uns!“.

Der US-Präsident hatte Kritik an der übereilten Durchsetzung der Justizreform geäußert und dass ein Besuch Netanjahus in Washington „nicht in nächster Zeit“ stattfinden werde. Netanjahu entgegnete bei Twitter, Israel treffe Entscheidungen nicht auf Druck aus dem Ausland hin, „auch nicht von besten Freunden“. Itamar Ben-Gvir, Minister für die Nationale Sicherheit Israels von der rechtsextremen Partei Otzma Jehudit, dem auch die Polizei unterstellt ist, schob nach: „Wir sind kein weiterer Stern auf der US-Flagge.“ Die Reaktionen machen deutlich, dass die Beziehungen der traditionell eng verbundenen Länder auf einem Tiefpunkt angekommen sind.
Die Protestierenden drängen mit weiß-blauen Nationalfahnen in Richtung der Azrieli Towers und des Ayalon Highways, der Hauptverkehrsachse im Zentrum Israels. Anfang vergangener Woche hatten sich ausgehend von hier die Ereignisse überschlagen. Nachdem bekannt geworden war, dass Netanjahu seinen Verteidigungsminister Joaw Galant entlassen würde, waren in der Nacht von Sonntag auf Montag Zehntausende auf die Straße gegangen.
Als erster ranghoher Likud-Politiker hatte der ehemalige Generalmajor eine vorübergehende Aussetzung der umstrittenen Justizreform gefordert. Netanjahu hatte zuvor bekräftigt, sie noch vor dem Pessach-Fest gegen alle Widerstände durchpeitschen zu wollen. Nach Ansicht seiner Gegner geht es ihm bei der geplanten Schwächung des Höchsten Gerichts vor allem darum, seinen eigenen Machterhalt zu sichern. Der Ministerpräsident ist weiter wegen Korruption und Vorteilsnahme im Amt angeklagt.
Tausende Demonstrierende versammelten sich darauf auf der Autobahn. Einige schleppten Holzpaletten auf die Fahrbahn und steckten sie in Brand. Auf dem Ayalon Highway entlud sich der Zorn vieler Israelis, der sich seit Wochen angestaut hatte. Nachdem am Morgen darauf Universitäten, Einkaufszentren und Kindergärten ihre Schließung ankündigten und der Dachverband der Gewerkschaften Histadrut sich mit einem Generalstreik anschloss, der auch den internationalen Flughafen Ben Gurion lahmlegte, lenkte Netanjahu am Abend ein. „Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen“, sagte er in einer Fernsehansprache.
Netanjahu: Durch Dialog einen Bürgerkrieg verhindern
Die Justizreform wird damit frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Wenn eine Möglichkeit bestehe, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu verhindern, würde er diesem Zeit einräumen, sagte Netanjahu.
Die Protestierenden nahmen die Verschiebung der Reformpläne jedoch keineswegs als Zugeständnis auf. Ihr Zorn richtet sich nicht nur gegen das Gesetzesvorhaben, das lediglich aufgeschoben wurden, sondern auch gegen ein Zugeständnis, das Netanjahu seinem Koalitionspartner Ben-Gvir machte. Der Polizeiminister, der 2007 wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer Terrorgruppe verurteilt wurde, erhielt die Führungsposition über eine „Nationalgarde“. Die Regierung beauftragte am Sonntag die Bildung einer neu aufgestellten Einheit parallel zu Polizei und Militär.
Auf der Kaplanstraße tragen am Samstagabend etliche Protestschilder mit Fratzen Ben-Gvirs. Eine Gruppe Demonstrierender hat sich schwarze Uniformen gebastelt und marschiert im Gleichschritt mit Sturmhauben und Polizeihauben durch die Menschenmenge. Nicht weit davon singt eine Formation in Rosa gekleideter Trommler: „Wir haben keine Angst!“ Das Stakkato ihrer Trommelschläge gibt seit Wochen den Herzschlag der Demonstranten vor.
In den vergangenen Tagen bestimmten Fernsehbilder von Reiterstaffeln und Wasserwerfern, die Demonstrierende in Tel Aviv auseinandertrieben, erneut die Nachrichtensendungen. Polizeieinheiten gerieten auch mit Gegendemonstranten aneinander. Tausende waren in Jerusalem und Tel Aviv zur Unterstützung der Regierung und ihrer Reformpläne auf die Straße gegangen. Beide Seiten tragen die blau-weißen Fahnen mit dem Davidstern. Beide stimmen immer wieder die Nationalhymne an. „Solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, 2000 Jahre alt, ein freies Volk zu sein, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“
Nicht nur auf den Straßen Tel Avivs und Jerusalems brennt es. Im Westjordanland spitzten sich die blutigen Zusammenstöße zwischen dem israelischen Militär, Siedlern und Palästinensern seit Jahresbeginn zu. Terroranschläge und darauffolgende Razzien israelischer Soldaten schüren schon seit Wochen die Angst vor einer neuen Intifada. Die aktuellen Luftschläge in Syrien bestimmen die Schlagzeilen, für die Damaskus Israel verantwortlich macht. Die Raketenangriffe sollen Luftwaffenstützpunkten gegolten haben, wo neben Hisbollah-Milizen auch iranisches Militär stationiert sein soll. Während Jerusalem eine Stellungnahme ablehnt, droht Teheran mit Vergeltung.
Nichts deutet darauf hin, dass sich die innen- und außenpolitische Lage in absehbarer Zeit entschärfen könnte. In der Vergangenheit hatte die Angst durch eine Bedrohung des jüdischen Staats die tief gespaltene israelische Gesellschaft immer wieder zusammenrücken lassen. Derzeit scheint jedoch selbst sie die Gräben nicht mehr zu überbrücken.






