Essay

Christoph Hein: „Habe Sorge, dass dieser Verteidigungskrieg den Dritten Weltkrieg auslöst“

Der Schriftsteller antwortet auf die Fragen: Was wird kommen? Was wird von uns bleiben? Ein exklusiver Beitrag für die Berliner Zeitung. 

Christoph Hein hat in der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt eine Rede über die Zukunft Deutschlands und der Welt gehalten.
Christoph Hein hat in der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt eine Rede über die Zukunft Deutschlands und der Welt gehalten.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Am Abend des 3. April 2023 hielt der Schriftsteller Christoph Hein in der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt eine Rede zum Thema: „Was steht Deutschland und der Welt in den nächsten Jahrzehnten bevor?“. Anlass war die Veranstaltung „Sachsen-Anhalt Premium“, die an die Erstgründung des Landes vor 76 Jahren erinnern soll. Hein, 78, einer der berühmtesten deutschen Schriftsteller, hat der Berliner Zeitung seine Rede exklusiv zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. 


Was steht Deutschland und der Welt in den nächsten Jahrzehnten bevor?

Es ist eine Frage, die uns beschäftigt, aber bei der wir wenige Kenntnisse haben und ebenso unwissend und beschränkt sind wie der dänische Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr, der – befragt, was kommen wird – nur sagen konnte: „Prognosen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“

Hilfreich ist möglicherweise ein Blick in die Vergangenheit, denn auch unsere Vorfahren wussten nichts von ihrer Zukunft. Wir aber wissen, was für sie folgte, und wir können vielleicht aus dem, was sie zu Lebzeiten für die kommenden Zeiten annahmen, vermuteten, ersehnten oder befürchteten, Aufklärung für unser, uns unbekanntes, verborgenes Futurum erhalten. Freilich mit einer Fortschreibung der Vergangenheit allein bekommen wir keinen Blick auf die Zukunft. Doch der Blick zurück kann den Blick nach vorn schärfen.

Was wird kommen?, lautet die Frage. Und unabweislich dazugehörig ist die andere Frage: Was bleibt? Was bleibt von uns?

Was kommen wird, was wir unzweifelhaft erleben werden oder nach unserem Tod uns folgen wird, das sind Kinder. Es werden auch in der nächsten und in der fernen Zukunft Kinder geboren, es werden junge Leute aufwachsen, Mädchen und Jungen, die die Älteren begeistern oder irritieren, die viel leichter und kenntnisreicher mit der modernsten Technik umgehen können, die ihren Eltern oder Großeltern, die sie einst in die Welt einführten, nun die allerneueste Welt erklären können, ihnen helfen, sich in der sie verwirrenden digitalen Welt zurechtzufinden. Kinder werden – wie in den Tausenden von Jahren zuvor – das Glück der jungen Paare sein. Als ich in den Vereinigten Staaten arbeitete, hörte ich den Satz: „Warum werden immer wieder Kinder geboren?“ Und hörte die Antwort: „Damit die Dreijährigen nicht aussterben.“ Ein sehr wahrer Satz, denn gerade die Dreijährigen mit ihren unaufhörlichen Wieso-Weshalb-Warum-Fragen entzücken Eltern und Großeltern.

Es gibt Mitbürger, die es vorziehen, statt der Kinder sich lieber Maserati zu leisten

Christoph Hein, Schriftsteller

Um bei dem Thema zu bleiben, was unsere Gesellschaften, unsere Staaten in der nächsten Zukunft zu leisten haben, das ist eine gerechtere Verteilung der Lasten. Es gibt Eltern mit zwei oder drei Kindern, es gibt Ehepaare, denen die Natur dieses Glück verwehrte, und es gibt Mitbürger, die es vorziehen, statt der Kinder sich lieber einen Bugatti oder Maserati zu leisten, was einen vergleichbaren materiellen Aufwand erfordert wie die Fürsorge für drei Kinder.

Christoph Hein in seinem Haus in Havelberg.
Christoph Hein in seinem Haus in Havelberg.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Ein Maserati ist gewiss ein zwar kostspieliges und luxuriöses Vergnügen, allerdings ist es ein privater Spaß, ohne jede gesellschaftliche Bedeutung, von keinerlei Interesse für die Gesamtgesellschaft. Kinder dagegen haben allergrößte Bedeutung für die Gesellschaft und den Staat. Für ihre Ausbildung gibt es eine Schulpflicht, für deren hauptsächliche Kosten seit vielen Jahrzehnten die gesamte Gesellschaft aufkommt. Die Eltern der Kinder jedoch werden an diesen Kosten beteiligt, und das sind für die gesamte Schulzeit eines Kindes allein für all jene Ausgaben, die im Umfeld der Schule zu leisten sind, 130.000 Euro.

Und dies ist nur ein kleiner Teil dessen, was sie für ihre Kinder aufzubringen haben, ein Viertel oder gar nur Fünftel, denn sie haben ihren Kindern für fast zwei Jahrzehnte ein Zimmer zu stellen, haben sie zu ernähren, zu bekleiden, ihnen eine berufliche Ausbildung oder ein Studium zu ermöglichen, und – nicht zu vergessen – haben für Geschenke zu den Geburtstagen und zu Weihnachten zu sorgen, sowie auch – hoffentlich in Maßen – für Schokolade und Gummibärchen.

Familien geraten in Deutschland in Armut, weil sie Kinder haben. Das muss der Staat ändern.

Christoph Hein, Schriftsteller

Auch bei einem Studium der jungen Leute gibt es kleinere staatliche Hilfen. Warum aber müssen jene Personen, die Kinder aufziehen, allein für so viele und hohe Kosten dieser vorrangigen Aufgabe des Staates aufkommen? Wieso haben sie allein diese Last zu schultern? Wieso bezahlen nur sie jene Kosten, für die Kinder und die Jugendlichen nicht aufkommen können?

Wenn Teile der Bevölkerung noch kein Einkommen haben können, weil sie noch zu jung sind, wieso kommt dann dafür nicht die gesamte Gesellschaft auf? Wieso haben allein die Eltern der Kinder alle möglichen Geldausgaben für die Minderjährigen zu tragen, so dass vor einer Reise der ganzen Familie, vor dem Besuch eines Schwimmbads oder eines Zoos zuvor genau durchzurechnen ist, ob sich die Familien dies leisten kann?

Familien geraten in Deutschland in Armut, weil sie Kinder haben. Besonders betroffen sind Alleinerziehende mit Kindern, und es sind vor allem Frauen, die durch ihre Kinder in so verheerende Armutsfallen geraten, dass sie nur eingeschränkt und mangelhaft für sich selbst und für ihre Kinder aufkommen können. Sie sind nicht in der Lage, ihnen eine gute, eine gediegene Ausbildung zu ermöglichen, so dass diese Kinder benachteiligt ins Leben starten, durch vielfältige Defizite eingeschränkt, was ihre Leistungen in der Schule wie in der späteren Lehre beeinträchtigt, woran weder der Wirtschaft noch dem Handwerk gelegen sein kann.

Der Geburtenrückgang, der mit deutscher Gründlichkeit registriert wird, stellt die weitere Existenz der Nation in Frage.

Christoph Hein, Schriftsteller

Das sollte, das muss der Staat alsbald ändern. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus nationaler Verantwortung, aus einem ganz egoistischen Eigeninteresse. Der Staat und die gesamte Gesellschaft brauchen den Nachwuchs, brauchen möglichst gut ausgebildete Jugendliche, um nicht die gesamte Wirtschaft zu gefährden. Nahezu in jedem Beruf, in jeder Berufsgruppe fehlen derzeit Lehrlinge oder Neuzugänge und einem Viertel der kleinen Betriebe droht daher Insolvenz. Der Geburtenrückgang, der in unserem Land mit deutscher Gründlichkeit registriert wird, stellt die weitere Existenz der Nation in Frage. Dafür braucht es dringend andere Gesetze, Gesetze, die diese Lasten gerechter verteilen. 

Ich denke, jene Paare, denen die Natur den Kinderwunsch durchkreuzte, werden dafür Verständnis haben. Und der Maserati-Fahrer wird vielleicht unwillig und empört reagieren, aber er wird es hinzunehmen haben, denn der Staat muss reagieren, da allüberall Arbeitskräfte fehlen und Deutschland ohne die Migranten und Zuwanderer bereits heute in einer fatalen Zwangslage wäre.

Es werden nun gezielt Fachkräfte aus dem Ausland angesprochen und angeworben, und vor wenigen Tagen wurde von der Regierung ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht. Gut ausgebildeten Spezialisten und Akademikern soll der Weg nach Deutschland erleichtert werden.

An der Freiheitsstatue prangt der Satz, dass das Land alle Flüchtlinge aufnimmt. Doch heute liest sich dieses stolze Versprechen wie Hohn und Spott.

Christoph Hein, Schriftsteller

Im vorigen Jahrhundert waren es die Vereinigten Staaten, die diesen Weg einschlugen. Das Land, das einst an seinem Wahrzeichen, der Freiheitsstatue, stolz verkündete: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren. Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen, hoch halte ich mein Licht am goldenen Tor!“ – dieses Land will keine Heimatlosen und Entrechteten mehr aufnehmen, sondern nur noch gut ausgebildete Fachkräfte. Brain drain wurde das genannt, leger übersetzt: Gehirnklau.

An der Freiheitsstatue prangt noch immer der Satz, dass das Land alle Flüchtlinge aufnimmt, doch heute liest sich dieses stolze Versprechen wie Hohn und Spott. Willkommen waren die armen Einwanderer nur, als es darum ging, die indigene Bevölkerung, die Ureinwohner, zu vertreiben, zu vernichten.

Und Deutschland folgt diesem Beispiel. Aus Tschechien sind Hunderte Ärzte nach Deutschland abgewandert, da sie in unserem Land das Zweifache, das Dreifache verdienen. Tschechien hat nun ein riesiges Problem in seinem Gesundheitswesen und die Regierung bat die tschechischen Ärzte zurückzukommen. Aber bei einem verdreifachten Gehalt wird dieser verzweifelte Appell wohl wenig Erfolgsaussichten haben.

Das deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist ein Gesetz gegen die Solidarität und die Einheit der Europäischen Union.

Christoph Hein, Schriftsteller

Das deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird die Lage der osteuropäischen Länder verschlimmern. Dieses Gesetz der jetzigen Regierung ist ein Gesetz gegen die Solidarität und die Einheit der Europäischen Union, ein Gesetz, das es Deutschland erlaubt, die Kosten bei der Ausbildung der eigenen Nachkommen einzusparen und stattdessen die im Ausland gut ausgebildete Jugend anzuwerben. Es ist ein Gesetz, das den Diebstahl legalisiert, den Diebstahl, den eine reiche Nation bei ihren ärmeren Nachbarn verübt.

Wir müssen in Deutschland etwas ändern und nicht einen neuen brain drain starten, indem wir die ärmeren Nachbarn bestehlen. Der Staat muss, und zwar besser heute als morgen, dafür sorgen, dass die Kosten – die Kosten für das Kostbarste, was wir besitzen, unsere Kinder – gerechter verteilt werden.

Christoph Hein wurde 1944 in Heinzendorf in Schlesien geboren.
Christoph Hein wurde 1944 in Heinzendorf in Schlesien geboren.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Wenn die Politik sich in das Leben und die Entscheidungen einer Familie einzumischen sucht, ist das stets heikel. In China gab es in den Jahren zwischen 1980 und 2016 eine Ein-Kind-Politik. Bei Verstößen gegen die Ein-Kind-Regel verhängten Behörden massive Geldstrafen – eine sogenannte soziale Kompensationsgebühr. Paare, die es sich leisten konnten, nahmen diese Geldstrafen für ein zweites Kind in Kauf. Das zweite Kind wurde damit zu einer Art Statussymbol, wie bei uns der Maserati. Doch als Folge dieser nicht gut durchdachten Maßnahme wurden in dem nach wie vor patriarchalisch geprägten China mehr Jungen als Mädchen geboren, der weibliche Fötus wurde abgetrieben, die Familie wollte einen Sohn, einen Stammhalter. Jeder Topf, sagt eine deutsche Volksweisheit, findet seinen Deckel. Jedoch in China standen plötzlich zwei oder gar drei Töpfe herum, doch nur einer von ihnen fand noch einen Deckel. Die anderen beiden Töpfe mussten sich damit abfinden, arme Tröpfe zu bleiben.

Ich registrierte als Kind, wie heftig und leidenschaftlich die Erwachsenen den Krieg verdammten.

Christoph Hein, geboren 1944 in Schlesien

Werden wir in Mitteleuropa, in Deutschland nochmals einen Krieg haben?

Ich wurde im letzten Kriegsjahr geboren, habe also Kampfhandlungen, Bombardierungen und Kriegsbrände nicht bewusst wahrgenommen. Doch ich erlebte die Nachkriegszeit, und sie prägte mich. Ich sah die zerstörten Städte, die Ruinen, die aufgerissenen Straßen, die zerstörten Brücken. Ich sah die Kriegskrüppel, einige trugen noch immer das ihnen verliehene Eiserne Kreuz an der aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen zusammengeflickten Jacke. Und sie bewegten sich auf selbstgebastelten Holzwägelchen mit Rädern, die keine luftgefüllten Reifen hatten, sondern Hartgummireifen, zusammengeheftet aus Teilen alter Autoreifen. Ich registrierte als Kind, wie heftig und leidenschaftlich die Erwachsenen den Krieg verdammten.

„Die Hand, die zu einem Gewehr greift, soll verdorren.“ Das war damals – in Ost und West – eine häufig zu hörende Verfluchung.

Doch bereits wenige Jahre später änderten die beiden deutschen Staaten ihre Haltung zu einer Wiederbewaffnung. In der Bundesrepublik wurde mit dem Bundesgrenzschutz eine paramilitärische Organisation aufgebaut, der Nucleus der Bundeswehr. Der ostdeutsche Staat beschloss den Aufbau einer Kasernierten Volkspolizei, die wenige Jahre später in Nationale Volksarmee umbenannt wurde. Deutschland Ost und Deutschland West rüsteten auf, und das vereinte Deutschland wurde schnell eine Militärmacht und bald einer der weltweit bedeutendsten Waffenexporteure. Die Hand, die zur Waffe griff, verdorrte nicht, sondern wurde und wird vergoldet.

Deutschland ist Mitglied eines sehr mächtigen Militärbündnisses, was ein bedeutender Schutz vor einem Angriff selbst übermächtiger Länder ist. Doch nun haben wir seit mehr als einem Jahr einen Krieg im Osten unseres Kontinents.

Auch meine Sorge ist, dass dieser von der Nato unterstützte Verteidigungskrieg den Dritten Weltkrieg auslöst.

Christoph Hein

Russland ist ein Aggressor, schuldig mehrerer Kriegsverbrechen, denn neben der Ermordung von Zivilisten und der Verschleppung ukrainischer Kinder ist auch der Einsatz der irregulären (Wagner-)Truppe ein Kriegsverbrechen. Die Ukraine führt einen gerechten, einen überaus gerechten Krieg. Doch die immense Unterstützung, die die Nato der Ukraine zukommen lässt, ängstigt viele, denn in den letzten Monaten ging die Nato sukzessive immer weiter auf die ukrainischen Forderungen nach Kriegsgerät und Munition ein. Auch meine Sorge ist, dass dieser von der Nato unterstützte Verteidigungskrieg den Dritten Weltkrieg auslöst.

Verschiedene ukrainische Politiker sprechen so, als hätten sie eine Carte blanche der Nato in der Tasche, wenn sie etwa eine Flugverbotszone über ihrem Land einfordern, was ein direkter Eingriff des westlichen Militärbündnisses wäre.

Ein deutscher Professor eines Bundeswehrinstituts teilte uns vor einigen Tagen mit, dass die gesamte bisherige Unterstützung der Nato für die Ukraine kein Eintritt dieses Bündnisse in den Krieg sei. Ein solcher Satz ist allerdings nur wahr und gültig, wenn auch die andere Seite diese Ansicht teilt; anderenfalls ist das eine hohle Phrase, eine friedensgefährdende Plattheit.

Wir erleben, wie die Ukraine derzeit zerstört wird, wie aus dem einst so fruchtbaren Land eine Trümmerlandschaft wurde, die für Jahre mit dem Wiederaufbau zu tun haben wird, und deren Felder für lange Zeit nicht bebaut werden können, da diese nun zu Minenfeldern wurden. Und die ukrainischen Soldaten, die jetzt als Helden gefeiert und gerühmt werden, werden nach dem Krieg mit Krücken durch ihre zerstörten Städte laufen müssen oder sie wie die deutschen Kriegskrüppel nach dem Zweiten Weltkrieg auf selbstgebastelten Wägelchen befahren, denn weder die Europäische Union noch die Nato werden den Krüppeln die finanziellen Mittel für bequeme Rollstühle zur Verfügung stellen.

Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.

Marcus Tullius Cicero, 100 Jahre vor der Zeitrechnung

Ja, die Ukraine führt einen gerechten Verteidigungskrieg, aber ich stimme Marcus Tullius Cicero zu, der hundert Jahre vor unserer Zeitrechnung schrieb: „Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“

Meine einstige Gewissheit, dass Mitteleuropa, dass Deutschland nie wieder einen Krieg erleben werden, ist verschwunden.

Auffällig ist mir, dass es die Älteren sind, die sich für einen Frieden einsetzen, Leute wie Jürgen Habermas oder Klaus von Dohnanyi oder wie die gerade verstorbene Antje Vollmer oder ich selbst. Es sind Personen, die in ihrer Kindheit den Krieg in Deutschland erlebten oder doch die unmittelbare Nachkriegszeit mit den Trümmerwüsten der Städte, die die abgerissenen, psychisch geschädigten Kriegsheimkehrer sahen und erleben mussten, dass noch Monate und Jahre nach Kriegsende Kinder umkamen, denen auf den Spielplätzen und in den Wäldern unversehens Waffen in die Hand gerieten oder die auf verborgene Minen traten. Vielleicht sind es diese Erlebnisse, die die Älteren zu einer anderen Haltung bewegt. Vielleicht nimmt eine lange Friedenszeit der nachgewachsenen Generation den Schrecken, und der Krieg erscheint dann nicht mehr als Leichenberg, als Trümmerstädte, als Hunger, Not und Tod. Der Krieg heißt dann wie einst „Stahlgewitter“ oder „reinigendes Feuer“ oder „Vater aller Dinge“.

Es gibt von Georg Heym ein Gedicht mit dem Titel „Der Krieg“. Es wurde von ihm im September 1911 verfasst, und lange Zeit galt das rätselhafte und vieldeutige Gedicht als eine frühe Warnung des Dichters vor dem Weltkrieg, der tatsächlich drei Jahre später Europa in Schutt und Asche legte.

Das Gedicht „Der Krieg“ beginnt mit dem Vers:

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,

Aufgestanden unten aus Gewölben tief.

In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,

Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

Doch es war kein Gedicht gegen den Krieg, die Wahrheit ist eine ganz andere. Seine später entdeckten Tagebücher sprechen von Georg Heyms Kriegsbegeisterung. Heym wurde 1887 geboren, er hatte keinen Krieg erlebt, und der zurückliegende letzte Krieg endete mit der Verleihung des Kaisertitels an den preußischen König Wilhelm I. in Versailles. Georg Heym erwartete und erhoffte sehnsüchtig den Krieg, wenn er im gleichen Monat in sein Tagebuch schreibt:

„Es ist immer das Gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut, ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“

Georg Heym sehnte sich nach dem „Stahlgewitter“ wie der fast gleichaltrige Ernst Jünger. Albert Einstein dagegen sagte: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Diesem Satz stimme ich zu und füge ergänzend an: vorausgesetzt, es gibt nach dem Dritten Weltkrieg noch menschliches Leben auf diesem Planeten.

Werden wir es auch in der Zukunft mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu tun haben?

Da ist meine Sicht der kommenden Jahrzehnte klar und eindeutig: Ja, wir werden weiterhin mit diesen barbarischen Geisteshaltungen zu tun haben. Und nur nach Exzessen, nach maßlosen, nach hemmungslosen Ausschreitungen gibt es eine Zeit verschämter Zurückhaltung, die bald wieder den alten und mörderischen Vorurteilen weicht. Die Alliierten konnten Hitler und den Faschismus besiegen, den Antisemitismus, der die Vernichtung der europäischen Juden plante und ausführte, vermochten sie nicht zu besiegen und auszurotten. Ein paar Jahre lang verstummte diese mörderische Gesinnung, um bald darauf wieder ihr schreckliches Haupt zu heben.

Die Fremdenfeindlichkeit ist ein Geburtsfehler aller menschlichen Gemeinschaften. Und Geburtsfehler sind, wie wir wissen, nicht aufhebbar und zu beseitigen, wir können uns dann nur mit Krücken behelfen.

Stets gehörte zur Identitätsfindung die Abgrenzung zum anderen, zu dem Nichtdazugehörigen.

Christoph Hein

Die Urform einer menschlichen Gemeinschaft ist die Familie, die sich mit anderen Familien zu einer Ansiedlung verbanden, zu einem dorfähnlichen Verband. Daraus entstanden Stämme, schließlich Staaten und Nationen. Und stets gehörte zur Identitätsfindung die Abgrenzung zum Anderen, zu dem Nichtdazugehörigen.

Diese Grenzen wurden mit Mauern gezogen, die einst jede mittelalterliche Stadt zu schützen hatten, oder mit Bewaffneten, mit Grenzpolizisten, mit einer Armee. Verschiedene Hautfarben und Religionen waren wichtige Merkmale für die Zusammengehörigkeit wie für die Abgrenzung, ebenso die Sprachen und Dialekte. Der andere, der Nichtdazugehörige galt als Gegner, oft als Feind, dem man zur weiteren Abgrenzung kriegerische Absichten unterstellte, auf jeden Fall aber negative Eigenschaften, Handlungen und Haltungen. Man grenzte sich mit verbaler oder auch physischer Gewalt von anderen Ländern ab, von Regionen im eigenen Land oder auch von dem Fußballclub und seinen Anhängern einer benachbarten Stadt, um sich zu finden, sich der eigenen Identität zu versichern.

Der von mir hoch verehrte Philosoph Georg Christoph Lichtenberg merkte dazu an: „Gesetzt den Fall, wir würden eines Morgens aufwachen und feststellen, daß plötzlich alle Menschen die gleiche Hautfarbe und den gleichen Glauben haben, wir hätten garantiert bis Mittag neue Vorurteile.“

Und ein Biedermann aus dem kleinen gallischen Dorf von Asterix benannte das Problem mit der klassisch-absurden Stammtischparole: „Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden, die sind nicht von hier.“

Fatal und bedrohlich sind die Aussichten für unseren Planeten, den wir mit Raubbau schädigten, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt heftiger, den wir irreversibel zerstören, ganz so, als wollen wir unsere Erde vernichten.

Die schlimmsten Umweltsünder stellen riesige Summen zur Verfügung, um Fachleute zu gewinnen, die die Gefahren kleinreden.

Christoph Hein

Und ein Ende dieser Selbstzerstörung ist nicht absehbar, vielmehr werden diese Schädigungen geleugnet. Wir verbrauchen in nur fünf Monaten sämtliche im Laufe eines Jahres natürlich nachwachsenden Ressourcen der Erde, wir führen ein Leben auf Pump, auf Kosten der Zukunft, auf Kosten des Lebens unserer Kinder und Enkel. Die schlimmsten Umweltsünder stellen riesige Summen zur Verfügung, um Fachleute und Wissenschaftler zu gewinnen, die die Gefahren marginalisieren und kleinreden.

Die letzte menschliche Gesellschaft, die auf dieser Erde lebte, ohne sie zu schädigen, die nicht im Raubbau der Naturschätze und der Zerstörung der Welt ihren Lebenssinn sah, die geradezu pfleglich mit dieser Welt umging, das waren die Jäger und Sammler der Steinzeit.

Die christlichen Kirchen benennen sieben Hauptsünden, die den geistigen Tod und die ewige Verdammnis zur Folge haben. Diese Todsünden sind Hochmut und Geiz, Wollust und Neid, Völlerei, Zorn und die Trägheit des Herzens. Diese Todsünden gefährden das Individuum. Jedoch die schlimmste Sünde, die nicht allein für das menschliche Individuum, sondern für die Menschheit Tod und Verdammnis bringt, das ist die Habgier. Unsere Gier. Unser aller Gier.

Doch wenn wir unsere Welt und uns selbst ertränken, wenn unsere Städte in den von uns verursachten Fluten versinken, wenn die Wälder in ihnen untergehen, wenn die Singvögel und alles Getier und jede Pflanze ersäuft werden, wenn der Frühling für alle Zeiten erlischt, wenn Shakespeares Werke und die Bilder und Statuen Michelangelos, wenn die Musik eines Johann Sebastian Bachs für immer und für alle Ewigkeit vernichtet sind, wenn wir unsere Kinder umbringen, unsere Kindeskinder, unsere eigenen Urenkel, dann werden die großen Meere zusammenfließen und diese Erde bedecken als ein einziges Weltmeer.

Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.
Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Und die Wasseroberfläche wird – ein letzter Gruß der Menschheit an das zeitlich wie räumlich unendliche Weltall – bedeckt sein mit dem, wofür die Menschheit sich und ihre gesamte bewohnbare Welt aufopferte: unübersehbar und unzählbar werden Geldscheine auf dem Wasser schwimmen, das gesamte Finanzvermögen der Welt, für das man dann nicht einmal eine Schale Reis bekommen kann.

Vor vierzehn Jahren betrug das gesamte Finanzvermögen der Welt 148 Billionen Dollar, es hat sich in den letzten vierzehn Jahren mehr als verdreifacht, von 148 Billionen auf 473 Billionen Dollar. Vervierfacht hat sich die Zahl der Millionen Kinder, die in unserer Welt Hunger leiden, die unterernährt sind. Die eine Zahl hat einen direkten Zusammenhang mit der anderen Zahl. Und diese beiden Zahlen offenbaren den Humanismus, unsere Mitmenschlichkeit, die Menschlichkeit der menschlichen Spezies, unser aller.

Wo Geld vorangeht, sind alle Wege offen.

William Shakespeare

Zehn Prozent der Menschheit besitzen 60 Prozent des gesamten Reichtums der Welt. Das ist nicht sozial, es ist gegen die „Sozialität“ gerichtet, es ist asozial. Die Staaten und Gesellschaften bestrafen asoziales Verhalten. Doch wenn die Asozialen sehr viel Geld haben, ist man plötzlich sehr rücksichtsvoll.

„Wo Geld vorangeht“, sagte William Shakespeare, „sind alle Wege offen.“

Und was bleibt von uns, von unserer Arbeit, unseren Träumen, unseren Plänen? Denn das, was bleibt, wird auch Teil der Zukunft sein, möglicherweise ein bestimmender.

Die Frage „Was bleibt?“ kann ich sehr umfassend und vollständig beantworten, indem ich ein kleines, ein sehr kurzes Gedicht von Gottfried Benn zitiere. Es hat den Titel: „Was bleibt“:

Alles bleibt

in seinem Grundverhalten

wendet sich nur von der alten

einer neuen Richtung zu.

Das haben wir in Deutschland mehrfach erlebt, wo nach 1945 begeisterte Hitler-Verehrer oder Mitläufer plötzlich fanatische Anhänger der westlichen Demokratie wurden oder der sozialistischen Weltmacht, wo der Geheimdienst der Faschisten sich – ohne das Personal auszutauschen – wandelte zur demokratischen Organisation Gehlen. Übernommen vom führenden Personal der Nazis wurden ebenso die Juristen, Professoren, Ärzte.

Konrad Adenauer begründete diese seltsame Kontinuität mit dem Satz: „Ich kann das schmutzige Wasser nicht wegschütten, bevor ich kein sauberes habe.“ Ein Satz, der allen Gesetzen der Hygiene widerspricht. Und Folgen hatte. Wie sonst ist es zu erklären, dass ein Mann wie Hans-Georg Maaßen Präsident des Verfassungsschutzes werden konnte? Die übernommenen Nazis sorgten dafür, dass ihre Nachfolger Personen ihresgleichen waren, so dass auch Jahrzehnte nach dem Ende des Dritten Reichs in dem sauberen Wasser noch immer Reste der alten Brühe zu finden sind.

Oder wo auf der anderen Seite gläubige Hitler-Anhänger plötzlich glühende Verehrer Stalins wurden und nun ausgrenzten und verfolgten, was der neuen Doktrin nicht entsprach, das konnten Bürger mit christlichem Glauben sein oder Personen, die die westliche Kunst und Musik bewunderten und liebten, oder auch junge Männer mit langen Haaren.

Und einen erstaunlichen Wechsel, einen manchmal tragischen Wechsel, häufig tragikomischen und gelegentlich lächerlichen Wechsel von der alten zur neuen Richtung haben wir wohl alle seit 1990 erleben können.

Alles bleibt

in seinem Grundverhalten,

wendet sich nur von der alten

einer neuen Richtung zu.


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