Es ist nur ein kurzer Satz im Berliner Koalitionsvertrag, ganz hinten, auf Seite 124, aber als ich ihn las, an einem eiskalten Berliner Apriltag, schlug mein Herz ein wenig höher. „Wir streben“, steht da, „eine neue Städtepartnerschaft mit Tel Aviv an“.
Tel Aviv! Zwei Jahre lang wohnte ich in der Start-up-Metropole, in einem alten osmanischen Haus am Meer, kaufte mir mittags Hummus bei Abu Hassan und abends Dorade in der Yefet Straße bei Manischma, so nannten mein Mann und ich den Fischhändler, weil er, ein Araber, uns immer mit dieser hebräischen Begrüßung empfing, als würden wir, die Deutschen, genauso zu dieser Stadt gehören wie er.
Ma nisch ma? – Tov. Toda. Ma kore? – Mitzujan. – Wie geht’s? – Danke, alles gut. Und selbst? – Großartig.
Berlin und Tel Aviv passen zueinander
Dann wechselten wir ins Englische, obwohl ich zweimal in der Woche mit französischen, kasachischen und ukrainischen Einwanderern Hebräisch lernte wie eine Erstklässlerin – was ich liebte und hasste wie so vieles in Tel Aviv, der Stadt voller Gegensätze. Am Strand, im Winter einsam und leer, stolperte ich im Sommer über Riesenquallen und Plastikbecher.
Auf den Märkten, wo es die köstlichsten Feigen und Minze, in Sträuße gebunden, gab, sah es am Ende des Tages aus wie nach einer Schlacht, die beide Seiten verloren hatten. Auf dem schönsten Radweg der Welt, direkt an der Strandpromenade, rechnete ich jeden Moment damit, von einem E-Roller über den Haufen gefahren zu werden. Der Verkehr war überhaupt eine Zumutung, abgesehen von den jüdischen Feiertagen, an denen die Stadt plötzlich wunderbar leer und ruhig war.
Seit drei Jahren lebe ich wieder in Berlin, aber ich denke oft an Tel Aviv, gerade jetzt, da Netanjahu mit einer Gesetzesänderung dem Obersten Gericht die Befugnis nehmen will, politische Entscheidungen zu revidieren, und damit versucht, seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Zehntausende Menschen gehen dagegen auf die Straße, die Tel Aviver in der ersten Reihe, so wütend und entschieden wie nie.
In Tel Aviv habe ich so gut wie keinen Netanjahu-Wähler getroffen. Es ist eine junge, linke Stadt. Das ändert sich, je weiter man sich von ihrem Zentrum entfernt, wo Familien und Einwanderer wohnen, die sich linke Positionen nicht leisten können. Genau wie in Berlin. Die Städte passen zueinander, viele Berliner und Tel Aviver haben das längst erkannt.
Deutsche Moral, deutsches Gewissen
Die Easyjet-Maschinen erinnern mitunter an einen Bus-Shuttle, Menschen mit leichtem Gepäck, die Freitag hin- und Sonntag wieder zurückfliegen. Tel Aviver schwärmen von Berlin. Und Berliner von Tel Aviv. Bis auf die, die noch nie da waren. Weil sie gegen die Besatzungspolitik Israels sind und Netanjahu zu rechts finden.
Erst neulich erklärte mir wieder eine Bekannte, sie wolle unbedingt mal nach Israel reisen, aber sie könne das nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Und vermutlich wird es auch zur Frage der Städtepartnerschaft wieder moralische Bedenken geben. Was Moral und Bedenken betrifft, sind die Deutschen den Israelis ja bekanntlich weit überlegen.
Meiner Bekannten zählte ich verschiedenste Länder auf, in die man alle nicht mehr reisen kann, weil die Politik nicht zu den eigenen Vorstellungen passt. Und sagte, dass ich es eher erstaunlich finde, mit welcher Selbstverständlichkeit Kinder, Enkel, Urenkel von Holocaustüberlebenden heute wieder in die Stadt kommen, aus der ihre Angehörigen fliehen mussten oder in Vernichtungslager deportiert wurden.




