Sie will, dass die Sache zurückgenommen wird, sagt Ricarda Strehlow, als sie am Ende des Abends vor der Bühne steht und ein Mikrofon in der Hand hält. Bei ihr und bei anderen Leuten mit kleinen Läden seien die Umsätze eingebrochen. „Wie lange müssen wir noch diskutieren, bis etwas geändert wird?“, ruft Strehlow. Sie bekommt den größten Applaus des Abends. Strehlow will, dass das neue Einbahnstraßensystem wieder verschwindet, das ihr das Geschäft verdirbt. Seit zehn Tagen durchzieht es das Komponistenviertel, an dem ihr Feinkostgeschäft liegt, und seitdem ist der Verkehr hier grundlegend durcheinandergeraten. Und noch einiges mehr.
Das Komponistenviertel liegt in Weißensee, am Rand der Innenstadt. Seit Ende Mai ist es ein sogenannter Kiezblock. Der erste in ganz Pankow. Das Viertel wurde damit mitten in die Berliner Verkehrswende katapultiert. In den großen Streit darum, wem die Straßen gehören, Radfahrern oder Autofahrern, wer sich wie durch die Stadt bewegen darf.
Freitagabend. Es ist heiß in Berlin, das Wochenende hat begonnen. Trotzdem stehen weit mehr als hundert Menschen auf einer abgesperrten Straße am Solonplatz und streiten über Verkehrsschilder, Raser, Umwege und Fahrradfahrer. Miteinander, aber vor allem mit den Politikern und Stadtplanern, die ihnen den Kiezblock eingebrockt haben. An diesem Abend stellen sich die Verantwortlichen zum ersten Mal der Diskussion, seit der Kiezblock eingerichtet wurde. Erst vor einer Bühne, dann in Einzelgesprächen, die schnell zu Menschentrauben anwachsen. Immer wieder hört man Anwohner „Grüne Ideologie!“ rufen oder „Umerziehung für Autofahrer!“.
Um eine solche Umerziehung geht es in der Tat. Kiezblöcke sind eine Lieblingsidee der Aktivisten und Planer, die den Autoverkehr in Städten umleiten und letztlich reduzieren wollen. Die Idee stammt aus Barcelona, dort wurden schon Ende der 1990er-Jahre Häuserblöcke zu Superblocks zusammengefasst – und Autos die Durchfahrt durch diese Einheiten verboten. Auch durch das Komponistenviertel soll niemand mehr fahren, etwa um den Stau auf der Berliner Allee zu umgehen, der großen Hauptverkehrsstraße, hinter der es beginnt.

In Kreuzberg und Mitte gibt es schon Kiezblocks. In Berlin werben 65 Nachbarschaftsinitiativen derzeit für insgesamt 180 weitere Blocks, der Verein Changing Cities treibt das Anliegen stadtweit voran. Vor drei Jahren, kurz vor der Pandemie, gab es in Pankow zwei Workshops, die Grünen nahmen teil, Vertreter einer Wohnungsbaugenossenschaft, eines Vereins. Und 70 Bürger. So kann man es in Berichten nachlesen. Am Ende kam man gemeinsam auf 18 Vorschläge für Kiezblocks im Bezirk. Fast jedes Altbauviertel in Prenzlauer Berg soll nach dem Willen der Arbeitsgruppe für den Durchgangsverkehr gesperrt werden. Der Bezirk beschloss, mit zwei oder drei Gebieten zu beginnen.
Eine Stunde länger, um nach Mitte zu kommen
Im Komponistenviertel ging es am schnellsten. „Der Verkehrsdruck auf ihr Viertel ist besonders hoch“, sagt Cornelius Bechtler, seit April Stadtrat für Stadtentwicklung in Pankow, am Freitagabend den Anwohnern. Es habe auch schwere Unfälle gegeben. Tatsächlich ergaben Zählungen im August 2021, dass bis zu 4350 Autos in 24 Stunden über die Bizetstraße fuhren, die parallel zur Berliner Allee verläuft.
Anwohner, die von den Zählungen hören, werfen ein: Auf der Berliner Allee wurde gebaut, in solchen Zeiten sei der Verkehr im Komponistenviertel schlimmer als sonst. Ein Mann erzählt, dass er schon vor Jahren den Bezirk gebeten habe, Blitzer gegen Raser aufzustellen oder öfter die Polizei in das Viertel zu schicken. Andere Anwohner sagen, dass sie sich Schwellen auf der Straße gewünscht hätten, die Autos zwingen, langsamer zu fahren. Eine Verkehrsberuhigung, ja, aber mit sanften Mitteln.
Das Planungsbüro Stadtraum, das der Bezirk beauftragte, schlug eine härtere Methode vor. Winfried Müller-Brandes erläutert sie den Anwohnern am Freitag so: „Um den Durchgangsverkehr wirklich zu unterbinden, muss man den Kiez trennen.“ Auf der Karte, die hinter ihm hängt und die Umsetzung zeigt, hat das Komponistenviertel zwei Teile. Aus beiden laufen Einbahnstraßen auf die Smetanastraße zu, die in der Mitte liegt und zur Berliner Allee führt. Dort kann man nur nach rechts abbiegen. Und stadtauswärts fahren. Wer in die Innenstadt will, muss lange Umwege fahren. „Das wissen wir“, sagt der Stadtplaner. So sei das eben, wenn man Auto fährt. Mit dem Rad kommt man in alle Richtungen. Die Bizetstraße ist jetzt eine Fahrradstraße, auf der man auch zu dritt nebeneinander Rad fahren darf.
Es klingt, als setze der Planer auf Abschreckung. Wer keine Umwege will, soll eben nicht mehr Auto fahren. Ob so die Verkehrswende funktioniert? Reicht es, wenn einige Bürger sich etwas ausdenken, und alle anderen, die nicht an Workshops teilnehmen, vor vollendete Tatsachen gestellt werden? Steigt so nicht vor allem die Gereiztheit in der Stadt weiter? Bald wird man das in vielen Vierteln sehen können.
Für die größte Aufregung im Komponistenviertel sorgt, dass man die Innenstadt mit dem Auto nur noch über Umwege erreicht. Der Durchgangsverkehr ist schließlich auch für die Anwohner unterbunden. „Wir sind abgeschnitten von der Stadt!“, ist der Satz, der am häufigsten fällt. Der Fahrtweg zum Alexanderplatz ist nach Berechnungen der Planer durch die Einbahnstraßen um 2,3 bis 2,7 Kilometer länger geworden. Je nach Uhrzeit und Stau auf der Berliner Allee fahre man 15, 30, 45 Minuten länger, erzählen Anwohner. Eine Frau, die seit 15 Jahren in der Bizetstraße wohnt, sagt, sie habe morgens auch schon eine Stunde länger gebraucht. Es kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld, wegen des Benzins, sagt eine Frau aus der Gounodstraße. „Mein alter Nachbar ruft sich kein Taxi zum Arzt mehr, weil er nicht abschätzen kann, wie teuer das jetzt wird.“

Hupen und Brüllen vor dem Fenster
„Kundinnen haben angerufen und gesagt: Wir kommen ja nicht mehr zurück in die Stadt von dir“, sagt Ricarda Strehlow, die Frau, die den Feinkostladen Fassgold betreibt. Da habe sie verstanden, warum der Laden seit Tagen so leer war, der Umsatz sich halbiert hatte. Er liegt an der Berliner Allee, auf der Seite des Komponistenviertels. Viele Kunden hätten dort bisher geparkt, sagt Strehlow.
Natalia Kempin wohnt an der Kreuzung, über die seit zehn Tagen der größte Teil des Autoverkehrs aus dem Komponistenviertel fließt. Smetanastraße, Ecke Bizetstraße. In einem Eckhaus, zweite Etage. Das Zimmer, in dem sie schläft und arbeitet, hat zu beiden Straßen je ein Fenster, in der Ecke zwischen den Fenstern steht ihr Schreibtisch mit dem Computer. Kempin berät von dort die Kunden einer Fotodatenbank.
Dass das Viertel, in dem sie seit fünf Jahren wohnt, jetzt ein Kiezblock ist, bemerkte sie, als das Hupen auf der Straße losging. Tagelang stauten sich die Autos vor ihrem Fenster, von morgens bis abends, brüllten sich Fahrer an, liefen Motoren. Kempin hat das Chaos mit ihrem Handy gefilmt und Videos auf YouTube hochgeladen. Anders wusste sie sich in ihrer ersten Verzweiflung nicht zu helfen. Als sie in ihrem Zimmer davon erzählt, sechs Tage nach der Verkehrswende vor ihrer Tür, geht es unten schon wieder los. „Ey, hier ist Einbahnstraße“, ruft jemand.
Inzwischen habe sich die Lage zwar etwas beruhigt, aber im Berufsverkehr sei immer noch viel mehr los als vorher, sagt Kempin. „Es ist ein Desaster.“ Sie selbst habe gar kein Auto und auch kein Fahrrad. Aber sie könne bei geöffneten Fenstern zu manchen Zeiten nicht mehr arbeiten.
Vielleicht reduzieren Kiezblöcke auf lange Sicht den Autoverkehr, wenn Menschen sich entscheiden, ihre Autos abzuschaffen, weil das Fahren in der Stadt noch anstrengender geworden ist. Erst einmal leiten sie den Verkehr nur um. Wer Pech hat, bekommt mehr davon vor die Fenster gespült. Auch an Hauptverkehrsstraßen wohnen Menschen.
Man beobachte, wie die Einbahnstraßen im Komponistenviertel funktionieren, sagt der Stadtplaner Müller-Brandes am Freitagabend. Es könne auch zu „Nachschärfungen“ kommen. Pollern etwa, die Regelbrüche unmöglich machen.
Ein gemeinschaftliches Stöhnen geht durch das Publikum. Aber es gibt auch Applaus. Ein Mann läuft auf den Bezirksstadtrat zu, um ihm „ganz viel Glück“ zu wünschen, für die Verkehrsberuhigung. „Es ist schon gefühlt 50 Dezibel leiser geworden hier.“ Ein anderer ruft: „Wissen Sie überhaupt, was 50 Dezibel sind?“

„Die Lebensqualität wird steigen“
In der ganzen Aufregung steht am Freitagabend ein Mann, der glücklich über die neue Lage ist. Über den Kiezblock. Hans-Conrad Walter hat sich in den ersten Tagen sogar persönlich dafür engagiert, das neue Einbahnstraßensystem durchzusetzen. Er stellte sich mit seinem Rad auf einen Fußgängerüberweg an der Kreuzung Bizetstraße und Smetanastraße und hinderte Autos daran, gegen die Regeln in die neue Einbahnstraße zu fahren. Vom Bezirksamt war niemand vor Ort, die Polizei kannte die neue Verkehrsführung noch nicht, es waren die Tage des Chaos, als Natalia Kempin aus ihrem Fenster filmte.
An zwei Nachmittagen stand Walter da, und dann noch einmal, als die „Abendschau“ ihn für einen kurzen Beitrag filmte. An einem Nachmittag sei ein weißer, tiefergelegter Mercedes so dicht an sein Bein gefahren, dass er eine kleine Verletzung davongetragen hat. Er hat den Fahrer angezeigt.
„Als Bürger kann man sich auch einmischen“, sagt Hans-Conrad Walter. Er hat schon am Ende der DDR für Bürgerrechte demonstriert. Walter arbeitet als Kulturmanager, im Homeoffice in der Bizetstraße, in der er seit acht Jahren lebt. Vor einem Jahr hat er sein Auto abgeschafft. Er freut sich darüber, dass die Bizetstraße jetzt Fahrradstraße ist, „über die Berliner Allee kann man mit dem Rad nicht fahren, das ist lebensgefährlich“, sagt er. Seine Nachbarn mit kleinen Kindern seien auch erleichtert über die Fahrradstraße. Es sei auch schon viel ruhiger geworden. Die Verkehrsführung im Kiezblock hält Walter für ein „ausgeklügeltes System“. Es habe nur eine richtige PR-Kampagne gefehlt. Große Umbrüche müsse man besser erklären.
Im Komponistenviertel ist etwas durcheinandergekommen, das sagt auch Hans-Conrad Walter. Er hofft auf den Sommer. Bald würden die Menschen im Viertel sicher merken, dass mit weniger Verkehr ihre Lebensqualität steigt.






