Das Kleisthaus in Berlin-Mitte heißt so, weil der Dichter Heinrich von Kleist hier eine Wohnung hatte. Rund hundert Jahre nach dessen Freitod wurde 1913 dann dieses Gebäude errichtet, in dem heute der Amtssitz des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung ist. Jürgen Dusel bittet in sein Büro. Es geht gleich um die Special Olympics in Berlin (17.–25. Juni), um Barrieren im Alltag, hartnäckige Vorurteile in der Arbeitswelt und darum, was Menschen mit Lernbeeinträchtigung zu leisten im Stande sind. Hinter Dusels Schreibtisch hängt ein großes Foto des Hamburger Fernsehturms am Abend, darauf eine Lichtprojektion: „Demokratie braucht Inklusion.“
Herr Dusel, worum geht es bei den Special Olympics World Games?
Zunächst einmal handelt es sich um das größte Multi-Sportevent in Deutschland seit den Olympischen Spielen von München 1972. Wir erwarten mehr als 7000 Athletinnen und Athleten aus mehr als 180 Ländern. Dazu kommen Trainer, Betreuer und so weiter. Ich bin ein echter Fan dieser Veranstaltung, und ich sage das nicht nur, weil sie diesmal in Berlin stattfindet.
Sondern?
Vor vier Jahren war ich bei den World Games in Abu Dhabi. Ich durfte mit den Athletinnen und Athleten ins Stadion einlaufen. Eine tolle Kulisse, man bekam eine Gänsehaut, und ich wünsche mir, dass das in Berlin genauso sein wird. Vor allem ist mir wichtig, dass die Spiele nachhaltig sind.
Wie meinen Sie das?
Ich wünsche mir, dass Menschen mit Lernbeeinträchtigung sichtbarer werden und dass sich im Anschluss an die Spiele ihre Teilhabe in allen Lebensbereichen verbessert.
Durch ein Sportereignis?
Die Veranstalter rechnen mit rund 300.000 Zuschauern, die vor Ort in Berlin die Wettbewerbe verfolgen. Außerdem gibt es zum ersten Mal in der Mediengeschichte der Bundesrepublik eine Allianz aus öffentlich-rechtlichem, privatem und Bezahlfernsehen. Die Sender haben sich verabredet, umfassend über die World Games zu berichten. Es werden also Millionen Menschen das Angebot bekommen, sich die Spiele zu guten Sendezeiten anzuschauen. Eine größere Öffentlichkeit wird sehen, was Menschen mit Lernbeeinträchtigung leisten können.

Als Sportler?
Das Besondere an den World Games ist ja, dass die Athletinnen und Athleten mit großer Empathie und gegenseitiger Rücksichtnahme in die Wettkämpfe gehen. Sie geben ihr Bestes, wollen aber nicht um jeden Preis gewinnen. Wir können uns als Gesellschaft von ihnen eine Menge abgucken. Die Botschaft ist: Wir profitieren alle, wenn wir Vielfalt zulassen. Deshalb lautet das Motto meiner Amtszeit: Demokratie braucht Inklusion.
Was genau bedeutet Inklusion?
In Deutschland leben 13,5 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung, ungefähr jeder Sechste ist somit betroffen. Davon wurden jedoch nur drei Prozent mit einer Beeinträchtigung geboren. So wie ich. Der Rest erwirbt sie durch eine Krankheit, einen Unfall, auf welche Weise auch immer. Doch fragen sie mal auf der Straße, was Inklusion ist. Ich wette, die meisten sagen: „Ah, ja, das ist doch dieses inklusive Lernen.“
Aber Inklusion in der Schule ist doch wichtig, oder?
Sehr wichtig. Die Leute, die mit mir Abitur gemacht und später Verantwortung für Personal übernommen haben, die kennen einen, der zwar nicht gut Fußball spielen konnte. Die kennen aber einen, der sein Abi geschafft, Jura studiert, zwei Staatsexamen gemacht hat. Diese ehemaligen Mitschüler stellen auch Leute mit Beeinträchtigung ein. Inklusion ist ein Bildungsthema, aber auch ein Arbeitsthema. Haben Menschen die Wahl, wo und was sie arbeiten möchten?
Menschen mit Beeinträchtigung: Die wenigsten benötigen Sozialhilfe
Haben sie?
In Deutschland gehen rund 1,3 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach. Das ist schon mal gut, könnte aber besser sein. Denn rund 270.000 sind in WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen, Anm. d. Red.) beschäftigt. Und noch eine Zahl: Von den 13,5 Millionen Menschen mit Beeinträchtigung beziehen lediglich 800.000 bis 900.000 Leistungen der Sozialhilfe, bei mehr als 90 Prozent ist das also nicht der Fall. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in Deutschland keinen einzigen Arbeitsplatz gibt, der nicht mit einer beeinträchtigten Person besetzt werden könnte.
Woher kommt die Scheu mancher Arbeitgeber?
Es gibt drei Vorurteile. Erstens: Wenn ich einen solchen Menschen einstelle, werde ich ihn nie wieder los. Das ist Unfug. Zweitens: Leute mit Beeinträchtigung sind häufiger krank. Das stimmt nicht. Drittens: Dieser Personenkreis ist nicht so leistungsfähig. Bei den World Games wird man Teilnehmer sehen, die dieses Vorurteil widerlegen.
Je mehr Begegnung, desto weniger Vorurteile?
Wir müssen mehr Begegnung schaffen. Dazu tragen die Special Olympics bei. Ich freue mich schon gemeinsam mit den Athletinnen und Athleten, und zwar ganz besonders auf den internationalen Austausch. In Berlin, aber auch vorab in vielen anderen Orten im Land.
Wo noch?
Vor den World Games gibt es das Host-Town-Programm. Mehr als 200 Städte haben Athletinnen und Athleten zu Gast. Das ist eine Chance, mehr voneinander zu erfahren.
Und um über Leistungsfähigkeit in Sport und Beruf zu sprechen?
Die Situation von Menschen mit Lernbeeinträchtigung berührt viele Lebensbereiche. Bildung natürlich, lebenslanges Lernen, Arbeit, aber sogar ein Thema wie Gewalt. Frauen mit Beeinträchtigung, vor allem gehörlose Frauen, haben ein dreifach größeres Risiko, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden als Frauen ohne Beeinträchtigung. Gesundheit ist ein weiteres wichtiges Thema. Es gibt deshalb bei den World Games ein Programm namens Healthy Athletes.
Was ist das für ein Programm?
Freiwillige Ärztinnen und Psychologinnen untersuchen Athletinnen, es finden sogenannte Screenings statt. Der Zustand mancher Menschen, die sich dort vorstellen werden, dürfte katastrophal sein: hoher Blutdruck, Diabetes oder bedenklicher Zahnstatus, teilweise die falsche Sehhilfe oder zu kleine Schuhe.
Wie kann das sein?
Wir haben ein Problem mit dem Zugang zum Gesundheitswesen. Nur etwa 20 Prozent der Arztpraxen in Deutschland sind barrierefrei. Eine nahezu einstellige Zahl von gynäkologischen Praxen ist auf Frauen im Rollstuhl eingestellt, was das Behandlungssetting betrifft. Wenn jemand mit Assistenzbedarf in ein Krankenhaus kommt, muss er diese Assistenz auch erhalten und bezahlt bekommen. Oder wenn jemand nicht in einer Behindertenwerkstatt arbeiten möchte, weil er einen anderen Lebensplan hat, muss man ihm eine Alternative anbieten. Menschen müssen ihre verbrieften Rechte leben können. Das Recht auf Zugang zum Gesundheitssystem, auf Arbeit, Wohnen, Sport. Wie gesagt: Ein Land ist erst dann demokratisch, wenn es die Vielfalt seiner Gesellschaft als Wert begreift.
Wie werden die Special Olympics diese Botschaft transportieren?
Indem wir erst einmal gemeinsam die Spiele feiern. Ich bin gemeinsam mit Verantwortlichen aus den Ministerien, aus der Medien-, Sport- und Kulturlandschaft und den Athletensprecherinnen im Weltspielekomitee der SOWG (Special Olympics World Games, Anm. d. Red.). Das Komitee begleitet die Weltspiele und wird organisiert von Special Olympics Deutschland. Wir alle haben ein Interesse an der nachhaltigen Wirkung der Spiele. Dazu müssen wir Orte der Begegnung schaffen. Dabei spielt die Barrierefreiheit eine zentrale Rolle.
Inwiefern?
Stellen Sie sich vor, Sie sind ab sofort auf einen Rollstuhl angewiesen. Kommen Sie noch in Ihre Wohnung? Zu Ihrem Arzt, Zahnarzt? Zu Freunden, ins Kino, Theater, in die Lieblingskneipe?
Ich würde fast alle Fragen mit nein beantworten.
Was macht das mit Ihnen? Was macht das mit Menschen, denen das tagtäglich so geht? Die zum Beispiel keine passende Wohnung finden und deshalb in einem Heim leben müssen? Niemand hat sich ein Leben ohne Schicksalsschläge erarbeitet, ohne Krankheit, ohne Unfall. Also muss der Sozialstaat einen Ausgleich schaffen. Am Ende profitiert er ja auch davon: Barrierefreiheit macht das Land moderner.
Barrierefreiheit: „Im privaten Bereich ist Deutschland richtig schlecht“
Für alle?
Klar. Wenn man zum Beispiel mit einer Behörde kommuniziert, hat man oft das Gefühl, man müsste Jura studieren, um einen Bescheid zu verstehen. Behördendeutsch nervt nicht nur Menschen, die auf leichte Sprache angewiesen sind. Im öffentlichen Bereich haben wir inzwischen viel für Barrierefreiheit getan. Im privaten Bereich dagegen, beim Einkaufen etwa, sind wir richtig schlecht. Wir müssen Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit verpflichten.
Wie ist die Situation im Sport?
Menschen mit Lernbeeinträchtigung treiben leider viel zu wenig Sport. Das hat nicht nur mit dem barrierefreien Zugang zu Sportstätten zu tun, sondern mit der Expertise vor Ort, der Willkommenskultur in Vereinen. Ich hoffe, dass die World Games dazu beitragen, dass sich daran etwas ändert.
Sie sagen immer Menschen mit Lernbeeinträchtigung statt geistig behinderte Menschen. Warum?
Im Gesetz und auch in der deutschen Übersetzung der UN-BRK (UN-Behindertenrechtskonvention, Anm. d. Red.) heißt es „Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen/Behinderungen“. Die Selbstvertretungsorganisation dieser Personengruppe, Mensch zuerst e.V., fordert aber schon lange, statt dieses Begriffs die Bezeichnung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ zu verwenden.
Geistig behindert – ein Begriff, der Hürden aufbaut
Wie sollte der Personenkreis denn nun bezeichnet werden?
In diesem Jahr der Weltspiele in Berlin habe ich im Februar eine Fachveranstaltung organisiert, bei der es genau um diese Frage ging. Wir hatten juristische, medizinische, linguistische, sozialwissenschaftliche Expertise, Verantwortliche aus den Ministerien, aber vor allem Expertinnen in eigener Sache dabei. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Begriff „geistige Behinderung“ nicht mehr zeitgemäß ist, denn er wird als abwertend empfunden und baut Hürden auf. Wir sind noch mitten im Prozess, aber für mich steht fest: Wenn mir Menschen sagen, so möchten sie nicht bezeichnet werden, das empfinden sie als diskriminierend, dann nehme ich das ernst.





