Kurz nach 13 Uhr ist der Großteil der Parade schon am Potsdamer Platz vorbeigezogen und nähert sich langsam, dafür aber laut und tanzend dem Nollendorfplatz. Felix Weiss sprudelt nur so vor guter Laune, genauso wie die Getränkedose, die er sich voller Elan über den Mund laufen lässt.
Sein bauchfreies Oberteil besteht aus gelbem Klebeband, darauf steht „Police“. An seinem Gürtel hat er glitzernde Handschellen befestigt. „Zuerst wollte ich als Polizist gehen, dann dachte ich mir, ich gehe einfach als Crime Scene“, sagt er und lacht. Dan, seine Begleitung, drückt einem die Leine, die an einem Halsband an seinem Hals befestigt ist, in die Hand. Wer ihn fragt, warum er heute auf dem Christopher Street Day sei, dem antwortet er mit Bellgeräuschen.
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Berlin war sich noch nie für eine Party zu schade. Doch wirklich selten sieht man die Menschen auf den Berliner Straßen so bunt, so frech und ausgelassen tanzen und marschieren wie heute. Dabei darf nicht vergessen werden: Das hier ist immer noch eine Demo. Deswegen wird der Umzug auch mit einem großen Banner angeführt, auf dem steht: „Wir sind hier nicht zum Spaß!“.

Der Christopher Street Day ist ein Gedenk- und Festtag für die Rechte von Schwulen, Lesben, Transpersonen und Intersexuellen. Auf der ganzen Welt gehen Menschen, die selbst queer sind oder sich mit jener Gruppe solidarisieren wollen, auf die Straße, um sich gegen deren Diskriminierung und gegen die Ausgrenzung der LGBTQI-Community einzusetzen.
Der diesjährige CSD steht unter dem Motto „Be their voice – and ours! Für mehr Empathie und Solidarität!“, und die Veranstalter rechneten mit über 500.000 Teilnehmenden.
Einer davon ist eben Felix Weiss. „Ich bin heute auf dem CSD, weil ich schwul bin“, sagt er der Berliner Zeitung. Für ihn sei der Christopher Street Day der Tag im Jahr, wo er sich am freiesten fühle. „Heute werde ich nicht in der Bahn angepöbelt, egal wie ich aussehe“, sagt der Berliner. „Heute feiern dich alle oder akzeptieren dich zumindest.“

Auch July, die sich mit ihren Freundinnen für eine kurze Verschnaufpause an den Rand gesetzt hat, nennt ähnliche Gründe, wieso der CSD für die LGBTQ-Community so ein wichtiger Tag sei. Sie selbst sei queer und stehe öffentlich zu ihrer Sexualität, „viele andere haben aber Angst, sich zu outen“. Heute sei einer der Tage, an denen es Menschen leichter falle, ihre Sexualität offen auszuleben. „Niemand muss sich verstecken“, sagt sie.

Und das zeigt sich definitiv an den Outfits der Menge: Neben den Tausenden Regenbogenfahnen und Trans-Pride-Flags, die Menschen in die Luft recken, sich umgebunden oder aufgemalt haben, sieht man hier jegliche Kleidung an jeglichem Geschlecht. Männer in High Heels, Drag Queens im aufwendigsten Kostüm, viele leicht bekleidete oder sogar völlig nackte Körper.
Auch dass Berlin eine große Kink- und Fetisch-Szene hat, lässt sich auf diesem Umzug unschwer erkennen. Einige tragen Ledermasken mit Hundegesichtern oder Fellohren auf dem Kopf. Auch die Flagge der Bear Community, zu der homo- und bisexuelle Männer mit behaartem Körper gehören, weht hier und da im Winde.
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Zwischen den Demonstrantinnen und Demonstranten, die zu Fuß unterwegs sind, rollen die großen Trucks, von denen aus laute Musik über die Straßen dröhnt, meistens ist es Techno, der da aus den Boxen wummert. Bei dem Wagen der evangelischen Kirche läuft gerade „Horny “ von Mousse T. „I’m horny, horny, horny, horny“, grölt die Menge und klingt fast so eingespielt wie eine Kirchengemeinde.
Der Name Christopher Street Day, kurz CSD, geht übrigens auf Proteste auf der Christopher Street in New York City des Jahres 1969 zurück. Beim sogenannten Stonewall-Aufstand setzten sich Gäste und Passantinnen gegen Polizeikräfte zur Wehr, die zum wiederholten Male Besucherinnen und Besucher der queeren Bar Stonewall drangsalierten.
Seit den Siebzigern hat sich der Christopher Street Day weltweit in zahlreichen Ländern und Städten etabliert. Der weltweit größte CSD mit fast vier Millionen Demonstrantinnen und Demonstranten fand in São Paolo, Brasilien, statt, in Deutschland ist Köln die „CSD-Hauptstadt“. Mit 1,4 Millionen Teilnehmenden ist die Kölner Parade sogar die größte in ganz Europa. Berlin belegt deutschlandweit den zweiten Platz, gefolgt von Stuttgart.
Laut Veranstaltern liege dieses Jahr ein besonderer Fokus auf den LGBTQIA+-Communitys in afrikanischen und osteuropäischen Ländern sowie auf der viel angefeindeten Drag-Community. Auch das Selbstbestimmungsgesetz ist Teil des großen Forderungskataloges, der vorab veröffentlicht wurde. Im Verlauf des Tages sollten ungefähr 150 Reden gehalten werden.
Einige Demonstranten rufen: „Wegner weg!“
Zum Job des Regierenden Bürgermeisters gehört es, die Eröffnungsrede zu halten; für den im Februar gewählten Kai Wegner (CDU) war das alles andere als ein Heimspiel. Dabei kam er mit guten Nachrichten aufs Podium: Er kündigte sogar eine Initiative zur Erweiterung des Grundgesetzes an. Die Teilnehmer des CSD schenkten dem christdemokratischen Politiker dennoch wenig Gehör: Wegner wurde ausgebuht, vereinzelt wurden Rufe wie „Wegner weg!“ laut.
Wegner sprach in seiner Rede davon, Artikel drei des Grundgesetzes ändern zu wollen, eine Forderung, die schon lange auf der Liste der Anliegen der queeren Community stand. „Da muss die sexuelle Identität mit rein. Das ist mein Versprechen“, so der Bürgermeister. Einen Vertrauensvorschuss von der LGBTQ-Community bekommt er am heutigen Tag jedenfalls nicht.
Die Grünen haben da definitiv ein besseres Standing auf dem CSD und hatten wie die Union einen eigenen Abschnitt auf dem Umzug. Zwar haben sie keinen eigenen Wagen wie die evangelische Kirche, dafür aber viele „Bündnis 90/Die Grünen“-Fahnen in einer Regenbogen-Edition.
Unmittelbar vor der Mutterpartei läuft die Grüne Jugend, darunter auch Kasimir Heldmann, Landessprecher der Grünen Jugend. „Für uns ist es wichtig zu zeigen, dass wir für alle Menschen einstehen“, sagt der 23-Jährige, der zu gegebenem Anlass glitzernden Eyeliner und ein pinkfarbenes T-Shirt trägt. Sowohl die Jugendorganisation als auch die Bundestagsfraktion der Grünen ist für das Selbstbestimmungsgesetz und fordert die Abschaffung des Transsexuellengesetzes.

Dass Kai Wegner von den Besucherinnen und Besuchern des CSD ausgebuht wurde, kann Heldmann nachvollziehen. „Die CDU und Kai Wegner präsentieren sich hier auf dem CSD sehr queerfreundlich, wenn man deren Politik anguckt, sieht man allerdings das komplette Gegenteil“, sagt er und bezeichnet Wegners Solidarisierungsversuch mit der LGBTQ-Community als „mehr Schein als Sein“. „Es kann nicht sein, dass wir 2023 noch nach dem Geschlecht unterscheiden, egal um welche Rechte es geht“, so Heldmann weiter.
„Seit dem Krieg nichts Russisches in mir“
Der Umzug erreicht gegen 17 Uhr die Siegessäule, die ersten Wagen kommen vorne zum Stehen oder biegen spätestens in der Mitte der Straße des 17. Juni nach links ab. Vorne mit dabei ist der Pride-Wagen der Ukraine, auf dem groß „Be Pride like Ukraine“ geschrieben steht und um den ringsherum viele ukrainische Flaggen wehen.
Auch Mykola hat sich die blau-gelbe Flagge um die Schultern gebunden. Er stammt aus der Ukraine, wanderte aber vor sechs Jahren aus, weil in der Ukraine die gleichgeschlechtliche Ehe verboten ist. Heute steht er mit seinem Freund Maxim auf dem CSD in Berlin und versucht, so gut es geht, die LGBTQI-Menschen in seiner Heimat zu unterstützen.

Maxim ist Russe, wiegelt aber sofort ab: „Ich habe seit dem Krieg nichts Russisches mehr in mir.“ Für die Unterdrückung und Ausgrenzung von Schwulen und Lesben in der Ukraine machen beide einstimmig Russland verantwortlich. Seit dem Krieg habe sich die Situation für queere Menschen in der Ukraine verschlimmert. „Aber die Menschen kämpfen“, sagt Mykola und klingt festentschlossen. „All of them are fighters“ – jeder und jede von ihnen ist ein Kämpfer.






































