Ukraine-Krieg

Nach Berlin geflüchtet: Das Leid der jüdischen Ukrainer

Vor allem jüdische Frauen und Kinder sind aus der Ukraine nach Berlin geflüchtet. Viele Männer kämpfen gegen die russische Armee, obwohl sie Russisch sprechen.

Mira Sepitorowa und ihr Urenkel Ilya in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
Mira Sepitorowa und ihr Urenkel Ilya in der Jüdischen Gemeinde zu BerlinVolkmar Otto

Mira Sepitorowa hatte keine Wahl. Ein Bus hielt am 12. März vor der Synagoge der Großstadt Dnipro im Osten der Ukraine. Die jüdische Gemeinde in der viertgrößten Stadt der Ukraine hatte kurz zuvor ihren älteren Mitgliedern sowie Frauen und Kindern aus der Religionsgemeinschaft ein Angebot für eine Evakuierung aus der Ukraine gemacht. Alle, die es annehmen wollten, sollten sich zu einer bestimmten Zeit vor der Synagoge einfinden. Dort sollte ein Reisebus auf sie warten.

Sepitorowa und ihr siebenjähriger Urenkel Ilya hatten Tage und Nächte im Bunker verbracht, ohne Tageslicht zu sehen. Beide waren mit ihren Kräften am Ende. Sie erfuhren erst auf dem Synagogen-Vorplatz, dass die Reise nach Berlin geht.

Mira Sepitorowa isst knapp zwei Wochen später mit anderen Geflüchteten an Tischen in einem Versammlungsraum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin an der Fasanenstraße zu Mittag. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sitzen vor dampfenden Tellern, Besteck klappert. Kleidung und Spielsachen stapeln sich auf anderen Tischen im hinteren Teil des Saales. Einige gespendete Teddybären tragen Kippa.

Die 66 Jahre alte Urgroßmutter aus Dnipro erzählt, dass der Bus Berlin nach sechs Tagen Fahrt erreicht habe. Er habe die Ukraine zunächst über einen Grenzübergang in die benachbarte Republik Moldau verlassen. Die Reise sei von dort weitergegangen, bis sie und ihr Urenkel am Gemeindezentrum an der Fasanenstraße aus dem Bus steigen konnten. Sie lebten nun in einem Hotelzimmer in Berlin, das die Jüdische Gemeinde organisiert habe, berichtet die Ukrainerin.

Ilya aus Dnipro besucht bald eine Berliner Grundschule

Urenkel Ilya soll bald die jüdische Grundschule besuchen. Seine Urgroßmutter wird die freie Zeit an den Vormittagen ohne Ilya in ihrem Hotel oder im jüdischen Gemeindezentrum vielleicht mit Erinnerungen verbringen.

Sie erzählt vom Leben in Dnipro, einer Stadt mit circa 987.000 Einwohnern und auf halbem Weg zwischen Kiew und dem von russischen Streitkräften eingeschlossenen Mariupol am Asowschen Meer, von der jüdischen Gemeinde dort und einem lebendigen Kulturangebot. Mit ihrem in Dnipro ausharrenden Mann telefoniere sie regelmäßig, erzählt Sepitorowa. „Er ist bei den Selbstverteidigungskräften der Stadt.“

Mein Mann ist bei den Selbstverteidigungskräften.

Mira Sepitorowa, Ukrainerin aus Dnipro

Männer über 60 dürfen anders als die jüngeren im wehrfähigen Alter die Ukraine seit dem Beginn des russischen Angriffs verlassen. Einzelne Männer im Seniorenalter sitzen beim Mittagessen der Jüdischen Gemeinde zwischen vielen Frauen und Kindern. Sepitorowas Mann wollte in Dnipro bleiben, er musste nicht. So hat sich auch der Mann der 55-jährigen Olena Braga aus Dnipro entschieden. Er will ebenfalls helfen, die Heimatstadt gegen die Russen zu verteidigen. Olena Braga hält ihre neunjährige Enkelin Sophia an der Hand. „Wir saßen die ganze Zeit im Luftschutzkeller und Sophia hat nur noch geweint.“ Jetzt rollen der Großmutter Tränen über die Wangen.

3500 Juden sind aus der Ukraine nach Deutschland geflohen

Die Jüdische Gemeinde hat eigenen Angaben zufolge seit Kriegsbeginn 1000 jüdische Geflüchtete aufgenommen. Viele seien bei in Berlin lebenden Verwandten und Freunden untergekommen, sagt Ilan Kiesling, Sprecher der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. „Wir haben 150 Ukrainer in Hotels untergebracht.“

3500 jüdische Ukrainer sollen einer Mitteilung des Bundesinnenministeriums zufolge seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar nach Deutschland geflohen sein. Der Zentralrat der Juden in Deutschland schätzt, dass eine höhere vierstellige Zahl an jüdischen Vertriebenen aus der Ukraine nach Deutschland kommen könnte.

Für die jüdischen Geflüchteten in Berlin gibt es an der Fasanenstraße ein warmes Mittagessen und Beratungsangebote im Gemeindezentrum. Für die Kinder gibt es dort eine Spielecke. Sie sollen zwischen Puppen und Holzklötzen den Krieg für einen Moment vergessen können. Der Krieg und die nach der Flucht ankommenden Ukrainer stellten das normale Leben der Gemeinde derzeit auf den Kopf, meint Kiesling. Dort, wo es sonst Veranstaltungen gibt, wird Mittagessen serviert oder es lagern Hilfsgüter. „Unsere Mitglieder leisten zurzeit Fantastisches.“

Ukraine-Helfer bitten: Berliner, lasst nicht nach!

Von Jochen Knoblach, Cedric Rehman

25.03.2022

Die Gemeindemitglieder helfen auch bei den Formalitäten. Deutschland hat die Regeln für die Zuwanderung jüdischer Ukrainer vereinfacht. Die Bundesrepublik gestattete 1990 ausdrücklich jüdische Einwanderung aus der damals noch bestehenden UdSSR nach Deutschland. Hunderttausende kamen in den 1990er-Jahren als sogenannte Kontingentflüchtlinge – in Sorge vor Instabilität, Kriegen und anwachsendem Antisemitismus in dem 1991 zerbrochenen Riesenreich – in die Bundesrepublik. Sie konnten Anträge für eine Einwanderung allerdings nur in ihren Heimatländern stellen.

Sie wollen zurück in die Ukraine

Nun ist das für jüdische Ukrainer auch in Deutschland möglich. Menschen, die alles zurückgelassen haben, sollen rasch eine Perspektive finden. Die Jüdische Gemeinde unterstützt sie dabei. Mira Sepitorowa erzählt, dass sie die entsprechenden Papiere bereits ausgefüllt habe. Doch sie sagt auch, dass sie nur einen Wunsch habe: „Ich will nach Hause.“

Schätzungen über die jüdische Bevölkerung in der Ukraine variieren stark und reichen von 49.000 bis zu 400.000 Menschen. Quellen sprechen allein in der Großstadt Dnipro von bis zu 60.000 jüdischen Einwohnern. Die Diskrepanz zwischen den Schätzungen ergibt sich aus den Fragen, wer sich selbst nach Jahrzehnten des verordneten Atheismus und einem besonders in den 1950er-Jahren unter Stalin virulenten Antisemitismus in der UdSSR noch als jüdisch definiert oder im religiösen Sinn als jüdisch gilt. Für das orthodoxe und das konservative Judentum ist dafür eine jüdische Mutter die Voraussetzung.

Einig sind sich die Experten darüber, dass die jüdische Gemeinde der Ukraine eine der größten auf dem europäischen Kontinent ist. Doch sie ist nicht zu vergleichen mit dem, was sie einst war. Die jüdische Ukraine war das Zentrum des osteuropäischen Judentums und der jiddisch-sprachigen Kultur in der Welt. 2,7 Millionen Juden lebten vor dem deutschen Überfall im Jahr 1941 in der damaligen Sowjetrepublik.

Jüdische Gemeinden wurden dort bereits im 10. Jahrhundert dokumentiert. Damals herrschte das Großreich der Kiewer Rus. Polen, die Habsburger und später das Zarenreich kontrollierten in den folgenden Jahrhunderten einer wechselhaften Geschichte Gebiete der heutigen Ukraine. Der Westen des Landes gehörte über Jahrhunderte zum Königreich Polen. Dort genossen Juden mehr Glaubensfreiheit als in anderen Teilen Europas.

Juden und Christen wurden unter den russischen Zaren in der Ukraine stärker getrennt. Juden lebten in eigenen Stadtteilen, den sogenannten Schtetl. Heute wird der Begriff nicht selten mit Klezmer-Klängen romantisiert. Die Realität war dagegen von Armut und Angst vor Pogromen geprägt.

Die Wehrmacht überfiel 1941 die UdSSR und eroberte die Ukraine. Sogenannte Einsatzgruppen  erschossen eine Million ukrainische Juden. Sinnbild für den Holocaust wurde die Schlucht von Babyn Jar. Sie liegt auf dem Stadtgebiet von Kiew. Deutsche Einsatz- und Sonderkommandos ermordeten dort im September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder.

Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, ist Jude

Zurück nach Berlin, zurück in die Jüdische Gemeinde. Die Gesichter von Mira Sepitorowa und Olena Braga hellen sich auf, als der Name des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj fällt. Der Präsident ist nicht nur das Staatschef gewordene Symbol des ukrainischen Widerstands gegen die russische Invasion. Er ist auch Jude. Der russische Präsident Putin begründet seinen Angriff auf die Ukraine mit der Notwendigkeit, das Land von einer von Selenskyj geführten Naziherrschaft zu befreien. „Was Putin da sagt, versteht niemand. Die Russen bringen doch jetzt nur Menschen um“, sagt Olena Braga.

Was Putin da sagt, versteht niemand.

Olena Braga, Ukrainerin aus Dnipro

Die Sehnsucht nach der Heimat ist bei den Ukrainern an der Fasanenstraße mit Händen zu greifen. Israel hat die ukrainischen Juden eingeladen, in den jüdischen Staat auszuwandern. Doch israelische Medien wie die Tageszeitung Haaretz berichteten Mitte März, dass ukrainische Juden eher zurückhaltend auf die ausgestreckte Hand Israels reagierten. Eine Flucht in das geografisch nähere Deutschland erschiene vielen attraktiver als die Alija, die jüdische Rückkehr ins Heilige Land, bemerkte Haaretz.

Auch für Mira Sepitorowa scheint Israel zu weit weg zu sein von Dnipro. An das andere Klima könne sie sich nicht gewöhnen, meint sie. Ein älterer Mann wird hellhörig, als im Gespräch das Stichwort „Israel“ fällt. Er will seine Meinung sagen. Und tut es: „Natürlich fühle ich mich als Jude Israel verbunden. Aber ich bin Europäer. Also bleibe ich in Europa.“

Warum wollen so viele jüdische Flüchtlinge nach Berlin?

Beim Gedanken an die Zuflucht ausgerechnet in dem Land, das Babyn Jar und millionenfachen Mord an Juden zu verantworten hat, scheint den Ukrainern nicht unbehaglich zu sein. „Wir haben erst beim Losfahren erfahren, dass es nach Berlin geht“, sagt Mira Sepitorowa. Sie klingt, als wäre ihr damals jeder Ort der Welt recht gewesen, auf den keine Bomben fallen. „Wir mögen Deutschland“, sagt Olena Braga. Sie lächelt jetzt sogar.

Jüngere Ukrainer für Gespräche zu finden, warum sie als Juden ausgerechnet nach Deutschland geflohen sind, ist ein schwieriges Unterfangen. Helfer teilen mit, dass ihre Bekannten kein Interesse an Interviews hätten. Auch Elena Eyngorn hat sich unter den Ukrainern umgehört, die sie unterstützt. Eyngorn wurde selbst in der Ukraine geboren und kam mit ihrer Familie in den 90er-Jahren im Zuge der jüdischen Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland.

Die Helferin beobachtet bei jüdischen Ukrainern der jüngeren Generation Unmut, nun in Deutschland auf ihren Glauben reduziert zu werden. „Viele sind nicht besonders religiös“, meint Eyngorn. Die Gründe, warum viele jüngere ukrainische Juden besonders nach Berlin flüchten, seien praktische. „Berlin ist eine europäische Hauptstadt. Hier sehen viele gute Arbeitsmöglichkeiten. Oder sie haben bereits Verwandte oder Freunde hier. Etwas, woran sie anknüpfen können.“

Vielen ist der Gedanke unangenehm, die Deutschen könnten sie anders behandeln als andere Geflüchtete.

Elena Eyngorn, Helferin

Fragen nach Babyn Jar und der Schoah und die deutschen Diskurse um eine Wiedergutmachung historischer Schuld durch besondere Aufmerksamkeit für jüdische Geflüchtete gingen an den Bedürfnissen junger Ukrainer vorbei. Ihnen gehe nun alles Mögliche durch den Kopf, nur nicht die deutschen Befindlichkeiten, erklärt Eyngorn. „Vielen ist der Gedanke unangenehm, die Deutschen könnten sie anders behandeln als andere Geflüchtete aus der Ukraine.“ Das Interesse der deutschen Öffentlichkeit und der Medien überfordere sie deshalb. „Sie haben im Moment ohnehin ein Misstrauen gegenüber allem“, sagt Eyngorn. Man könnte es vielleicht auch Kriegsschock nennen.