Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar

Babyn Jar: Wie Putins Krieg die Erinnerung bedroht

Das Gedenken an Babyn Jar wird von Russland und der Ukraine beansprucht. Jetzt wurden von Putin Ziele nahe der Gedenkstätte angegriffen. Eine Spurensuche.

Das „Spiegelfeld“ – das erste vom Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC) realisierte Projekt in der Gedenkstätte in Kiew, Ukraine
Das „Spiegelfeld“ – das erste vom Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC) realisierte Projekt in der Gedenkstätte in Kiew, UkraineUkrinform

Seit Jahrzehnten wird in der Ukraine um eine angemessene Sprache gerungen, wie man an Babyn Jar erinnern könne, wo deutsche Einsatz- und Sonderkommandos im September 1941 innerhalb von 48 Stunden über 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordeten. Dieses Ringen wurde zu einem Kräftemessen zwischen einer ukrainischen und einer russischen Lesart der Geschichte.

Am 27. Januar 2022 wandte sich einer der wichtigsten Rabbiner der Ukraine, Rabbi Moshe Azmann, vom schneebedeckten Babyn-Jar-Gelände aus an Putin: Er solle nicht erneut Zerstörung über das Land bringen. Bereits im Sommer 2021 hatte der ukrainisch-jüdische Historiker Yohan Petrovsky-Shtern vor einer Invasion Kiews gewarnt, die in Babyn Jar ihren Anfang nehmen könnte. Wie schnell jene Warnungen konkret wurden, zeigte sich, als diese Woche der Fernsehturm in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte von Babyn Jar zum Ziel eines russischen Bombenangriffs wurde.

Von vielen als Angriff auf den Erinnerungsort selbst begriffen, führt diese dunkle Episode des Angriffskriegs Russlands vor, dass auch die Debatte über widerstreitende Erinnerungsnarrative nicht mehr nur abstrakt ist. Der ukrainische Präsident Selenskyj verurteilte den Angriff, bei dem fünf Menschen getötet wurden, aufs schärfste. Er bezog sich dabei auch auf die historische Symbolik: „Wofür ‚Nie wieder‘ 80 Jahre lang wiederholen, wenn die Welt schweigt, sobald eine Bombe auf Babyn Jar fällt? Fünf weitere Leben sind verloren. Die Geschichte wiederholt sich …“

80 Jahre nach dem Massaker von Babyn Jar

Anfang Oktober vergangenen Jahres verwandelte sich die Gedenkstätte Babyn Jar für einige Tage zum Austragungsort einer Veranstaltungsreihe anlässlich des 80. Jahresgedenkens. Gerade einmal zwei Stationen sind es vom Stadtzentrum aus mit der Metrolinie 3 bis zur Station Dorohoschytschi. Tritt man aus dieser besonders tief gelegenen Metrostation an die Luft, setzt man den Fuß auf von NS-Verbrechen geschundenen Boden: Die Schlucht Babyn Jar ist heute ein öffentlicher Park.

Nur selten hält jemand vor den Erinnerungszeichen inne, die hier wie willkürlich auf dem Gelände verteilt sind. Seitdem in der unabhängigen Ukraine ein differenziertes Gedenken an den Holocaust in der Öffentlichkeit möglich wurde, ist Babyn Jar zu einem Symbol für den „Holocaust durch Kugeln“ geworden: So bezeichnete der französische Pfarrer und Autor Patrick Desbois die rassistischen Massenerschießungen in Osteuropa, die der systematischen Vernichtung von Jüdinnen und Juden durch „munitionssparenden“ Einsatz von Gaskammern vorausgegangen waren.

Am Abend des 5. Oktobers 2021 scheint der „gewöhnliche“ Parkbetrieb in Bewegung versetzt: Gäste einer der vielen feierlichen Veranstaltungen – der Premiere des Films „Babyn Jar. Kontext“ des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa – mischen sich hier unter das Parkpublikum. Achtsam, aber zielgerichtet bahnen sie sich ihren Weg durch den Park. Der Erinnerungsraum von Babyn Jar besteht aus rund drei Dutzend Denkmälern, die im Lauf der Jahrzehnte im Andenken an die verschiedenen Opfergruppen aufgestellt wurden.

Was fehlt: ein staatliches Denkmal, welches das fragmentierte Gedächtnis ordnen würde. Schon die Tatsache, dass die breite Verkehrsader entlang der historischen Stätte der ukrainischen Dichterin und glühenden Antisemitin Olena Teliha gewidmet wurde, ist ein Hinweis für die teils widersprüchliche Komplexität dieses Orts.

Menora, eröffnet 1991, im Veranstaltungspavillon - einige Tage vor dem 80. Jahresgedenken von Babyn Jar, aufgenommen Ende September 2021
Menora, eröffnet 1991, im Veranstaltungspavillon - einige Tage vor dem 80. Jahresgedenken von Babyn Jar, aufgenommen Ende September 2021Elisabeth Bauer

Russische und ukrainische Erinnerung

Bewegt man sich am Denkmal für die in Babyn Jar ermordeten Kinder vorbei, streift man auch das 2019 über dem historischen Ort eröffnete „Spiegelfeld“. Das neueste Objekt: die „Crystal Wall of Crying“ der Künstlerin Marina Abramovic. Daneben wird ein großes Veranstaltungszelt sichtbar: Es verdeckt die Sicht auf die 1991 eingeweihte „Menora“ – das erste Erinnerungszeichen an diesem Ort, das spezifisch für jüdische Opfer bestimmt war.

Hinter der Zeltplane liegen eine Zuschauertribüne, die Menora, und eine Bühne mit großer Leinwand, flankiert von Bannern, auf denen eine digitale Struktur aufflackert: das Logo des Babyn Yar Holocaust Memorial Centers (BYHMC) – angetreten, eine Sprache für die Geschichte des Ortes zu finden.

In seiner Rede im Rahmen einer exklusiven Gedenkveranstaltung vor Ort verbindet der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko ungeschickt den Holocaust, die Hungerphase Holodomor und die russische Annexion der Krim. Das suggeriert Äquivalenz, die historischer Grundlage entbehrt, die ukrainische Geschichtspolitik jedoch auch auszeichnet. Klitschko spricht langsam und betont. Zuweilen bekommt seine Stimme einen aggressiven Tonfall: Allein die Erwähnung der russischen Aggressoren stimmt ihn zornig.

Auch Regisseur Sergei Loznitsa ist wütend, allerdings aus einem anderen Grund. Nervös – als einziger hier spricht er Russisch – betont er, auch die ukrainische Kollaboration mit den Nazis dürfe nicht vergessen werden. Ihn stört die politische Vereinfachung der Erinnerung, wonach ukrainische Nationalisten märtyrerhaft als Kämpfer für die staatliche Unabhängigkeit verehrt werden, während über jegliche Beteiligung am Holocaust geschwiegen wird.

Das BYHMC geht auf eine Entscheidung des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko und des Bürgermeisters Klitschko zurück. 2016 wurde mit den Geldern der russischen Investoren Michail Friedman, German Khan und Pavel Fuchs eine Stiftung gegründet, von der gesagt wird, sie pflegte enge Beziehungen zum Kreml. Präsident Selenskyj steht hinter dem Projekt. Klitschko, die Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Alexievich oder Joschka Fischer gehören dem Aufsichtsrat an.

Als 2019 bekannt wurde, dass der russische Filmemacher Ilya Khrzhanovsky die künstlerische Leitung übernehmen würde, häuften sich kritische Kommentare aus Wissenschaft und Medien. Viele forderten Khrzhanovskys Rücktritt. Dem Künstler-Kurator wurde ein totalitärer Umgang mit historischem Gedächtnis und Kunst vorgeworfen.

Blick auf ein zerstörtes Gebäude nach einem russischen Militärschlag auf einen Fernsehturm in der Nähe von Babyn Jar in Kiew, Ukraine, vom 2. März 2022
Blick auf ein zerstörtes Gebäude nach einem russischen Militärschlag auf einen Fernsehturm in der Nähe von Babyn Jar in Kiew, Ukraine, vom 2. März 2022IMAGO

Erinnerungspolitische Grabenkämpfe

Doch das BYHMC ist nicht die einzige Initiative, die in erinnerungspolitischen Diskussionen über Babyn Jar mitmischt. Als „russisch“ wird das Projekt von einer „ukrainischen“ Initiative bezeichnet, die aus dem 2003 gegründeten Babyn-Jar-Komitee hervorgegangen ist und sich ebenso auf staatliche Entscheidungsträger beruft, aber eben auch auf ukrainische Forschungseinrichtungen und jüdische Institutionen wie The Association of Jewish Organizations and Communities (VAAD).

Das Komitee sieht sich als Fortsetzung der dissidentischen Bewegung der 1960/70er-Jahre. Tatsächlich ist es insbesondere ukrainischen und russischen, teils jüdischen Aktivisten zu verdanken, dass sich in der sowjetischen Ära so etwas wie eine ukrainische Erinnerungskultur etablieren konnte. Einst hatten Autoren wie Viktor Nekrasov gegen das gezielte Vergessen auf staatlicher Ebene protestiert. Seit der ukrainischen Unabhängigkeit kämpfen sie gegen die Tatenlosigkeit der Politik, wenn es um die Schaffung eines einheitlichen Erinnerungsnarrativs geht.

Nach jahrelangem Engagement und umfassenden Studien zu Babyn Jar wird 2005 ein weiträumiges Areal zum denkmalgeschützten Reservat bestimmt. Zwei Jahre später wird ihm nationaler Status zugesprochen. Mit diesem Etappensieg, so hoffte man, würde die interessengeleitete Bebauung gestoppt werden können. Doch selbst dieser Schritt hindert private Initiativen nicht, weitere Vorstöße zu unternehmen.

Eine „ukrainische“ und „russische“ Initiative

2016 nehmen zwei weitere Konzeptentwürfe Form an – erstellt von der „ukrainischen“ und „russischen“ Initiative. Während es sich bei letzterer um das staatlich-private Projekt handelt, hat sich das ukrainische Konzept noch nicht manifestieren können. Das Bauverbot auf dem staatlich geschützten Territorium hat die private Initiative bereits mehrfach gebrochen.

Die BYHMC-Eingriffe in Babyn Jar wirken „innovativ“: In einer Mulde am Fuße des noch immer erkennbaren Abhangs liegt ein rundes, flaches Metallpodest. Hohle Stehlen, von innen beleuchtet, ragen baumstammartig in die Höhe. Das begehbare Objekt wird phasenweise in Vibration versetzt: Es übersetzt die Abstraktheit der Menschenleben, die hier maschinenhaft niedergeschossen wurden, in elektrische Schwingungen. Auf Ukrainisch verlesene Opfernamen und jiddische Melodien aus der Vorkriegszeit sowie pastorale Gesänge schallen über das „Spiegelfeld“.

Im Zuge des 80. Jahresgedenkens wird wenige Meter weiter auch Marina Abramovics vierzig Meter lange und drei Meter hohe „kristallene Klagemauer“ vorgestellt: Aus ukrainischer Kohle und brasilianischen Quarzkristallen zusammengesetzt soll sie eine symbolische Verlängerung der Klagemauer in Jerusalem darstellen.

Ein drittes Objekt, das der Erinnerungslandschaft wie ein Fremdkörper aufgesetzt wurde: die „symbolische Synagoge“ aus ukrainischer Eiche in Form einer aufgestellten Thora, die geöffnet und geschlossen werden kann. Dreimal wurde somit gegen die Bauverordnung der Denkmalzone verstoßen, die lediglich mobile Pavillons erlaubt.

Ein Krieg um die Erinnerung in Kiew

Derartigen Erinnerungskriegen ist gemein, dass sie sich in symbolischer Distanz zu ihrem Gegenstand abspielen. Meist ist es eine mythologisierende Erzählung, derer sich die um das Gut „ihrer“ historischen Wahrheit konkurrierenden Parteien bedienen.

Die Anhänger der ukrainischen Initiative sind indes überzeugt: Das „russische“ Projekt sei ein Hebel im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Khrzhanovsky und die wichtigsten Stakeholder stünden für eine verzerrte Lesart der Geschichte. Demnach würden alle ukrainischen Zeitgenossen ohne Differenzierung als Kollaborateure und Antisemiten – im Putin’schen Politjargon: als „Faschisten“ – dargestellt. Dem Gedächtnis von Babyn Jar würde somit ein „russisches“ Geschichtsnarrativ aufgedrückt.

Wird Babyn Jar also zur Projektionsfläche der Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine? Das passte zur Analyse russischer Kriegsstrategien des Politikwissenschaftlers Andreas Umland, wonach sich die russische Regierung auch erinnerungspolitischer Waffen bediene, um den ukrainischen Staat zu zerstören. Auch Yohanan Petrovsky-Shtern appelliert im Gespräch mit dem ukrainischen Fernsehsender Hromadske International an politische und öffentliche Figuren: „Sie müssen verstehen, dass Putin und sein Helfer Vladislav Surkov drei oder vier Oligarchen, die ihr Geld in BYHMC investieren, als Marionetten benutzen.“

Ein Baum in der Denkmallandschaft von Babyn Jar, nahe des 1976 eröffneten Denkmals, aufgenommen im Dezember 2021.
Ein Baum in der Denkmallandschaft von Babyn Jar, nahe des 1976 eröffneten Denkmals, aufgenommen im Dezember 2021.Elisabeth Bauer

Die Konfrontation von Erinnerung und Ideologie

Während das Geschichtsnarrativ im Putin-Russland sowjetische Kollaboration während der doppelten Besatzungsphase mit den Nazis ausschließt, stehen Fragen nach der Rolle der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) beziehungsweise der Bandera-Fraktion (OUN-B) im Zentrum ukrainischer Erinnerungspolitik. Neben dem „Dekommunisierungsgesetz“, das alles „Sowjetische“ aus der ukrainischen Realität tilgen will, werde auch eine offizielle Affirmation der OUN auf breiter gesellschaftlicher Ebene vorangetrieben, erklärt Andreas Umland.

Das illustriert auch der an Babyn Jar angrenzende Straßenverlauf: Die Olena-Teliha-Straße im Nordwesten der Stadt trifft hier auf den Stepan-Bandera-Prospekt. Der OUN-Ideologe Bandera ist wegen seiner Kollaboration mit den Nazis eine in pro-westlichen Kreisen der Ukraine hochumstrittene Figur. Bandera organisierte die Pogrome in Lviv maßgeblich mit. Auf mehreren Denkmälern von Babyn Jar wird seit den Neunzigern an ukrainische Nationalisten erinnert. Olena Teliha wird auf der Inschrift eines OUN-Gedenksteins gesondert hervorgehoben.

„Wir lernen es erst jetzt, aus dem schwarz-weißen Kaleidoskop auszutreten, wo alle Sowjets schlecht sind und alle Ukrainer gut“, sagte Anton Drobovich, Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung am Tag des 80. Jahresgedenkens. „Aber bezüglich einiger Punkte haben wir keine Antwort“. Wenn es etwa um Kollaborationen ukrainischer Nationalisten mit den Nazis, zivile Denunziationen oder Analysen von Überlebensstrategien während der Besatzungszeit gehe, wolle man auf Regierungsebene keine klare Position beziehen.

Angesichts des russischen Krieges ist die Schaffung eines verbindenden Geschichtsnarrativs aus ukrainischer Sicht essenziell. Josef Zissels, Vertreter der staatlichen Initiative, hatte wenige Wochen vor Beginn des Angriffskrieges Russlands im Namen der ukrainischen Juden ein Schreiben an Bundeskanzler Olaf Scholz initiiert, das entschiedenere Maßnahmen Deutschlands im Umgang mit Russland forderte – und die historische Verantwortung Deutschlands der Ukraine gegenüber betont.

Was wird aus Babyn Jar?

Womit überzeugt die „russische“ Initiative ukrainische wie internationale Intellektuelle und Politiker, darunter Svetlana Alexievich, Ronald Lauder oder Natan Sharansky, dem Aufsichtsrat beizutreten, oder ausländische Regierungen – auch die deutsche ist im Gespräch –, das Projekt zu finanzieren? Warum richten sich Menschen aus Kunst und Kultur nicht entschiedener gegen ein so kontroverses Projektvorhaben an einem so sensiblen Ort? Petrovsky-Shtern ist überzeugt: „Ignoranz, Prestige und Geld“ – schließlich wurden für das BYHMC rund 100 Millionen Dollar veranschlagt.

Am Abend des 5. Oktobers sind neben Marina Abramovic auch israelische Diplomaten und internationale Politikerinnen unter den geladenen Gästen. Dabei findet die offizielle Gedenkzeremonie mit Frank-Walter Steinmeier und dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog erst am Folgetag statt. Neben politischen Ansprachen umfasst das Veranstaltungsprogramm die Uraufführung des Chorwerks „In Memoriam“ von Valentyn Sylvestrov sowie ein Screening des Dokumentarfilms „Babyn Jar. Kontext“.

Der Film arbeitet sich an dem Massenmord selbst sowie der juristischen Aufarbeitung des Massakers von Babyn Jar ab. Das Bildmaterial ist nicht nur dokumentarisch, sondern oftmals  auch propagandistisch: Eine Reihe von Filmsequenzen nimmt die Täterperspektive ein oder bildet NS-Propagandamaterial ab, ohne es als solches zu kennzeichnen.

Dokumentation einer Topographie des Verbrechens

Der Film thematisiert den Kontext des zweitägigen Massakers von Babyn Jar: Am 29. September 1941 – es war Jom Kippur, nach jüdischer Tradition der Tag der Vergebung – setzte sich ein Menschenzug von einer zentralen Sammelstelle aus zu Fuß Richtung Stadtrand in Bewegung. Die Menschen waren sich im Unklaren darüber, wohin sie geführt wurden. So machten etwa Gerüchte die Runde, dass man sie nach Palästina evakuieren würde. Was folgte, war keine Evakuierung, sondern die größte einzelne Mord-Aktion des gesamten Holocausts.

Bis zum Ende des 30. Septembers war ein Großteil der jüdischen Bevölkerung Kiews von den Nazis ermordet worden. Bis Ende der Besatzungszeit am 6. November 1943 erschossen deutsche Besatzer hier unter Mithilfe lokaler Kollaborateure zwischen 70.000 und 100.000 (manche Quellen nennen bis zu 200.000) Menschen.

Neben Kiewer Jüdinnen und Juden fielen auch andere Minderheiten wie Roma, psychisch Kranke, Rotarmisten oder Gegner des NS-Regimes und einfache Zivilisten in das Raster der Nazis. Die Nazis nutzten bei ihren Mordaktionen die Topographie des Ortes aus: Die etwa 2,5 Kilometer lange und 50 Meter tiefe Schlucht als Massengrab zu verwenden, war in den Augen der Verbrecher praktisch und effizient, da nicht erst Erde ausgehoben werden musste. Am südlichen Ende der Schlucht wurde im Mai 1942 das Konzentrationslager Syrez eingerichtet.

Die „Bloodlands“ im Krieg

Nach einer kurzen Phase der offiziellen Aufarbeitung nach Kriegsende – im Zuge derer die wenigen Überlebenden der Massaker Zeugenberichte ablegten und deutsche Haupttäter zur Rechenschaft gezogen wurden – verwendete das sowjetische Regime bald große Anstrengungen darauf, die Erinnerung zu überschreiben. Nicht zuletzt seit der Anti-Kosmopolitismus-Kampagne der späten 1940er-Jahre wurde staatlicher Antisemitismus geschürt.

Ohne die jüdischen Opfer zu benennen, wollte die sowjetisch-ukrainische Regierung im März 1945 zusammen mit der kommunistischen Partei ein Denkmal in Babyn Jar aufstellen. Die schwarze Granitpyramide wurde aufgrund vermeintlich ästhetischer Bedenken aber nie verwirklicht. Bis zu Stalins Tod 1953 kulminierten die antisemitischen Stimmungen der politischen Führung. Im August 1952, in der „Nacht der ermordeten Dichter“, fielen 13 jüdische Intellektuelle den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. In den 50er-Jahren wurde Babyn Jar „zugeschüttet“ – der Abraum der benachbarten Ziegelfabrik wurde in die Schlucht geleitet.

In den 90er-Jahren überwog ein zersplitterter Erinnerungsdiskurs: Die Suche nach einem wiedererweckten nationalen Selbstbild ging in der nunmehr unabhängigen Ukraine mit der Suche nach einem gemeinsamen Erinnerungskanon einher. Diese Neujustierung der Vergangenheit ist bis heute nicht abgeschlossen. Sie wird durch das Erbe zweier totalitärer Systeme erschwert, deren Verbrechen sich überlagernde Topographien des Todes hinterlassen haben – der Historiker Timothy Snyder nennt diese „Bloodlands“.

Die ukrainischen Bloodlands werden aktuell mit dem Blut weiterer Menschenopfer übergossen. Gleichzeitig wird der russische Raketenangriff auf den Fernsehturm am Rande des Babyn-Jar-Geländes von vielen auch als Angriff auf die ukrainische Erinnerungskultur gedeutet.

Die Leerstellen deutscher Perspektiven

Erinnerungskultur ist das Ergebnis jahrelanger Debatten auf zivilgesellschaftlicher und politischer Ebene. Auch die oft gelobte deutsche Erinnerungskultur erfordert immer wieder neue Aushandlungsprozesse, wie jüngst der über Monate ausgefochtene „zweite Historikerstreit“ zeigte. Doch Erinnerung droht stets ins Formelhafte umzuschlagen – oder gar ins Vergessen, wie es Selenskyj in einem Tweet vom 1. März bedauerte.

In der deutschen Erinnerungslandschaft wird deutlich, dass hier das Interesse und Verständnis für die Spezifik des Holocausts in den Bloodlands fehlt. Steinmeier benannte dies in seiner Rede bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Massenmorde von Babyn Jar am 6. Oktober 2021: „Wer in meinem Land, in Deutschland, weiß heute von diesem Holocaust durch Kugeln? Wer kennt sie, diese mit Blut getränkten Namen? All diese Orte haben keinen angemessenen Ort in unserer Erinnerung.“

Das mangelnde Interesse mag mit einer Ignoranz des Westens gegenüber Osteuropa verbunden sein, die sich erst jetzt – angesichts des Einmarsches Russlands – in Interesse umzuwandeln scheint. Den Opfern ein würdevolles Denkmal zu setzen, das nationale, religiöse und politische Gruppierungen zwar unterschiedlich, aber gleichberechtigt respektieren würde, das hat sich bis heute als unmöglich erwiesen. Stattdessen entzünden sich am Erinnerungskomplex Babyn Jar geschichtspolitische Diskussionen, die in Kriegszeiten auf eine geopolitische Ebene katapultiert werden.

Die Debatte zeigt: Gerade dort, wo Geschichte von zentraler Bedeutung für nationale Selbstidentifikation ist, wiegt auch der Umgang mit dem Holocaust schwer. Die aufgerissene Erde der laufenden Baustelle schien bis vor kurzem offenzulegen, dass in der politisch aufgeladenen Debatte um die Zukunft von Babyn Jar große Uneinigkeit herrscht. Dass Babyn Jar nun ins Zentrum des russischen Angriffs auf Kiew gerückt ist, ruft in den Augen vieler Beobachter überwunden geglaubte Bilder hervor.

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