Es ist kein Zufall, dass die Bilder vom Fall von Kabul am 15. August und den folgenden Tagen, die im Gedächtnis geblieben sind, Flugzeuge zeigen. Der hastige Abzug der US-geführten Koalitionstruppen nach der Machtübernahme durch die Taliban am Hindukusch verwandelte den Internationalen Flughafen in Kabul in einen Magneten. Er zog all jene Verzweifelten an, die für die gestürzte Regierung von Ashraf Ghani oder die westlichen Streitkräfte gearbeitet hatten und nun die Rache der Islamisten fürchteten.
Sie alle wollten nur weg aus dem Land, das ihnen zum Fluch und Grab zu werden drohte. Ein Video zeigt Menschen, die versuchen, sich beim Start einer Maschine an die Flügel zu klammern. Auf einem anderen ist zu sehen, wie ein Afghane aus großer Höhe von einem Flugzeug in die Tiefe stürzt.
Bilder von einem von Deutschen gecharterten Flugzeug fanden ebenfalls ihren Weg ins kollektive Gedächtnis: Ende August landete eine erste Maschine aus Deutschland in der seit Mitte des Monats von den Taliban kontrollierten Hauptstadt Afghanistans. Der Flughafen Kabul befand sich damals noch unter der Kontrolle der US-Armee. Sie übergaben kurz darauf an die Taliban.
Journalisten wie die Filmemacherin Theresa Breuer und Helfer wie Ruben Neugebauer, Mitgründer der Seenotrettung Sea-Watch im Mittelmeer, hatten den Flug mit Spendengeldern ermöglicht. Es war eine spektakuläre Aktion der im August 2021 gegründeten Hilfsorganisation Kabul Luftbrücke.
Es herrschte Chaos am Flughafen Kabul
Die Maschine hob mit nur sieben Personen an Bord in Kabul ab. Der für den Flug registrierte Rest gelangte im Chaos jener Tage nicht ans Gate. US-Flugzeuge brachten schließlich 189 Afghanen in Sicherheit, die im von den deutschen Helfern gecharterten Airbus A 320 mitfliegen sollten. Wenige Tage später überließen die Amerikaner den Flughafen den Taliban.
Ein knappes Jahr nach dem ersten Rettungsflug ist in Berlin ein Team von 20 Mitarbeitern immer noch damit beschäftigt, Ortskräften aus Afghanistan bei der Flucht nach Deutschland zu helfen. Die Kabul Luftbrücke hat in einer Co-Working-Fläche an der Kochhannstraße ihr Quartier. Helle Räume, junge Menschen, die vor ihren Laptops sitzen; das Hauptquartier der Retter könnte auch der Sitz eines Start-up-Unternehmens sein.
Die Koordinatorin steht vor einer schweren Aufgabe
Eine leere Mate-Flasche steht wie zum Beleg des Start-up-Spirits auf dem Tisch, an dem Tilly Sünkel Platz nimmt. Sie ist seit Oktober 2021 für die Gesamtorganisation der Kabul Luftbrücke zuständig, sie koordiniert das Team. Es scheint keine leichte Aufgabe zu sein.
Hier ist man so nah dran.
Tilly Sünkel, 25 Jahre alt, beschreibt das Empfinden der Mitarbeiter mit dem Wort „Frust“. Bei vielen sei der Weg zum Burn-out nicht mehr weit, fürchtet die Koordinatorin der Kabul Luftbrücke. Sie ist für die Gesamtorganisation zuständig. Ihre Aufgabe ist es, zum Beispiel sicherzustellen, dass Mitarbeiter im Krankheitsfall vertreten werden. Lange Arbeitszeiten seien mit der Verantwortung für Menschenleben verknüpft. „Hier ist man so nah dran, da sagt man nicht leicht, es ist 17 Uhr, das passt jetzt, ich geh nach Hause.“ Sie appelliere immer wieder an alle im Team, die vereinbarten Stundenzahlen einzuhalten und scheitere dann am inneren Anspruch der Kollegen. 20.000 Fälle sind derzeit bei der Luftbrücke registriert. Hinter jedem einzelnen steckt ein Mensch, der sich in seiner Heimat nicht mehr sicher fühlt.
Die Organisation hat bisher 2500 Afghanen evakuiert
Der Kabul Luftbrücke ist es in den vergangenen zwölf Monaten gelungen, 2500 Afghanen in Sicherheit zu bringen. Die Bundesregierung nennt die Zahl von 21.000 Ortskräften und um den Aufbau einer Demokratie in Afghanistan bemühten Menschen, die Deutschland insgesamt bisher aufgenommen hat.
10.000 Afghanen stehen laut Auswärtigem Amt auf einer sogenannten Menschenrechtsliste für die Aufnahme in Deutschland. Sie gelten als besonders schutzbedürftig. Ihre Evakuierung kommt aber auch nach dem Regierungswechsel in Berlin nicht voran. Ein geplantes Bundesaufnahmeprogramm befindet sich nach Angaben der Bundesregierung „im Aufbau“.
Die Afghanen reisen auf dem Landweg aus
Ein Vorortteam aus Einheimischen in Afghanistan und ein von Deutschland ins Nachbarland Pakistan entsandtes Team haben in den vergangenen Monaten für die Kabul Luftbrücke die Ausreise von Afghanen über den Landweg organisiert. Die Mitarbeiter in Berlin fungieren als Ansprechpartner für Afghanen, die nach Deutschland flüchten wollen. Das könne eigentlich nicht Aufgabe einer Nichtregierungsorganisation sein, findet Sünkel. „Wir tun das, weil die Regierung eine solche Stelle bisher nicht geschaffen hat“, sagt sie.
Die Bundesregierung macht allein die neuen Machthaber in Kabul dafür verantwortlich, dass zur Ausreise nach Deutschland berechtigte Afghanen das Land immer schwerer verlassen können.
Bundesregierung gibt den Taliban die Schuld
Sünkel bestätigt, dass die Taliban Afghanen, die ihrem Land den Rücken kehren wollen, vermehrt Steine in den Weg legen. Bei der Ausreise mit dem Bus aus Afghanistan können die Machthaber Ausreisewillige an vielen Checkpoints aufhalten, schikanieren oder auch zurückschicken. Die Islamisten hätten sich von einem konstruktiven Verhalten bei der Ausreise von Ortskräften letztlich eine Anerkennung der internationalen Gemeinschaft erhofft, meint die Koordinatorin. „Da das nicht passiert ist, haben die Taliban inzwischen die Lust verloren an einer Kooperation.“
Da das nicht passiert ist, haben die Taliban inzwischen die Lust verloren.
Die Kabul Luftbrücke kritisiert, dass die Hürden für eine Ausreise immer noch hoch sind. Die neue Bundesregierung habe viel versprochen, aber zu wenig getan, sagt Sünkel. Bisher müssen sich Geflüchtete zunächst einen Pass in Afghanistan für den Grenzübertritt nach Pakistan oder Iran ausstellen lassen und sich dann in einem der beiden Länder um ein Visum für die Einreise nach Deutschland bemühen. „Wer für die alte Regierung gearbeitet hat, ist jetzt schon seit Monaten ohne Job. Viele haben nicht die Mittel, um mit eigenem Geld in Pakistan auf ein Visum zu warten“, erklärt Sünkel. Die Luftbrücke Kabul schlägt vor, dass Afghanen bei der Einreise nach Deutschland ihr Visum stellen können. Das würde kostspielige Wartezeit in einem Nachbarland ersparen.
Afghanen schildern Bedrohungen
Afghanen, die schon lange auf ihre Ausreise warteten, ließen in ihren Nachrichten an das Berliner Büro ihre Verzweiflung erkennen. „Sie zeigen keine Wut, denn sie wissen nicht, wie sie mit der deutschen Regierung umgehen sollen. Gleichzeitig schildern viele, wie sich die Bedrohungslage für sie zuspitzt“, sagt Sünkel.
Sie zeigen keine Wut.
Das Team der Kabul Luftbrücke stellt für bedrohte Afghanen auch Anträge nach dem Paragrafen 22 des Aufenthaltsgesetzes. Er erlaubt eine Aufnahme aus dringenden humanitären Gründen. Die Arbeit dürfte den Helfern auf absehbare Zeit nicht ausgehen.




