Am 15. August jährt sich die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Viele Organisationen und Betroffene sind mit den Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung nicht zufrieden. „Afghanistan wird Tag für Tag von der Welt vergessen“, sagt Patoni Teichmann, Vorsitzende der European Organisation for Integration.
Sie ist eine der Organisatorinnen dieser Aktionstage gegen das Vergessen. „Wir wollen die Welt erinnern, dass Afghanistan da ist.“ Vor dem Auswärtigen Amt versammelten sich am Samstag Aktivistinnen und Aktivisten und diejenigen, die mit ihnen zusammen Solidarität zeigen. Die Demonstranten rufen: „Raus mit der Taliban – free, free Afghanistan.“
Auch die Brüder Abu und Ahmed, zwei ehemals für Deutschland tätige Ortskräfte in Afghanistan, sind hier vor Ort. Sie sind seit sieben Jahren zurück in Deutschland, haben aber nach wie vor Befreundete und Familie in Afghanistan. Viele von ihnen seien ehemalige Ortskräfte Deutschlands, die nun von der Taliban bedroht und verfolgt würden, sagen die Brüder. „Vor einer Woche haben wir einen Freund verloren. Die Taliban sind zu ihm nach Hause gekommen und haben ihn vor seiner Frau und seinen Kindern umgebracht“, so Ahmed. Schuld daran sei für ihn die Vernachlässigung ehemaliger Ortskräfte durch die Bundesregierung.
„Unsere Freunde wurden im Stich gelassen. Von meinen Kolleg:innen habe ich bereits 18 Leute verloren.“ Auch ihren Vater hätten Abu und Ahmed bereits durch die Taliban verloren. Sie beklagen, die Bundesregierung hätte ihnen falsche Versprechungen gemacht: „Damals waren wir eure Geschwister“ – die anfängliche Nähe der Deutschen sei verschwunden, so Ahmed.

Um den Wagen herum, in dem die Veranstalter ihre Reden halten, haben sich Menschen mit Fahnen, Schildern und Plakaten positioniert. „Open The Schools For Girls“ ist auf einem großen Banner zu lesen; „Taliban! You Stole My Land, Don’t Steal My Education!“, so heißt es auf dem Schild einer Frau. Patoni Teichmann erklärt gegenüber der Berliner Zeitung: „Mädchen in Afghanistan dürfen nach wie vor nicht in die Schule gehen. Die Situation für Frauen in Afghanistan verschlechtert sich täglich.“
Denkt man an die Herrschaft der Taliban, von 1996 bis 2001, zurück, erinnert man sich, dass Frauen ab einem gewissen Punkt nicht mehr ohne männliche Begleitung auf die Straße durften. „Es muss international genug Druck auf die Taliban ausgeübt werden, damit die Taliban Frauenrechte anerkennen“, sagt Teichmann. Ihr Endziel sei nicht mit der Aufnahme geflüchteter Menschen erreicht, sondern erst mit einer sicheren Heimat für die Menschen: „Ich will Freiheit für die Frauen, die in Afghanistan leben.“
In 17 deutschen Städten waren wir gestern auf der Straße, um unsere Solidarität mit Menschen auf der Flucht&der zivilen Seenotrettung zu zeigen. Gestern starteten die Vorverhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegen 21 Seenotretter*innen in #Trapani. #FightforSolidarity pic.twitter.com/9V0lqqfmg4
— Seebrücke (@_Seebruecke_) May 22, 2022
Das internationale Bündnis Seebrücke ist einer der Hauptveranstalter der bundesweiten Demonstrationen. Der Aktivist Philipp, der wegen regelmäßigen Anfeindungen nur seinen Vornamen nennen möchte, erklärt „offene Grenzen und globale Bewegungsfreiheit“ zum Ziel des Bündnisses. Für ihn haben die Taliban die Macht nicht bloß übernommen. Er spricht von einer „Machtübergabe der Nato-Staaten an die Taliban“. Zudem stellt er klar: „Die deutsche Bundesregierung hätte sich auch schon letztes Jahr viel engagierter zeigen müssen.“
Für alle Befragten sei der Umgang Deutschlands mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Zeichen, „dass es möglich ist, Menschen schnell und unbürokratisch aufzunehmen“, so Philipp. Abu und Ahmed erklären: „Beim Ukraine-Krieg sind wir dankbar, dass Leute zum ersten Mal nach sehr vielen Jahren Hilfe bekommen.“ Laut Philipp reagiere die Bundesregierung im Beispiel Afghanistan hingegen mit Abschottung. Ein Grund dafür seien tief verankerte rassistische, postkoloniale Strukturen. Menschen würden so zu Geflüchteten zweiter Klasse degradiert – mitunter mit tödlichen Konsequenzen.


