Mobilität

Wie die BVG Ukrainern in Berlin hilft

Wenn am Hauptbahnhof Flüchtlinge eintreffen, treten Cihan Karadag und seine Kollegen in Aktion. Viele arbeiten in ihrer Freizeit. Sie steuern nicht nur Busse.

Warten auf den nächsten Zug aus Polen: BVG-Verkehrsmeister Cihan Karadag am Hauptbahnhof.
Warten auf den nächsten Zug aus Polen: BVG-Verkehrsmeister Cihan Karadag am Hauptbahnhof.Benjamin Pritzkuleit

Berlin - Herzlich willkommen, Sonderfahrt. Das steht in Ukrainisch auf den Zielschildern der beiden Busse, die vor dem Hauptbahnhof in der Morgensonne stehen. Fahrgäste sind allerdings noch nicht in Sicht. „Morgens ist meist nicht so viel los hier“, sagt Cihan Karadag von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). „Aber das wird sich im Lauf des Tages ändern.“ Wenn die Züge aus Polen eingetroffen sind, strömen Hunderte Kriegsflüchtlinge aus dem Zelt auf dem Washingtonplatz, das die erste Berliner Station ihrer Odyssee ist, zur Haltestelle. „Dann muss es schnell gehen“, sagt Karadag. Busse und Fahrpersonal sind herbeizurufen, um die Ukrainer zu den Berliner Ankunftszentren zu bringen. Innerhalb weniger Minuten beginnt eine mittlerweile eingespielte Maschinerie zu laufen. Allerdings geht es hier nicht nur um Beförderung, sondern auch um Plüschtiere und Süßigkeiten, um Hilfe und Beistand. „Wir sind Schockbetreuer und Seelsorger“, sagt der BVG-Mann.

Cihan Karadag ist einer der vielen Berlinerinnen und Berliner, deren Arbeitsleben sich durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine von einem Tag auf den anderen verändert hat. Die mit neuen Hausforderungen zurechtkommen, anfängliches Chaos bewältigen mussten. Menschen wie der 37 Jahre alte Familienvater aus dem Reinickendorfer Ortsteil Lübars tragen dazu bei, dass die Stadt ihre nächste Aufgabe erfüllen kann: Fluchtpunkt zu sein für viele Zehntausend Menschen, die sich und ihre Familienangehörigen vor Bomben- und Raketenangriffen in Sicherheit bringen wollen.

„Es sind traumatisierte, erschöpfte Menschen, die hier ankommen“

Berlin in Bewegung halten – das ist allerdings nichts Neues für den BVG-Mitarbeiter. „Es ist unser Job“, sagt Karadag, der erst bei der Bundeswehr war und 2008 zu dem Landesunternehmen kam. „Betriebsaufsicht“ steht auf seiner grellgrünen Jacke. Er ist Verkehrsmeister, stationiert im Kompetenzzentrum Oberfläche, das von der Lichtenberger Siegfriedstraße aus Berlins Linienbus- und Straßenbahnverkehr flüssig halten soll. „Wenn es einen Unfall gab, der Verkehr umgeleitet werden muss, wenn ein Schienenersatzverkehr beginnt, sind wir da. Als Mädchen für alles.“ Was auch in diesen Fällen heißt, dass es nicht nur um Verkehr und Technik geht. Busfahrer, die eine Kollision miterlebt haben, stehen oft unter Schock. Ein Gespräch sei wichtig, so Karadag.

Solche Fähigkeiten kann er am Hauptbahnhof gut brauchen. „Es sind traumatisierte, erschöpfte Menschen, die hier ankommen“, erzählt der Verkehrsmeister. Das Gros, in der Regel rund 80 Prozent, sind Frauen und Kinder. „Kürzlich traf eine Mutter mit einem autistischen Sohn ein. Er hatte seit drei Tagen nicht geschlafen und war völlig abgekämpft.“ Autisten halten sich am liebsten in ihrer gewohnten Umgebung auf, die vielen neuen Eindrücke waren zu viel für ihn. „Ich habe beim Krisenstab angerufen und gesagt, dass ich eine Unterkunft brauche, wo der Junge zur Ruhe kommen kann.“ Die beiden wurden in ein Zimmer auf dem Gelände der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik vermittelt. „Die Frau wollte dafür bezahlen.“ Sie bekam das Domizil auf Zeit kostenlos.

Süßigkeiten und Plüschtiere für die Kinder

Es sind Fahrgäste, die auffallen, weil sie so ruhig sind. Gesprochen wird kaum, niemand macht Ärger. Manche Menschen wirken orientierungslos, andere wie abwesend. Die BVG-Leute versuchen, ihnen die Ankunft zu erleichtern. „Gestern habe ich alten Leuten die Koffer in den Bus getragen. Kollegen bringen Süßigkeiten mit, für die Kinder.“ Karadag hat Plüschtiere verteilt. „Meine Kinder brauchen keine Kuscheltiere mehr.“ Viele Ukrainer, die in Berlin eintreffen, sehen sich nicht als Flüchtlinge, erfuhr er. „Sie wollen wieder in ihr Land zurück, wenn dieser schreckliche Krieg vorbei ist.“

Die Anteilnahme bei den Kollegen sei groß, sagt Karadag. Das zeige sich vor allem daran, dass die meisten Fahrerinnen und Fahrer, die für die BVG Menschen aus der Ukraine befördern, in ihrer Freizeit arbeiten. Ehrenamtlich, außerhalb der regulären Dienste, sofern sich das mit den gesetzlichen Ruhezeiten vereinbaren lässt. „Sie legen freiwillig Schichten ein, um die Menschen aus der Ukraine zu befördern“, bekräftigt Ingo Tederahn, Sicherheitschef der BVG. Eine zentrale Stelle sammelt die Meldungen per App. „Bislang hatten wir keine Situation, in der uns Fahrpersonal fehlte.“ Im Gegenteil: Zu Beginn stellten sich viel mehr Fahrer zur Verfügung, als gebraucht wurden.

17 voll besetzte Busse innerhalb kurzer Zeit

Nicht immer lässt sich abschätzen, wie viele Ukrainer kommen. „An einem Abend trafen innerhalb eines kurzen Zeitraums 17 voll besetzte Reisebusse aus Polen ein“, erzählt Ingo Tederahn. Da trifft es sich, dass die BVG an allen Tagen rund um die Uhr am Ort ist. Dreimal täglich erhält der Koordinierungsstab, der von Tederahn geleitet wird, Lagemeldungen. Der Stab hat eine eigene Telefonnummer und ein E-Mail-Postfach. Webcams, die den Hauptbahnhof beobachten, liefern weitere Erkenntnisse. „Mal kommen 400 Flüchtlinge auf 50 Helfer, mal werden 50 Flüchtlinge von 150 Helfern empfangen.“

Doch die Verkehrsbetriebe könnten schnell reagieren, so der Sicherheitschef: „Bislang hat das wunderbar geklappt. Wenn ein Bus gebraucht wird, ist er in 20 Minuten da.“ Mehrere Betriebshöfe bestücken den Shuttleverkehr zu den Ankunftszentren – zur Messe, nach Reinickendorf oder zum ehemaligen Flughafen Tegel. „Wir bringen die Menschen auch in Hotels, zum Beispiel zum Mercure Airport Tegel“, so Karadag. Weil es sich rechtlich um Gelegenheitsverkehr handelt, bei dem Fahrgäste nicht stehen dürfen, werden mehr Busse benötigt als im normalen Stadtverkehr. Die BVG stellt außerdem „Wärmebusse“ als beheizte Warteräume bereit. Für den Shuttleverkehr nach Brandenburg, etwa nach Eisenhüttenstadt, chartert sie Reisebusse.

Auch BVG-Sicherheitsleute sind im Einsatz. Die Mitarbeiter werden gebraucht, um die Menschenströme zu lenken und sich mit anderen Beteiligten abzustimmen. Dass es so viele freiwillige Helfer gibt, findet auch Tederahn gut. Dass Menschen Sachspenden beisteuern, um das Leid zu lindern, ebenfalls. „Allerdings brachte kürzlich jemand 40 Pakete Toilettenpapier zum Hauptbahnhof“ – die im Zwischengeschoss nicht gebraucht wurden und eine Brandgefahr darstellen. Am Zentralen Omnibusbahnhof am Kaiserdamm in Charlottenburg, der von der BVG verwaltet wird, bauten Helfer den knappen Raum anfangs mit Kühlschränken, Mikrowellen und anderen Geräten zu. Mittlerweile haben dort die Malteser die Regie übernommen.

„Schienenersatzverkehr kann manchmal anstrengender sein“

Es gibt viel zu tun, und jeden Tag kommen neue Herausforderungen auf die BVG-Beschäftigten zu. „Doch ich bin absolut tiefenentspannt“, so der BVG-Sicherheitschef. „Schienenersatzverkehr kann manchmal anstrengender sein.“ Dass mehr Fahrgäste als sonst erscheinen, gehört zu den Standardsituationen, mit denen der 58-jährige Berliner schon öfter zu tun hatte. „Ich bin seit 1985 bei der BVG. Was bei der Öffnung der Grenze 1989 aus der DDR auf uns zukam, ist mit der jetzigen Situation nicht zu vergleichen.“ Auch mit der Loveparade, die über die Jahre von ein paar Technofreaks mit einem VW-Bus zu einem Massenevent mit großen Auswirkungen auf den Verkehr heranwuchs, kam die BVG zurecht. „Für uns ist das nichts Ungewöhnliches.“

Was nicht heißt, dass die jüngsten Ereignisse Ingo Tederahn kaltlassen. Viele Reisende aus der Ukraine sind in einer psychischen Ausnahmesituation, sagt auch der BVG-Sicherheitschef. Sie folgen still den Instruktionen, lassen sich ohne Weiteres zu den Bussen führen. „In jüngster Zeit kommen immer mehr junge Menschen, die Englisch können und mit denen wir uns gut verständigen können“, so Tederahn. Aber weiterhin treffen auch viele Ältere in Berlin ein, die ausschließlich Ukrainisch und Russisch sprechen. „Da gibt es eine hohe Sprachbarriere.“ Kürzlich begegnete Cihan Karadag Studenten aus der Türkei. Mit ihnen war es einfach, Türkisch ist seine zweite Sprache.

Ingo Tederahn erwartet, dass viele weitere Menschen aus der Ukraine nach Berlin kommen. „Wir rechnen damit, dass das noch mehrere Wochen so sein wird“ – mindestens. Niemand weiß, wie lange noch genug Freiwillige zur Verfügung stehen. Deshalb spricht er sich dafür aus, die Hilfe zu professionalisieren. Eine Idee ist, junge Ukrainer zu engagieren, die gegen Bezahlung mithelfen könnten – etwa als Übersetzer. „Es geht um Professionalisierung und um bessere Planbarkeit.“ Es bleibt herausfordernd, auch für die BVG.