Ein Mann pinkelt in einem Berliner U-Bahnhof aufs Gleis. Ein anderer Mann hat sich am Ende eines Bahnsteigs hingehockt, um in aller Ruhe seinen Darm zu entleeren. Auf einem weiteren Handyfoto ist eine Frau zu sehen, die auf dem Boden sitzt und eine blutende Wunde zeigt. In einer U-Bahn spritzt sich ein Mann Drogen, jemand anderes hat sich zum Schlafen ausgestreckt und belegt drei Sitzplätze.
Werner Müller hat viele solcher Bilder aus der Berliner U-Bahn auf seinem Mobiltelefon. Einige Fotos hat der Zugfahrer selbst aufgenommen, andere kommen von seinen Kollegen. „Wir stellen fest, dass die Zustände in der U-Bahn immer schlimmer werden“, sagt der 39-Jährige. In einem Brandbrief, der von vielen U-Bahnern unterschrieben wurde, hat er nun darauf aufmerksam gemacht. Was ist los im Berliner Untergrund?
Werner Müller heißt in Wirklichkeit anders. Sein wahrer Name ist der Berliner Zeitung bekannt, doch er möchte ihn nicht öffentlich preisgeben. Es gehe ihm um die Sache, um den Zustand des gemessen an der Zahl seiner Nutzer wichtigsten öffentlichen Verkehrsmittels in dieser Stadt, sagt der Berliner.
Der Zustand der U-Bahn, die allein im vergangenen Jahr für fast eine halbe Milliarde Fahrten genutzt wurde, sei nicht gut, und das liege nicht an den U-Bahnern. Der Mann, der wie sein Großvater, sein Vater und seine Mutter bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) arbeitet, kann viele Geschichten aus dem größten deutschen U-Bahn-System erzählen. Keine dieser Geschichten ist auch nur ansatzweise lustig.
„Ich rettete mich in den Fahrerstand“ – doch dann zerbrach die Glasscheibe
Er war gerade erst ein Jahr bei der BVG, da sei er in Ruhleben, der westlichen Endstation der Linie U2, mitten am Tag von einem offensichtlich verwirrten Mann mit einem Messer bedroht worden, berichtet der U-Bahn-Fahrer. „Ich rettete mich in den Fahrerstand, aber er trat gegen die Scheibe.“ Nicht lange, da brach das Fensterglas. Eine Situation voller Furcht und Gewalt – bis sein Gruppenleiter eintraf und helfen konnte. Seit jenem Zwischenfall im Jahr 2017 folgten zahlreiche weitere angstvolle Erlebnisse im Dienst.

Kot, Blut, Urin – und unerwartete Gefahren, die plötzlich da sind: Das ist Alltag für die Beschäftigten der BVG und deren Tochterfirma Berlin Transport (BT). „Tagtäglich werden wir angepöbelt, beleidigt, manchmal auch bespuckt“, sagt Müller. Besonders erniedrigend findet er es, wenn er sich hinkniet, um einem Rollstuhlfahrer eine Rampe hinzulegen – und währenddessen treten ihm andere Fahrgäste auf die Hände. Sie können nicht die paar Sekunden abwarten, bis die Metallplatte in der richtigen Position auf dem Boden liegt, sie drängen schon mal in den Wagen und ihn zur Seite.
Risiken lauern nicht nur in den Bereichen, die Fahrgästen zugänglich sind. „Im U-Bahnhof Hallesches Tor sollte ich einen Zug abholen, der in der Kehranlage abgestellt war. Ich wunderte mich, dass die normalerweise verschlossene Tür am Bahnsteigende offen stand. Als ich hindurchging, trat ich erst mal in einen Kothaufen“, erinnert sich Müller. Dann sah er auch schon die fünf Wohnungslosen, die im schwach beleuchteten Tunnel der U6 kampierten. Er ging wieder zurück und rief Sicherheitsleute.
Mit Döner und Bier in die U-Bahn
Der BVG-Mann hat während des Dienstes einen Fahrgast erlebt, der mit einer Schusswaffe herumfuchtelte. Im U-Bahnhof Kleistpark an der U7 habe er sich um ein Haar an einer gebrauchten Spritze verletzt, berichtet er. Fahrgäste, die mit Döner und Bier in die U-Bahn steigen, reagierten aggressiv, wenn man sie darauf anspreche. Auch Graffititäter könnten gewalttätig werden. Da mutet der Anlass, der bei Werner Müller Anfang dieses Jahres das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, geringfügig an.
Er kann sich noch gut daran erinnern. „Ich lief in Dienstkleidung im U-Bahnhof Hermannplatz über den U7-Bahnsteig. Da sah ich einen Mann, vielleicht so um die 70, der eine Zigarette rauchte“, erzählt er. „Ich sprach ihn an, aber er machte die Zigarette nicht aus. Ich bat ihn noch einmal höflich. Er antwortete: Ich solle nicht so viel reden.“ Der Mann rauchte einfach weiter, der BVG-Mitarbeiter musste sich geschlagen geben.

Da war es geschehen. Müller beschreibt es so, als hätte damals jemand einen Schalter in ihm umgelegt. Zu Hause schrieb sich der BVG-Mitarbeiter am Computer den Frust von der Seele. Später legte er Ausdrucke in Pausenräumen aus. Nicht lange, dann hatte er 270 Unterschriften von Mitarbeitern der BVG und der BT zusammen. „Die Kollegen haben sich in dem Brief offenbar wiedergefunden“, sagt Müller. Ende Februar fertigte er eine entschärfte Fassung an, die er dann per Briefpost und als Mail an den Vorstand der BVG, an Berliner Landespolitiker und an die Gewerkschaft Verdi schickte. Ein achtseitiger Brandbrief von Berliner U-Bahnern, wie es ihn noch nicht gegeben hat.
Gleich zu Anfang geht es um „Obdachlose (vermehrt Osteuropäer), die auf den Bahnhöfen und in den Zügen für diverse Störungen im Betriebsablauf, Unrat und Brandlasten sorgen. Durch Kot und Urin auf den Bahnhöfen sowie Reste von Drogen, Alkohol und sonstigen Unrat, Schlafsäcke sowie weitere Kleidungsstücke auf den Bahnhöfen, Laufwegen zu den Kehranlagen sowie vor und hinter Wegen zu den Diensträumen sowie Gleisanlagen.“ Von Rutsch- und Brandgefahr ist die Rede. Mittlerweile würden U-Bahnhöfe teilweise abends nicht mehr verschlossen, sodass sich Obdachlose dort niederlassen können, heißt es weiter. „Das kann und darf so nicht geduldet werden und gehört auch nicht zum Kerngeschäft unserer Firma.“
Zweites Thema in dem Schreiben sind Trinker und die Drogenszene. Zitat aus dem Brandbrief: „Zu beobachten ist tagtäglich der Verkauf und Verzehr von Alkohol und anderen Genussmitteln unabhängig von Uhrzeit und Kundenstrom. Auch diese Situationen werden jeden Tag von unserem Betriebspersonal beobachtet und gemeldet. Diese Szene ist stark aggressiv und gefährdet unser Personal und unser tägliches Geschäft mit unseren Fahrgästen.“ Kippensammler springen vom Bahnsteig aufs Gleis, U-Bahn-Nutzer zeigten ein desorientiertes Verhalten, berichtet Müller.
Die Politik will einen besseren Nahverkehr – doch sie hilft der BVG nicht
Polizei und Sicherheitskräfte könnten diese Probleme nicht allein in Ordnung bringen. Gefragt sei „unsere Politik in Berlin, die es anscheinend nicht hinbekommt, hier für klare Strukturen zu sorgen. Es ist aber genau diese Politik, die erwartet, dass wir noch mehr Fahrgäste zu besseren Konditionen befördern.“ Der Senat will, dass die Berliner vermehrt vom Auto auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Doch so, wie es derzeit in der U-Bahn aussieht, werde das kaum gelingen, befürchtet Werner Müller.

Das liege auch daran, dass viele Fahrzeuge nach dem Einsatz in Wochenendnächten erst einmal nicht zur Verfügung stehen. Partytourismus ist ein weiteres Thema, das dem BVG-Mitarbeiter und seinen Unterstützern besonders auf den Nägeln brennt. „Unsere Hauptstadt ist zuweilen eine Hochburg für junge Touristen, die scheinbar nicht gelernt haben, sich in der Öffentlichkeit zu benehmen“, steht in dem Brief. „Es sind Menschen, die sich in ihrer Stadt oder im Land nicht so benehmen können dürfen, weil dieses Verhalten dort Konsequenzen hätte. Im Internetportal YouTube brüsten sich Feierwütige mit Sachbeschädigungen und Trinkgelagen und laden andere Städte ein, hier mitzufeiern.“
Berlin scheine ein rechtsfreier Raum zu sein. Gerade an den Wochenenden würden U-Bahnen durch Erbrochenes und Müll verschmutzt oder durch Sachbeschädigungen zerstört, heißt es.
Aber auch der „ganz normale Fahrgast“ kommt in dem Brandbrief der U-Bahner vor. Die Beschreibung beginnt ironisch: „Der tägliche Fahrgast hat keine Zeit, so ist bekannt, dass der einfahrende Zug immer der letzte dieser Linie zu sein scheint.“ Besonders ärgerlich findet Müller die U-Bahn-Nutzer, die Zugtüren aufhalten – obwohl meist nach nur wenigen Minuten der nächste Zug kommt. Die Durchsage „Zurückbleiben bitte“ werde oft ignoriert. Nicht nur die Technik erleide Schaden. Meist komme es auch zu Verspätungen, die sich gerade auf langen Linien wie der U7 spürbar summieren. „Wir müssen das dann wieder ausbaden, denn die Fahrgäste beschweren sich.“
Wenn U-Bahn-Personal einen Notruf absetze, komme es leider vor, dass niemand komme, klagt der Zugfahrer. „Personalmangel“ sei dann das Stichwort. Seine Kollegen und er hätten das Gefühl, dass sich Sicherheitskräfte rarmachen. Im Brandbrief heißt es: „Sie halten sich in Diensträumen auf, sind unsichtbar und nicht für das Betriebspersonal auf den Bahnhöfen und Zügen erreichbar.“ Die Forderung lautet: Die BVG braucht nicht nur mehr Sicherheitskräfte – die Mitarbeiter müssten auch Präsenz zeigen. Der interne Umgang müsse sich ebenfalls ändern. Wenn Probleme gemeldet werden, müssten sich BVG-Mitarbeiter fragen lassen: Haben sie richtig gehandelt? Haben sie deeskaliert?

Weitere Forderungen: Sperren in den U-Bahnhöfen, die nur Menschen mit gültigem Ticket auf die Bahnsteige lassen. Kein Verkauf von Dönern und alkoholischen Getränken in U-Bahnhof-Kiosken mehr. Empfindliche Strafen gegen Graffititäter.
Was ist passiert, nachdem der Brandbrief der U-Bahner verschickt wurde? Von Adressaten wie dem künftigen Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU), der SPD-Politikerin Franziska Giffey und der Noch-Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) sei bislang keine Antwort eingetroffen, so Müller. „Von den Mitgliedern des BVG-Vorstands hat eines reagiert.“ Unterstützt werden die U-Bahner von der Nahverkehrsgewerkschaft, kurz NahVG. „Die Gewerkschaft Verdi hat mit der ganzen Sache nichts zu tun und hat sich zu dem Brief nicht geäußert“, so Müller.
Auf der Arbeitsebene gab es eine Reaktion: Am 3. April fand bei der BVG ein internes Krisentreffen statt. Doch greifbare Ergebnisse sind dem Vernehmen nach nicht in Sicht. Äußerungen des Senats interpretieren die U-Bahner so, als versuche die Verwaltung, die Probleme gänzlich zur BVG abzuschieben. Aber auch die Politik müsse tätig werden.
BVG: Wir können gesellschaftliche Themen nicht allein bewältigen
„Die BVG als Verkehrsunternehmen hat den Anspruch und die Aufgabe, Berlin mobil zu halten. Dabei achten wir darauf, dass die Rahmenbedingungen für Fahrgäste und Mitarbeitende stimmen“, sagt der BVG-Sprecher Jannes Schwentu. „Klar ist aber auch, dass wir als Verkehrsunternehmen nicht alleine gesellschaftliche Themen lösen können. Daher befinden wir uns im engen Austausch mit der Politik und den Sicherheitsbehörden mit dem Ziel, gute und nachhaltige Lösungen zu schaffen.“
Kenner des Berliner Nahverkehrs stellen nicht in Abrede, dass es in der U-Bahn immer wieder zu unangenehmen Szenen kommt. Trotzdem gelangen die allermeisten Fahrgäste in Berlin unbehelligt ans Ziel, betonen sie. Die polizeiliche Kriminalstatistik zeige, dass der öffentliche Verkehr in Berlin objektiv kein Schwerpunkt von Straftaten ist. Im Jahr 2021 wurden bei der BVG, in der S-Bahn und im Regionalzugverkehr in Berlin rund 6000 Gewalttaten registriert. Selbst wenn man eine große Dunkelziffer ansetze, sei das angesichts einer zehnstelligen jährlichen Fahrgastzahl nicht viel, so die Einschätzung.
Als ich in einem Interview mit @pneumannberlin sagte, dass ich wegen solcher Vorkommnisse nicht mehr U8 fahre, da gab es Vorwürfe bis hin zum Rassismus.
— Jens Wieseke (@jens_wieseke) April 8, 2023
Die traurige Wahrheit ist aber leider, dass viele Abschnitte der U-Bahn einfach nur noch unangenehm sind. https://t.co/Bi0SqFSHHA







