Klimawandel

Durst, Sonnenbrand, Erschöpfung: Wie die Hitze Berlins Obdachlose bedroht

Menschen ohne festen Wohnsitz können sich vor hohen Temperaturen in der Stadt kaum schützen. Eine Notunterkunft und ein mobiler Dienst sollen Leben retten.

Unterwegs mit dem Hitzebus der Stadtmission: Helferin Lara (l) mit Matthias Spreemann
Unterwegs mit dem Hitzebus der Stadtmission: Helferin Lara (l) mit Matthias SpreemannMarkus Waechter/Berliner Zeitung

Naomi klammert sich an eine Tasse Kaffee mit einem Schuss Milch. Ein heißes Getränk? Das ist eine erstaunliche Getränkewahl für diesen schwülen Sommertag. Doch in der Hitzenotunterkunft des Sozialhilfeträgers Internationaler Bund an der Kurmärkischen Straße ist es angenehm kühl. Naomi, die Transfrau mit der pink gefärbten Mähne, nimmt nur den Kaffee zu sich. Ihre Augen sind gerötet vom Schlafmangel und vom Rausch.

Sie komme mittags oft hierher, sagt die Brasilianerin in gebrochenem Englisch. Ob es ihr auf der Straße in der Mittagssonne zu heiß sei? Nein, eigentlich sei sie nur wegen ihres Freundes da, sagt Naomi. Ihr fällt es schwer, das Gespräch zu führen. Die Droge macht ihre Zunge schwer. Schweiß benetzt ihre Haut. Wo sie die Nacht verbracht hat und den glühend heißen Vormittag? Naomi verrät es nicht. Entweder versteht sie die Frage nicht. Oder sie will sie nicht beantworten.

Jeanette Werner vom Internationalen Bund führt durch den Flachbau. Vor einem Jahr ist die erste Hitzenotunterkunft Berlins in Schöneberg eröffnet worden. Medien berichteten bundesweit über das Projekt. Anfragen habe es sogar aus anderen Ländern gegeben, selbst aus dem an Hitzewellen gewöhnten Spanien, erzählt Werner.

Maximal 60 Personen können während der Sommermonate an jedem Tag in der Woche in Räumen mit Hochbetten von 10 bis 20 Uhr ausruhen. Sie können duschen und ihre Wäsche waschen. Die Mitarbeiter des Hauses servieren drei Mahlzeiten, darunter ein warmes Essen in der Mittagszeit. Pröbchen mit Sonnencreme und Hygieneprodukten stehen auf Regalen zum Mitnehmen bereit. Die Besucher können auch Flaschen mit Trinkwasser auffüllen, bevor sie in den Abendstunden von der Unterkunft wieder in Richtung Straße ziehen.


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Die Mehrzahl der Besucher seien Frauen aus osteuropäischen Ländern, erklärt Werner. Sobald die Sonne untergangen ist, beginnt für viele die Arbeit auf dem Schöneberger Straßenstrich. Sie verkaufen sich in den Nachtstunden an Freier. Viele greifen dabei zu Drogen oder trinken Alkohol. Sie betäuben ihre Wahrnehmungen. Signale des Körpers wie Durst werden im Rausch kaum noch gespürt. „Wenn morgens Besucherinnen ankommen, kommt es schon vor, dass manche völlig dehydriert sind. Dann achten wir erst einmal darauf, dass sie viel trinken“, sagt Werner.

Die Notunterkunft und der Berliner Hitzeschutzplan

Immerhin ersparen die Stunden unter dem Dach der Notunterkunft den Besuchern tagsüber die schlimmste Hitze und die aggressive Sonnenstrahlung unter freiem Himmel. Werner berichtet von Fällen, in denen Obdachlose mit großflächigen Hautverbrennungen in der Unterkunft ankämen. Manche Obdachlosen schliefen in der Dunkelheit unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen ein. „Dann merken sie gar nicht, wie morgens die Sonne wandert und ihre Haut verbrennt. Manchmal müssen wir einen Notarzt rufen“, sagt Werner.

Senat und Bezirk suchten im vergangenen Jahr den Internationalen Bund als Partner für das Projekt Hitzenotunterkunft aus. Sie finanzieren dieses Projekt nun so wie Notunterkünfte für Obdachlose im Winter. Der Entscheidung vorausgegangen war die Bildung eines Bündnisses aus Gesundheitssenat, Ärztekammer und der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (Klug). Die Experten stellten im Frühjahr 2022 den ersten Hitzeschutzplan für die Hauptstadt vor. Er beschreibt, wie Krankenhäuser, Seniorenheime und andere Einrichtungen bei großer Hitze agieren sollen.

Die Idee, bei hohen Temperaturen staatliches Handeln zu bündeln und für Hitzewellen im Voraus zu planen, entstand nach dem Jahrhundertsommer 2003 in Frankreich. Ein über Wochen stabiles Hochdruckgebiet hatte sich damals über Frankreich und weite Teile Europas gelegt. Ein Temperaturrekord jagte während der „Canicule“ den nächsten.

Gleichzeitig geschah Unheimliches. Bestattungsinstitute kamen mit Beerdigungen nicht mehr nach. Ein Logistikzentrum in Paris musste zur Leichenhalle umfunktioniert werden. Es gab in Paris keinen Platz mehr zur Kühlung der Verstorbenen. Kliniken meldeten volle Notaufnahmen. Die Sterbekurve wies während der Hitzewelle um 55 Prozent nach oben. Schätzungen zufolge erlagen in Frankreich knapp 15.000 Menschen in wenigen Wochen den sengenden Temperaturen.

Frankreich bereitet sich nun seit 2004 behördenübergreifend auf Hitzewellen vor. Das Augenmerk liegt dort besonders auf älteren Menschen. Mitarbeiter der Verwaltung suchen bei großer Hitze ältere Mitbürger auf, um nach ihrem Wohl zu schauen.

Nicht nur in Berlin auf Landesebene, sondern auch im Bund wird nun an einer Kopie des französischen Vorbilds gearbeitet. Gesundheitsminister Karl Lauterbach will Standards entwickeln, um Deutschland auf die wegen des Klimawandels immer häufigeren und stärkeren Hitzewellen vorzubereiten.

Peter Bobbert, Präsident der Berliner Ärztekammer, sagt, dass neben Älteren und Vorerkrankten dabei besonders an Obdachlose gedacht werden sollte. Keine Bevölkerungsgruppe sei Hitze und Sonnenstrahlung so direkt und so gnadenlos ausgesetzt wie Menschen ohne ein festes Dach über dem Kopf. Der Körper arbeite bei Hitze auf Hochtouren, um durch das Schwitzen die Körpertemperatur zu senken, erläutert der Mediziner. Wer wie Obdachlose keinen Kühlschrank oder Kästen mit Mineralwasser im Keller habe, trinke aber oft zu selten. Würden Drogen oder Alkohol konsumiert, verlöre der Körper noch weitere Flüssigkeit.

In der Schöneberger Hitzenotunterkunft: Juni Istvan macht sich einen Tee, er lebt seit einigen Jahren in Berlin.
In der Schöneberger Hitzenotunterkunft: Juni Istvan macht sich einen Tee, er lebt seit einigen Jahren in Berlin.Sabine Gudath

Während andere Menschen in ihren Wohnungen nachts mit Ventilatoren, Klimaanlagen oder zumindest durch Luftzug für angenehmere Schlaftemperaturen sorgen könnten, bleibe Obdachlosen auch nachts nur der brütend heiße Untergrund als Ruheort. „Das ist eine zusätzliche Belastung, weil im Schlaf nicht ausreichend Erholung möglich ist“, sagt Bobbert. Die Hitzenotunterkunft an der Kurmärkischen Straße bleibt in den Nachtstunden geschlossen.

Nachts ist die Notunterkunft in Schöneberg geschlossen

Neben der Unterkunft in Schöneberg bieten in Berlin noch einige andere Organisationen im Sommer Rückzugsräume. Der Senat fördert mit seinem Hitzeschutzplan seit vergangenem Jahr auch diese Projekte.

Laut einer Zählung der Stadt lebten im Jahr 2020 in Berlin rund 2000 Menschen auf der Straße. Ärztekammer-Präsident Bobbert sieht den politischen Willen, in Berlin den Hitzeschutz für Obdachlose und andere vulnerable Gruppen weiter zu verstärken. Er rät dazu dringend. „Die Bedeutung von Hitzeschutz muss in allen Abteilungen der Verwaltung verinnerlicht werden und alle Akteurinnen und Akteure müssen mit einbezogen werden“, fordert er. Sprich: Senat und Bezirke müssen Hand in Hand arbeiten, um dezentral Hilfe anbieten zu können. Es gehe um den Schutz von Leben, betont der Mediziner. „Wir müssen uns für eine große Hitzewelle wappnen.“

Es gehe dabei nicht um wenige Tage, an denen die Berliner über schweißtreibende Temperaturen klagen. Wie in Frankreich 2003 oder in diesem Jahr in Mexiko gebe es dann eine sogenannte Omega-Lage wochenlang über Berlin. Sie fixiert Hochdruckgebiete an einem Fleck. Wer ein Dach über dem Kopf hat, hat zumindest Mauerwerk zwischen sich und den erbarmungslosen Temperaturen. Menschen ohne eine eigene Wohnung droht dagegen Lebensgefahr.

Im blauen Hitzebus durch die Berliner Innenstadt

Matthias Spreemann von der Berliner Stadtmission steuert den blauen Hitzebus durch die Berliner Innenstadt. Die Ehrenamtliche Katrin Jaißle sitzt mit einem Tablet auf dem Hintersitz. Sie notiert während der Fahrt alle Orte, an denen die Helfer Obdachlose angetroffen haben.

Matthias Spreemann fährt den Hitzebus, Lara Kollmar hilft bei der Versorgung der Obdachlosen.
Matthias Spreemann fährt den Hitzebus, Lara Kollmar hilft bei der Versorgung der Obdachlosen.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Der Berliner Hitzeschutzplan ermöglicht seit dem vergangenen Sommer auch die Bustouren mit Wasser, Essen und Sonnenmilch für Obdachlose. Der Europäische Sozialfonds der EU unterstützt das Projekt. Spreemann fährt an fünf Tagen in der Woche von 11 bis 14.30 Uhr Brücken, Parks und andere Orte an, an denen Menschen im Freien campieren. Die Hilfe soll also zu den Bedürftigen kommen. Dahinter steht die Erfahrung, dass Menschen ohne festen Wohnsitz lange Wege meiden, um Hilfsangebote wahrzunehmen. Öffentliche Verkehrsmittel kosten Geld. Menschen mit psychischen Erkrankungen fehlt es auch häufig an Antrieb.

Er versorge bei einer Tour im Durchschnitt zehn Personen, erklärt Spreemann. „Manchmal sind es auch 25“, sagt er. Jeder Tag sei anders. Obdachlose nutzen allerdings die Mittagszeit häufig zum Flaschensammeln oder für andere Tätigkeiten, mit denen sie etwas Geld verdienen könnten. Dann fährt der Hitzebus an verwaisten Schlaflagern vorbei. Menschen ohne festen Wohnsitz seien seiner Erfahrung nach im Sommer wie im Winter leichter in den Abendstunden anzutreffen. „Unsere Aufgabe ist es aber, während der größten Hitze in der Mittagszeit nach den Menschen zu sehen und ihnen etwas vorbeizubringen“, sagt Spreemann.

Passanten sollten beim Hitzebus anrufen, wenn sie jemanden in der Sonne liegen sehen. „Man sollte aber erst einmal prüfen, ob die Person ansprechbar ist und Hilfe braucht“, sagt Spreemann. Wenn keine Reaktion erfolge, rät Spreemann dazu, direkt den Rettungsdienst zu alarmieren. „Lieber einmal zu viel beim Notruf anrufen als zu spät.“ Auch Spreemann greift zum Handy und wählt die 112, wenn er auf seiner Tour jemanden bewusstlos antrifft. „Dann handeln wir sofort.“

Matthias Spreemann und Katrin Jaißle haben vor der Abfahrt des Hitzebusses am Standort der Stadtmission an der Lehrter Straße belegte Brote und zwei große Thermoskannen mit Kaffee mitgenommen. Wieder fällt der Kaffeedurst an heißen Tagen auf. „Viele Obdachlose bekommen auch mal von Passanten eine Flasche Wasser geschenkt. Kaffee können sie sich auf der Straße aber nicht selbst kochen“, sagt Spreemann.

Emil liegt auf dem Bauch auf einer Matratze vor einem Haus gegenüber dem Eingang der U-Bahn-Station Heinrich-Heine-Straße. Er blättert in einem Comicbuch. Ein Karton mit Weißwein steht griffbereit neben der Matratze. Zwischen der Hauswand und der Matratze befindet sich aber auch ein Zweiliterkanister mit Wasser. Zitronenscheiben schwimmen in der Plastikflasche. Emil weiß, dass Alkohol kein Durstlöscher ist.

Eine Zitrone koste beim Obsthändler seines Vertrauens 50 Cent, erzählt er. Emil schneidet sie in Schnitze und drückt sie durch den Hals in den Bauch der Zweiliterflasche. „Nach zwei Tagen ist die leer“, sagt er. Er fülle dann die Flasche wieder mit Trinkwasser und kaufe sich die nächste Zitrone.

Die Hitze im Sommer setze ihm stärker zu als die Kälte im Berliner Winter, sagt er. Der Obdachlose erklärt das damit, dass er in Rumänien als Holzfäller gearbeitet hat. „Ich bin Kälte gewöhnt“, sagt er. Seine Plastiktüten mit Pullovern, Schals und Mützen legen aber auch eine andere Erklärung nahe. Emil kann sich im Winter in Schichten von Kleidung hüllen. Die Hitze im Sommer muss er im Unterhemd ertragen.

Für Matthias Spreemann ist der Sommer 2023 bisher ein normaler Sommer. Grauer Himmel und Regengüsse folgten auf einzelne Hitzetage. Berlin sei mit seiner in Europa einmaligen Hitzehilfe für Obdachlose ziemlich fortschrittlich, sagt er. „Um die 40 Grad hat es bei uns ja auch schon gegeben. Aber so etwas Krasses wie die Hitze in Südeuropa eben nicht“, sagt er. Was auch immer sich in einem der kommenden Sommer oder vielleicht schon in den nächsten Wochen am Himmel über Berlin zusammenbraut, könnte trotz aller Vorbereitungen gefährlich werden für Menschen wie Emil.