Interview

Berliner Kommissarin: „Es kann sein, dass Herr Dr. Klausnitzer nie gefunden wird“

Der Berliner Ralf Klausnitzer verschwand bei einer Dienstreise in Taiwan. Die in seinem Fall ermittelnde Kommissarin wehrt sich gegen Vorwürfe der Familie. Ein Interview.

Ralf Klausnitzer wird seit dem 26. März 2024 vermisst.
Ralf Klausnitzer wird seit dem 26. März 2024 vermisst.BLZ/Privat

Am 26. März 2024 ist Ralf Klausnitzer, Dozent an der Berliner Humboldt-Universität, in Taiwan verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Seine Angehörigen haben Vorwürfe gegen die deutschen Behörden erhoben. Sie kritisieren, dass sich niemand für sie zuständig fühlte, sie stundenlang warten mussten, bevor sie eine Vermisstenanzeige aufgeben konnten und lange nicht über den Ermittlungsstand informiert wurden.

Martina Worm, 61, Kriminalhauptkommissarin, arbeitet in der Vermisstenstelle der Berliner Polizei und ist für den Fall Klausnitzer zuständig. Im Interview mit der Berliner Zeitung stellt sie sich der Kritik der Familie, erklärt das komplizierte Regelwerk, an das sie gebunden ist, wenn Deutsche im Ausland verschwinden, und berichtet über die Suche nach Vermissten in Berlin. Das Gespräch findet in ihrem Büro in der Keithstraße statt. Ralf Klausnitzers Angehörige haben ihr Einverständnis gegeben, dass sie in der Öffentlichkeit über den Fall sprechen darf.

Fall Klausnitzer: „Vermisstenanzeige umfasst sieben Seiten“

Frau Worm, Ralf Klausnitzers Familie musste vier Stunden warten, bevor sie ihre Vermisstenanzeige aufgeben konnte. Was ist da schiefgelaufen?

Herr Dr. Klausnitzer wurde zunächst von seinem Sohn am 5. April 2024 um 14.29 Uhr via Internet als vermisst gemeldet. Eine zweite Anzeige wurde vom Sohn gemeinsam mit der Schwester des Vermissten auf einem Berliner Polizeiabschnitt mit festgehaltener Uhrzeit „16.00 Uhr“ erstattet, wobei aus der Anzeige selber hervorgeht, dass beide gegen 15.30 Uhr auf der Wache erschienen. Um genau 17.05 Uhr wurde ich bereits kontaktiert. Es ist also nicht wirklich vorstellbar, dass Familie Klausnitzer vier Stunden warten musste. Sollte eine längere Wartezeit dennoch zustande gekommen sein, könnte es daran gelegen haben, dass mehrere Einsätze mit hoher Priorität gleichzeitig aufgelaufen sind.

(Ulrike Klausnitzer, Schwester des Vermissten, sagt dazu, die Internetanzeige wurde aufgegeben, während sie und der Sohn in der Dienststelle warteten.)

Welche Fälle haben denn die höchste Priorität?

Zum Beispiel Hilferufe oder Straftaten, bei denen der Täter sich noch am Tatort aufhalten könnte.

Die Familie fragt sich auch: Warum bekamen sie, nachdem sie die Anzeige aufgegeben hatten, einen Zettel, auf dem nur eine Nummer stand, aber nicht einmal der Name des Vermissten?

Auf dem Formular wird eine Nummer mitgeteilt, unter der jeder Polizeibeamte in Berlin diesen Vorgang wiederfinden kann. Der Name der Person ist da nicht relevant. In der Vermisstenanzeige selbst wird schließlich alles festgehalten, was für unsere Ermittlungen wichtig ist und uns von den Angehörigen mitgeteilt wurde, Personalien des Vermissten, eine genaue Personenbeschreibung, aktuelle Lichtbilder und relevante Vorkommnisse vor dem Verschwinden. Im Fall von Herrn Dr. Klausnitzer umfasst die Vermisstenanzeige sieben Seiten. Diese wird aber nur für unsere Ermittlungsarbeit gefertigt und schon aus Datenschutzgründen an niemanden herausgegeben.

Wann sollte man einen Menschen eigentlich als vermisst melden? Ich habe mal über einen Fall berichtet, wo ein Polizist zu einem Mann gesagt hat: Ihre Frau ist ein freier Mensch, die kann machen, was sie will.

Natürlich sind gesunde, erwachsene Menschen, die nicht unter Betreuung stehen oder mit einem gerichtlichen Beschluss geschlossen untergebracht sind, dazu berechtigt, zu tun und zu lassen, was sie möchten. Die Ausschreibung eines vermissten Menschen zur Fahndung ist ja auch immer ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte desjenigen und deshalb nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Besteht für eine verschwundene erwachsene Person ein begründeter Verdacht für eine Gefahr für Leib oder Leben, so wird selbstverständlich eine Vermisstenanzeige aufgenommen.

Öffentliche Fahndung: „Heftiger Eingriff in die Persönlichkeitsrechte“

Kommt es vor, dass Sie sich einen Fall ansehen und dann entscheiden, da suchen wir nicht?

Nach Prüfung des Sachverhaltes kann sich ergeben, dass die Person freiwillig und ohne Gefährdung unterwegs ist. Stellen Sie sich vor, jemand will keinen Kontakt mehr zur Familie haben, sowas gibt es leider nicht selten. Und derjenige steigt dann in den Flieger und wird von der Polizei angehalten. Das ist ein heftiger Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Bei einer sogenannten Öffentlichkeitsfahndung geht das noch weiter. Da sieht man auf einmal sein eigenes Gesicht in der U-Bahn oder in der Zeitung. Deswegen muss man sensibel mit diesen Fällen umgehen. Es gibt die weit verbreitete Ansicht, dass man erst nach zehn Tagen als vermisst gilt. Das ist eine Mär. So eine Regel gibt es nicht.

Was haben Sie getan, als die Anzeige im Fall Ralf Klausnitzer bei Ihnen angekommen ist?

Ich habe mir sämtliche Fragen dazu aufgeschrieben, mich gefragt, was ist jetzt hier erstmal wichtig? Was muss ich überlegen, was muss ich anregen? Herr Dr. Klausnitzer ist ja nicht hier in Berlin, sondern in Taiwan, also im Ausland, vermisst. In solch einem Fall sind wir als ermittelnde Dienststelle nicht dazu berechtigt, einfach den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und mit einer ausländischen Dienststelle zu telefonieren.

Sie konnten nicht die Polizei in Taiwan anrufen?

Das steht mir nicht zu, das können und dürfen wir nicht. Derartige Anfragen laufen über das hier in Berlin zuständige LKA für auswärtige Angelegenheiten und unser Bundeskriminalamt. Von dort wird die Anfrage an das entsprechende Land weitergeleitet. Am Montag, den 8. April 2024, habe ich die Anfrage an Taiwan geschickt.

Wann haben Sie die Antwort bekommen?

Am 9. April. Das war sechs Tage nach dem großen Erdbeben. Wir waren ja zunächst davon ausgegangen, dass das Verschwinden von Herrn Dr. Klausnitzer mit diesem Erdbeben zu tun hatte. Dass er bereits am 26. März einen Ausflug in den Taroko-Nationalpark gemacht hat und von dort nicht zurückkam, haben wir erst später erfahren. Zuerst war das dem Hostel aufgefallen, in dem Dr. Klausnitzer gewohnt und nicht wie geplant am 28. März ausgecheckt hat.

Was aber schon Grund zur Sorge ist?

Das fiel natürlich auf, und das Hostel hat dann auch die örtliche Polizei informiert und Dr. Klausnitzers Gepäck und persönliche Sachen dorthin gebracht. Die Polizei Berlin hat dann erst am 5. April 2024 durch die Anzeige der Familie erfahren, dass Dr. Klausnitzer vermisst wird. Am 9. April habe ich aus Taiwan erfahren, dass es einen Verbindungsbeamten gibt. Taiwan ist kein Mitglied der Interpol, aus diesem Grund wurde seitens des BKA der taiwanesische Verbindungsbeamte in Deutschland um Unterstützung gebeten.

Konnten Sie mit ihm sprechen?

Zu ihm fand die Kommunikation per E-Mail statt. Ich würde an der Stelle auch gerne erklären, warum es so lange gedauert hat, bis die Familie die Unterlagen aus Taiwan bekommen hat. Darüber hat sie sich ja ebenfalls massiv beschwert. Die Herausgabe der taiwanesischen Ermittlungsergebnisse zur großangelegten Suchaktion erfolgte nur mit ausdrücklicher Genehmigung der taiwanesischen Behörden. Auf diese mussten wir nach unserer Anfrage sehr lange warten.

Kommissarin Worm: „Keine Berechtigung, im Ausland zu ermitteln“

Als Sie die Ermittlungsergebnisse kannten, was haben Sie da gedacht, was passiert sein könnte?

Der Taroko Nationalpark ist ein riesiges bergiges Gebiet mit großen Wäldern, tiefen Tälern und Schluchten. Es gab ja die letzte Videoaufnahme von ihm, die ihn im Taroko-Nationalpark nach dem Verlassen des im Park gelegenen Tempels zeigt. Dr. Klausnitzer trug ganz einfache Turnschuhe, eine kurze Hose und ein T-Shirt. Er hatte offensichtlich weder einen Rucksack noch Getränke bei sich. Sein Sohn und seine Schwester hatten ihn bei unserem Gespräch am 12. April 2024 als sehr abenteuerlustig beschrieben und gesagt, es sei durchaus denkbar, dass er die gekennzeichneten Wanderwege verlassen habe. Wenn man da einen falschen Tritt tut, abrutscht und in die Tiefe stürzt, wird man den Sturz in solch einer Gegend vermutlich kaum überleben.

Also gehen Sie davon aus, dass es ein Unfall war?

Fakt ist: Herr Dr. Klausnitzer ist am 26. März 2024 in diesen Nationalpark gegangen. Er hat den Xiangde-Tempel betreten und ihn wieder verlassen. Das sieht man auf dem Video der Überwachungskamera, es ist das letzte Lebenszeichen von Dr. Klausnitzer. Ich vermute, dass er in diesem Park verunglückt ist und dass er möglicherweise durch einen Sturz aus großer Höhe sofort tot war oder bewusstlos an einer Stelle gelegen hat, wo ihn niemand finden konnte. Das Handy hat noch so lange gesendet, bis der Akku leer war. Und erschwerend kam dann später, am 3. April 2024, noch das Erdbeben hinzu, in dessen Epizentrum auch der Taroko-Nationalpark liegt.

Martina Worm
Zur Person
Martina Worm, 61 Jahre alt, ist Kriminalhauptkommissarin in Berlin. Sie arbeitet seit 2015 bei der Vermisstenstelle des Berliner Landeskriminalamtes und seit mehr als 40 Jahren bei der Polizei. Aus Angst, in der Öffentlichkeit erkannt zu werden, wollte sie sich für das Interview nicht fotografieren lassen.
Vermisstenmeldung
Information der Polizei
Vermisstenmeldungen kann man am besten beim örtlichen Polizeiabschnitt, aber auch bei jeder anderen Polizeidienststelle erstatten. In Notfällen kann man auch die 110 anrufen oder die Internetwache nutzen. Vermisste Kinder werden anschließend vom LKA 124, der zentralen Vermisstenstelle Berlins, bearbeitet, vermisste Jugendliche und Erwachsene zunächst in den örtlichen Direktionen. Ist der Jugendliche oder der Erwachsene nach zehn Tagen noch nicht wieder aufgetaucht, wird der Fall an die Vermisstenstelle in der Keithstraße übergeben.

Hätten Sie nicht selbst nach Taiwan fliegen können, um zu ermitteln?

Nein, natürlich nicht. Wir haben keine Berechtigung, im Ausland zu ermitteln. Das haben die dort zuständigen Kollegen in wirklich großem Ausmaß getan. Wir haben hier Antworten und Berichte über unser BKA erhalten, die sich dann aber auch irgendwann erschöpft hatten. Nach dem Erdbeben am 3. April 2024 hat die taiwanesische Polizei alle Orte abgesucht, zu denen sich Ralf Klausnitzer hätte bewegt haben können. Es hat nicht einen einzigen Hinweis auf die Person gegeben.

Also kann es sein, dass er nie gefunden und die Todesursache nie festgestellt wird?

Ja, es kann sein, dass Herr Dr. Klausnitzer nie gefunden wird. Das wäre dann sicher dem ausgesprochen unwegsamen Gelände im Taroko-Nationalpark geschuldet und dem Erdbeben, wodurch das Gelände zusätzlich durch herabstürzendes Geröll und Gesteinsmassen verschüttet wurde. Eine Todesursache kann immer erst dann festgestellt werden, wenn wir den Körper haben. Es gibt in dem Nationalpark bis heute Gebiete, die abgesperrt sind, weil es viel zu gefährlich ist, dort hinzugehen. Und selbst wenn man den Körper finden würde, ist es leider erfahrungsgemäß oft so, dass nicht mehr festgestellt werden kann, ob jemand abgerutscht und in die Tiefe gestürzt oder vielleicht sogar selber gesprungen ist. In den letzten Jahren häufen sich Unfälle in den Bergen, meist sind es allein wandernde Männer, die als vermisst gemeldet werden. Nur in einem Fall, den wir betreut haben, war es eine Frau.

Sind das eher Unfälle oder Suizide?

Oft sind es Unfälle. Aber es ist – wie gesagt – auch schwer festzustellen, was genau die Todesursache ist. Und ich würde Angehörigen nicht einreden, dass es Suizid war, wenn ich es nicht mit Sicherheit weiß. Manche wollen ja auch nicht, dass ihre Angehörigen davon erfahren. Manche verschwinden und wir sehen sie nie wieder. In einem Fall tauchte der Schädel 50 Jahre später in den Bergen auf. Und die noch lebenden, inzwischen hochbetagten Geschwister konnten so erfahren, was mit ihrem Bruder passiert war.

Was war passiert?

Er war beim Wandern verunglückt, so wie es damals vermutet wurde.

Wie oft passiert es, dass Menschen verschwinden und nicht wieder auftauchen?

Grundsätzlich klären wir die meisten Fälle, oder sie klären sich von allein. Zum Beispiel dann, wenn Menschen wieder in ihr altes Leben zurückkehren.

„Manche sind vier Wochen verschwunden und plötzlich wieder da“

So etwas gibt es?

Ja, manche sind vier, fünf Wochen verschwunden und plötzlich sind sie wieder da. Das gibt es gar nicht so selten. Die rufen uns dann an, weil sie auf ihrem Handy sehen, dass wir versucht haben, sie zu erreichen und sagen: „Wie jetzt? Ich bin vermisst gemeldet? Ich war doch nur ein paar Wochen weg. Hier bin ich.“ Auch das überprüfen wir selbstverständlich. Denn da kann uns ja auch jemand das Blaue vom Himmel erzählen, weil er das Handy gefunden hat oder dergleichen. Ich frage dann nochmal nach. Wer sind Sie genau? Sagen Sie mir doch mal Ihren Namen. Wie ist der Vorname Ihrer Frau? Wann ist Ihre Tochter, ihr Sohn geboren? Und wenn er mir das alles beantworten kann, dann weiß ich, er ist es. Der Vermisste ist wieder da. Unter Umständen bitten wir die Person auch, hierher zur Dienststelle zu kommen, damit wir noch einmal über die Situation sprechen können.

Warum verschwinden Menschen fünf Wochen und tauchen dann wieder auf?

Manchmal sind es einfach mentale Probleme. Ein Mann war zwei Jahre lang verschwunden, wir sind fest davon ausgegangen, dass ihm etwas angetan wurde. Dann stellte sich heraus, dass er über den gesamten Zeitraum in Obdachlosigkeit gelebt hat, obwohl er Geld auf dem Konto hatte und einen festen Arbeitsplatz.

Aber warum war er dann obdachlos?

Weil ihm seine Wohnung gekündigt worden war. Er hätte sich etwas anderes suchen können. Aber er ist mit diesem Verlust nicht klargekommen. Das ist erst aufgefallen, als er auf eine zugewandte Caritas-Mitarbeiterin gestoßen ist, die sich um ihn gekümmert und ihm eine neue Wohnung besorgt hat. Bei der Anmeldung ploppte die Vermisstenmeldung auf. Unsere zuständige Kollegin hat sich mit ihm getroffen, um sicherzugehen, dass ihm wirklich nichts passiert ist und es sich tatsächlich um die vermisste Person handelte. Er erzählte ihr, dass er, nachdem er seine Wohnung verloren hatte, noch eine Nacht im Hotel geschlafen hat und dann abgetaucht ist.

Und Menschen, die verschwinden, weil sie entführt oder ermordet wurden? Wie oft passiert so etwas?

Zum Glück selten. Wir können keine Prozentzahl nennen, aber es ist weniger als ein Fall pro Jahr. Sie sind nur bekannter, weil sie durch die Presse gehen. Wie der Fall „Rebecca“, bei dem die Polizei davon ausgeht, dass das Mädchen einer Straftat zum Opfer gefallen ist. Oder der kleine Mohammed, der von einem Mann vom Gelände des LAGeSo entführt wurde.

Wieviele Fälle bleiben ungeklärt?

Zum 1. Juni dieses Jahres hatten wir in Berlin 462 vermisste Personen. Das hört sich nach einer wahnsinnigen Zahl an, ist es aber gar nicht, weil Altfälle im dreistelligen Bereich dabei sind und ganz viele Dauervermisste, wie wir sie nennen. Das sind Jugendliche oder Kinder, aber auch demente Erwachsene, die immer wieder aus ihren Einrichtungen oder von zuhause ausreißen, was manchmal traurig endet. Aber in der Regel werden sie wiedergefunden oder kehren nach kurzer Zeit von allein zurück. Die Zahl der vermissten Kinder und Jugendlichen nimmt zu, weil sie heute schon in früherem Alter unterwegs sind. Wir haben Elfjährige, die ständig auf Trebe sind und nicht mehr zur Schule gehen. Heute heißt es Schul-Distanzler. Oft sind es Kinder, die mit viel Älteren zusammen ihre Freizeit verbringen. Sie kommen nicht selten aus schwierigen Verhältnissen oder aus Einrichtungen, die überlastet sind.

Was machen Sie, wenn Sie Kinder, die auf der Straße leben, wiederfinden, am Alexanderplatz zum Beispiel, und die wollen nicht zurück nach Hause kommen?

Die Polizei darf vermisste Kinder in Gewahrsam nehmen und dorthin zurückbringen, wo sie weggelaufen sind. Setzt sich das Kind zur Wehr, darf seitens der Polizei auch einfache körperliche Gewalt angewendet werden. Diese muss jedoch immer verhältnismäßig sein. Kinder dürfen zum Beispiel bis zur Abholung durch die Eltern nicht in eine Gewahrsamszelle gesperrt werden. Sie werden auf der Wache betreut und dort muss immer jemand ein Auge auf sie haben. Je nach Situation werden sie entweder von ihren Eltern abgeholt oder nach Hause gebracht. Wohnen die Kinder bereits in einer Einrichtung, werden sie dorthin verbracht. Betreuer oder auch Sozialarbeiter dürfen Kinder nicht festhalten. Das heißt, oft gehen diese vorne in das Gebäude rein und hinten wieder raus. Manchmal duschen sie noch, schlafen ein paar Stunden, nehmen sich noch etwas zu essen mit und sind dann wieder verschwunden. Der Alexanderplatz ist einer der klassischen Orte, an denen sich vermisste Kinder und Jugendliche aufhalten.

Kommissarin Worm: „Entführung des kleinen Mohammed hat uns sehr schockiert“

Wie sehr beschäftigen Sie Ihre Fälle über die Arbeit hinaus?

Wir versuchen natürlich, die nötige Distanz zu wahren. Das ist aber nicht immer leicht, vor allem wenn es um Kinder geht. Die Entführung des kleinen Mohammed im Herbst 2015 hat uns alle sehr schockiert. Besonders wenn ein Kind tot aufgefunden wird, berührt das alle Kollegen sehr.

Sie überbringen dann die Todesnachricht?

Ja, gemeinsam mit einem Kollegen oder einer Kollegin. Manchmal werden wir auch von unserer Psychologin begleitet.

Wie sagen Sie es?

Wir überbringen solch eine Nachricht nicht an der Haustür. Wir fragen, ob wir hereinkommen dürfen und uns ungestört irgendwo hinsetzen und unterhalten können. Dann ist es wichtig, sofort zum Punkt zu kommen, konkret zu formulieren, dass die zuvor vermisste Person tot ist. Meistens warten wir noch, bis ein Angehöriger hinzukommt, der sich dann um die oder den Betroffenen kümmert. Oder wir fragen, ob psychologische Unterstützung gewünscht wird. Wir lassen eine Person in solch einer Situation nicht allein zurück, es sei denn, sie wünscht das ausdrücklich.

Wie sind die Reaktionen?

Wenn es um jemanden geht, der schon sehr lange vermisst wird, kann es bei Angehörigen Erleichterung geben, aber auch Erschütterung. Wir hatten den Fall einer Frau, die mit ihrem dementen Mann nach Hamburg gefahren ist, weil sie ihm noch einmal die Stadt zeigen wollte. An einer roten Ampel ist er dort aus dem Auto gesprungen, in der Menge verschwunden und war nicht mehr aufzufinden. Seine Frau hat Plakate aufgehängt, die Kollegen in Hamburg haben nach ihm gesucht, und auch hier in Berlin wurde ermittelt. Als seine Leiche nach neun Monaten in Hamburg am Ufer eines Gewässers gefunden wurde, sind Kollegen der Vermisstenstelle zu der Frau gefahren und haben ihr die Nachricht überbracht. Sie schaute sich nur suchend um und fragte: „Aber wo ist er denn?“ Sie hat nur gehört, was sie hören wollte und wirklich gedacht, die Kollegen bringen ihn lebend wieder zurück. Das war erschütternd und anrührend.

Kommt es vor, dass Menschen verschwinden und woanders unter einer neuen Identität ein neues Leben anfangen? Oder sind das Geschichten, wie es sie nur in Krimis gibt?

Wir hatten tatsächlich mal so einen Fall, der ist aber schon länger her, ich kenne ihn nur aus Erzählungen. Ein Mann hat vorgetäuscht, dass er aus dem Leben geschieden sei. In Südamerika hat man eine Brandstelle gefunden mit Leichenteilen. Das Einzige, was nicht verbrannt war, war der Personalausweis. Das war jemand, der viele Schulden hatte und sich auf diesem Weg verabschieden wollte, um sich eine neue Identität zuzulegen. Die Knochen stammten von einer anderen Person. Das ist tatsächlich der einzige Fall, der uns bekannt ist. Entweder gibt es nicht mehr, oder die anderen haben es zu gut angestellt.

Ralf Klausnitzers Eltern haben eine Zeitlang gehofft, ihr Sohn könnte in Taiwan ein neues Leben angefangen haben, unter Indigenen zum Beispiel.

Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, was mit ihm passiert ist. Aber die Polizei in Taiwan ist ja an die Öffentlichkeit gegangen, hat auch Bewohner aus dem Nationalpark befragt. Dr. Ralf Klausnitzer hat hellblonde Haare, man sieht, dass er nicht von dort kommt. Wäre er irgendwo aufgetaucht, dann hätte sich bestimmt jemand gemeldet. Ich kann die Hoffnung der Eltern, dass ihr Sohn zurückkommt, verstehen, auch wenn ich mich nicht in ihre Situation hineinversetzen kann, weil ich noch nie selbst in solch einer Situation war. Und ich möchte auch nie in solch eine Situation kommen. Man bleibt immer das Kind seiner Eltern, egal, ob man drei, 20 oder 50 Jahre alt ist. Und sich damit abfinden zu müssen, dass der Sohn, der einfach nur auf einer Reise war, vermutlich nicht mehr zurückkommen wird, das ist die Hölle. Es ist jetzt über ein Jahr her, dass Herr Dr. Klausnitzer verschwunden ist und es gibt bisher keine Neuigkeiten oder Hinweise zu diesem Fall. Wenn es sie geben sollte, werden wir ihnen selbstverständlich sofort nachgehen.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de


Empfehlungen aus dem BLZ-Ticketshop: