Eine Mutter hockt mit ihren Kindern ganz eng zusammen in einem Bunker. Sie sind vor einem Luftangriff in den Keller unter das Flughafengebäude geflüchtet, weil dieses Gelände bisher von Bomben verschont blieb.
Um die Kinder zu beruhigen, erzählt die Mutter eine Geschichte, sie handelt von den Hunden Plisch und Plum, die sterben sollen. Es ist eigentlich eine grausame Geschichte in Reimen: „An dem Teiche steht er still / Weil er sie ertränken will.“ Die Mutter liest sie vor, weil sie hier im Bunker an der Wand geschrieben steht: „Plisch und Plum“ von Wilhelm Busch. Die Geschichte soll ablenken. Noch heute ist sie an der Wand zu lesen.
Steht man in dem Luftschutzraum unter dem Flughafen Tempelhof und blickt auf das Märchen an der Wand, wird die Situation so nah, so greifbar. Insbesondere da der Raum kein richtiger Bunker war, sondern eben nur ein Luftschutzraum. Eine Bombe, so sagt der Tourguide, der durch den Flughafen führt, wäre ganz sicher durch die Decke gedrungen, ein Überleben sehr unwahrscheinlich. Allerdings trafen während des Kriegs nur zwei alliierte Fliegerbomben das Flughafengebäude.
Will man das Berlin der letzten einhundert Jahre und seine Entwicklung nachvollziehen, lohnt so eine Tour durch das Flughafengebäude. Das NS-Regime, der von ihm entfachte Krieg und der Untergang der Nationalsozialisten werden hier greifbar. Das Schicksal der geteilten Stadt und die Besatzung kann jeder nachempfinden, der hierherkommt. Und auch die neu erlernte Selbstständigkeit der Hauptstadt nach der Übergabe des Flughafens 1993 und die politischen Debatten der vergangenen Jahre rund um das Flughafengelände bündeln sich an diesem Ort.
Da ist zum Beispiel ein ausgebrannter Bunker einige Meter unter der Erde. Die Wände voller Ruß, der Stahlbeton ist teils geschmolzen. Alte Zelluloidfilme waren unter der Erde gelagert. Im April 1945, in den letzten Kriegstagen sind sie verbrannt, oder besser: explodiert. Noch immer zeugen die Wände von dem Inferno, das hier stattgefunden haben muss.
Die Hansaluftbild arbeitete mit dem NS-Regime zusammen und lagerte in dem Bunker Luftbildaufnahmen. Zum Kriegsende sollten diese Beweismittel wohl vernichtet werden. Danach kamen amerikanische Besatzungssoldaten, die nutzten den Bunker aber kaum. Erst als sie 1993 auszogen, fand der Raum wieder einen Sinn als Partylocation für die so berühmte Berliner Subkultur der 90er-Jahre, so heißt es. „Wow, that’s literally so Berlin“, sagt eine der Touristinnen, die an der Tour teilnimmt.
Heute ist das ehemalige Flughafengebäude das größte Baudenkmal Europas. Dafür sorgen die monumentalen Ausmaße, die der Architekt Ernst Sagebiel für seinen „Weltflughafen“, so der Plan des NS-Regimes, vorsah. Der Halbkreis mit dem Hauptgebäude und den Hangars erstreckt sich über mehr als einen Kilometer Länge.
Wie sich NS-Ideologie in Architektur überträgt, zeigt sich in den riesigen Abflughallen. Das verwendete Gestein durfte nur aus Deutschland stammen, nichts wurde importiert. Die Größe und Weite der Hallen schüchtern ein, lassen den einzelnen Menschen klein wirken. Die Adlerskulpturen an der Außenfassade zeigen die Aggressivität des Regimes, das sie bauen ließ. Insbesondere der große Adler auf dem Dach des Hauptgebäudes zeigte die Ambitionen der Nationalsozialisten. Er thronte auf einer riesigen Weltkugel mit Hakenkreuz, die Krallen fest in die Erde vergraben.
Mehr als 50.000 Quadratmeter stehen frei
Das Flughafengebäude gilt als prototypisch für die Architektur der Nationalsozialisten. Deswegen ist es auch beliebt als Kulisse für Hollywoodproduktionen. Als erster ließ der Regisseur Billy Wilder hier seinen Film „Eins, zwei, drei“ drehen. Auch der Film „Operation Walküre“ über das Stauffenberg-Attentat wurde zu Teilen im Flughafengebäude gefilmt. Ebenso die „Hunger-Games“-Filmreihe mit Jennifer Lawrence.
Geht man also heute durch das Gebäude, werden die verschiedenen Phasen seiner Existenz deutlich. Direkt neben dem Luftschutzraum mit dem Märchen ist eine alte Squashwand, die die amerikanischen Soldaten bauten, um sich die Zeit zu vertreiben. Auch ein Basketballplatz ist noch im Original erhalten. Hier spielte die GI-Mannschaft „Berlin-Braves“ bis zum Abzug der amerikanischen Streitkräfte 1993. Das Logo der Mannschaft ziert noch immer den Hallenboden.
Seit seiner Schließung 2008 wird der Flughafen allerdings immer mehr verändert. Mehr als 80 Mieter beziehen die Büroflächen oder Hangars. Eine Privatuniversität hat sich hier niedergelassen. Die Polizei belegt bei weitem die größte Fläche. Der ehemalige Hangar eins bietet Raum für kostenlose Sport- und Kulturangebote. Auch der alte Offiziersclub der US Air Force, das Silverwings, ist noch erhalten und als Tanzbar beliebt.
Im Gebäude stehen aber noch mehr als 70.000 Quadratmeter leer, 50.000 werden nur gelegentlich genutzt. Theresa Keilhacker, die Präsidentin der Architektenkammer Berlin, kritisiert das. „Man muss das Gebäude eigentlich wie ein eigenes Stadtquartier betrachten“, sagt sie, „dafür sorgen, dass sich ganz viele Menschen dort aufhalten und den Ort mit Leben füllen.“
Man könne die Flächen nicht einfach leer stehen lassen. Stattdessen fordert sie beispielsweise einen großen Gewerbestandort für Start-ups rund um das Citylab. „Warum bringt man dort nicht die Digitalisierung voran und macht diese sichtbar? Nachhaltigkeitsthemen, Zukunftsforschung – man könnte all das dort ansiedeln“, sagt sie.
Die Westseite des Gebäudes und das gesamte Dach sind von der Flughafengesellschaft für eine dauerhafte kulturelle Nutzung reserviert. Im ehemaligen Fluglotsentower soll noch in diesem Sommer eine Ausstellungsfläche entstehen. Das Dach soll als Aussichtsplattform den Blick über das gesamte Flugfeld ermöglichen. In die Hangars 5-7 sollen die Deutsche Film- und Fernsehakademie, das Deutsche Technikmuseum und das Alliiertenmuseum einziehen.
Auf der gesamten Länge des Dachs soll bis 2031 eine Geschichtsgalerie entstehen, die Besucherinnen und Besuchern interaktiv einen Blick in die Geschichte des Flughafens ermöglichen soll. Außer für den Fluglotsentower und die Geschichtsgalerie, die ab 2027 stufenweise fertiggestellt werden sollen, gibt es allerdings keine feste Einzugstermine.

















