Mit fest zusammengepresstem Mund steuert Lutz Zimmermann, der Fischer, seinen Kahn über die suppig-grüne Oder. Der süßliche Gestank von Verwesung hängt über dem Fluss, wie ein unsichtbarer Schleier. Der Fischer lässt den Blick schweifen. Er schaut auf Hunderte weiße Fischleiber mit aufgeblähten Bäuchen, die ihm entgegen langsam flussabwärts treiben. Er schaut zum Schilf am Ufer, wo sich etliche Kadaver verfangen haben. Ein Wels schaukelt dort zwischen den Ästen auf der Wasseroberfläche, gute anderthalb Meter lang. „Die hat es also auch erwischt“, sagt er knapp. „Ich hatte gehofft, dass wenigstens die Welse es schaffen würden.“
Er ist nicht allein an diesem drückend-heißen Donnerstag. Vorn, im Bug des Kahns, sitzt der Fischbiologe Jörn Geßner, 60, mit Schweißperlen auf der Stirn. Er hält Mess-Sonden ins Wasser, gibt die Daten durch: sehr hoher Salzgehalt, Wassertemperatur bei 28 Grad, kaum noch Sauerstoff. „Frustrierend“, sagt der Forscher. „Wie im Mittelmeer“, sagt der Fischer und lässt den Motor knattern.

Es ist Tag neun des großen Fischsterbens auf der deutschen Oder. Immer noch werden tote Fische aus dem Fluss geborgen. Mit Keschern, teilweise sogar mit Baggern. Umweltschützer sprechen von über 100 Tonnen Kadaver, die von freiwilligen Helfern seit dem 9. August aus dem Wasser gehoben, in Säcke und Container geschmissen und in Spezialöfen verbrannt wurden. Inzwischen, sagt Lutz Zimmermann, seien die Fischkörper so weich und verwest, dass man sie kaum noch aus dem Wasser heben könne. „Da bleiben im Kescher nur noch die Greten, der Rest rutscht durch.“
Er und Geßner sind an diesem drückend-heißen Donnerstag unterwegs, um zu schauen, wie schlimm es um den Fluss tatsächlich steht. Sie müssen das wissen, denn sie müssen planen. Der 57-jährige Zimmermann sowieso. Bereits in siebter Generation in seiner Familie arbeitet er als Fischer. Und nun ist sein Gebiet betroffen, seine Existenz steht auf dem Spiel. Schon jetzt hört er von Kunden, die Fisch nicht mehr kaufen wollten, aus Angst, er käme aus der Oder. Aber er und Geßner haben auch ein gemeinsames Projekt hier bei Gartz, kurz vor Stettin, von dem sie wissen müssen, wie es weitergeht.
Seit vielen Jahren arbeiten sie daran, eine 2,2 Millionen Jahre alte Fischart im Fluss wieder anzusiedeln: den Stör. Ganz in der Nähe ziehen sie in Zuchtbecken rund 20.000 Jungfische pro Jahr auf. Bald wären diese wieder in die freie Natur gelassen worden. Doch die Giftwelle, die über den Fluss kam, gelangte über Schläuche auch in die Becken. Von den Fischen überlebte gerade einmal die Hälfte. Und die mussten die beiden Männer viel früher als geplant in Nebengewässern aussetzen. „Damit sie wenigstens noch eine kleine Chance haben“, sagt Geßner.
Noch immer sind die Ursachen für die Umweltkatastrophe nicht gänzlich aufgeklärt. Die Theorien der vergangenen Tage reichten von einer hohen Quecksilber-Belastung, über Giftanschläge bis hin zu aufgewirbelten und verunreinigten Sedimentschichten. Viele dieser Theorien konnten inzwischen ausgeschlossen werden. Und allmählich verdichten sich die Untersuchungen zu einem Bild: Irgendwo in Polen, möglicherweise in der Nähe von Oppeln, so glaubt man, wurde eine gewaltige Menge salzhaltiger Stoffe in den Fluss geleitet. Vermutlich von einem Industrie-Unternehmen.
Eine giftige Alge sei entstanden, die ein für Fische sehr giftiges Toxin produziere. Der extreme Salzgehalt in Kombination mit hohen Temperaturen habe vermutlich ihr Wachstum gefördert, heißt es von Forschern des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin. Das starke Niedrigwasser der vergangenen Tage habe die Konzentration enorm erhöht. „Die Alge kennen wir eigentlich nur aus Brackwassergewässern in sehr heißen Gebieten wie Texas“, sagt Jörn Geßner, der mit seinem Störprojekt bereits seit 1995 ebenfalls am IGB arbeitet. Hierzulande habe man die Alge bisher noch nicht gesehen, schon gar nicht in einem Süßwasserfluss.

Hohe Temperaturen und Niedrigwasser als Unterstützer des Fischsterbens also. Damit bestätigt sich eine weitere Annahme, die von Wissenschaftlern immer wieder geäußert wurde: Ohne die beiden Faktoren wäre es wohl nicht zur Umweltkatastrophe gekommen. Von Gewässerökologen hieß es bereits vor Veröffentlichung der neusten Giftalgen-Theorie, dass die Oder und ihre Bewohner – die Fische, die Schnecken und die Muscheln – unter extremem Stress gestanden hätten. Ein giftiger Stoff wäre vielleicht nur noch der letzte Tropfen gewesen, der das Sterben ausgelöst hätte. Mit der neusten Theorie zeigt sich womöglich, dass Niedrigwasser und Hitze die Giftproduktion sogar überhaupt erst ermöglicht haben. Und damit rückt neben einem bisher unbekannten Industrie-Unternehmen ein weiterer Täter in den Fokus: der Klimawandel.
Wo man auch hinschaut in diesem Sommer, man sieht eine Natur am Limit. Neben den vielen Waldbränden in Brandenburg und Sachsen, sind es die Gewässer, die Flüsse und Seen, die von Hitze und extremer Trockenheit immer weiter in Mitleidenschaft gezogen werden. Ein anderes gravierendes Beispiel ist der Rhein. Dort wurden in den vergangenen Tagen stellenweise Pegelstände von null gemessen. Das Flussbett lag frei und war sogar begehbar. In Elbe und Weser wurden jahrhundertealte Hungersteine freigelegt, die Dürrejahre kennzeichnen und auf die Gefahren von Wassermangel aufmerksam machen sollten. Auf einem steht: „Wenn du mich siehst, dann weine.“
„Wir haben seit den Dürrejahren 2018, 2019 eigentlich keine Erholung mehr gehabt“, sagt Markus Weitere, Gewässerökologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UfZ). Vor allem im Osten Deutschlands fehle durch die Trockenheit immer mehr Wasser im Gesamtsystem. Davon seien nicht nur die Flüsse betroffen, sondern auch die Landschaft drumherum, speziell die ökologisch wichtigen Auen. „In diesen Seitenarmen suchen Jungfische und auch Amphibien ein Refugium, um sich zu vermehren und zu schützen“, erklärt er. Die Auen aber zeigten erhebliche Trockenstress-Symptome. Durch das Niedrigwasser nehme zudem die Schadstoffkonzentration in den Flüssen zu, es käme deutlich öfter zu Algenbildungen.
An der Oder ist das Niedrigwasser nicht ganz so extrem wie an anderen Flüssen. Das liegt vor allem daran, dass der Fluss auf 500 Kilometern in Deutschland komplett natürlich geblieben ist. Er ist ein wilder Strom. Im Gegensatz zu den allermeisten Flüssen in Europa, die vor allem für die Schifffahrt begradigt und vertieft wurden. Doch auch hier wurden in dieser Woche bedenklich tiefe Pegelstände gemessen. Am Mittwoch waren es in Frankfurt (Oder) noch 1,46 Meter. Der historisch niedrigste Pegel aus dem Jahr 1976 lag nur vier Zentimeter darunter.
„Die Lebensbedingungen im Ökosystem werden durch Temperaturerhöhungen und Niedrigwasser immer suboptimaler“, sagt auch Jörn Geßner, der Stör-Experte, während er auf dem Kahn von Lutz Zimmermann hockt. Aber hinzukämen die Menschen, die das Ganze noch schlimmer machten. „Indem wir den Fluss so umbauen, dass er für die Schiffe passt, die wir gebaut haben und nicht umgekehrt“, sagt er. Und indem Stoffe in das Wasser geleitet würden, die den Fluss überforderten.
Dass Schadstoffe in Flüsse geleitet werden, ist gang und gebe. Industrie-Betriebe in Deutschland können bei den Wasserbehörden sogar Genehmigungen beantragen und unter bestimmten Voraussetzungen Nährstoffe, wie Nitrat, Salze und andere Stoffe in die Flüsse leiten. Markus Weitere vom UfZ erklärt: „Die Flüsse haben eine natürliche Reinigungsfunktion, Bakterien und Schadstoffe werden darin filtriert.“ Das ginge aber nur, wenn die Ökosysteme gesund seien, betont er. Aus diesem Grund sei es von größter Bedeutung, sich für ihren Schutz einzusetzen. Also nicht – in Anführungszeichen – nur für die Natur, sondern auch für uns Menschen.
Doch während es in Deutschland Regeln dazu gibt, was in den Fluss geleitet werden darf und wie viel davon, deuten Medienberichte daraufhin, dass dies im Nachbarland Polen öfters anders gehandhabt wird. Immer wieder kursieren dort Videos von Industrieanlagen, aus denen scheinbar verseuchtes Wasser in die Oder sprudelt. Schon im März, so berichteten polnische Zeitungen, war es eine Papierfabrik in der Nähe von Oppeln, die verunreinigtes Wasser ohne Genehmigung in den Fluss leitete. „Es kommt durchaus mal vor, dass in Polen was in den Fluss geleitet wird“, sagt auch Jörn Geßner. „Da kann im Winter schon mal eine Welle durch die Oder gehen, wo auch ein paar Fische sterben, aber das war nie so, wie es jetzt ist.“

Auf dem Rücken seines durchgeschwitzten, dunkelblauen Poloshirts steht: „Stör mich nicht“. Eine Anspielung auf das Tier, dem er sein gesamtes Berufsleben gewidmet hat und dessen Wiederansiedlung in der Oder er verfolgt. Noch vor hundert Jahren, so erzählt er, sei der Stör hier auf natürliche Weise vorkommen. Faszinierend seien diese lebenden Fossile, weil sie über Millionen von Jahren gelernt hätten, sich an ihre Umgebung anzupassen. So könnten sie die elektrischen Pulse orten, die andere Tiere durch Muskelbewegungen verursachten. So fänden sie ihre Beute. Geßner Augen leuchten, wenn er von den Stören spricht. „Hauptsächlich leben sie im Meer, aber kommen zum Laichen zurück in die Flüsse, wo sie einst geboren wurden“, sagt er. Doch durch Überfischung und Verschmutzung starben die Wanderfische in der Oder aus. Schon damals sei der Mensch rücksichtslos mit der Natur um ihn herum umgegangen. Wie auch heute noch.
Wie es nun nach dem Fischsterben in der Oder mit dem Stör-Projekt weitergeht, kann Geßner nicht sagen. Genauso wenig wie Lutz Zimmermann, der Fischer, der gleich um die Ecke der Aufzuchtbecken wohnt und sie bislang betreut hat. Doch für ihn hat die Nachricht von den Giftalgen auch eine positive Seite: „Immerhin wissen wir dann, dass sich der Fluss wieder regenerieren wird“, sagt er. Anders als bei der zuerst vermuteten Verunreinigung durch Quecksilber, sei dies sehr wahrscheinlich. Und Geßner ergänzt vom Bug des Kahns: „Und wir wissen dann auch, was wir zu tun haben.“ Nämlich? „Aufhören, irgendwelche Stoffe in die Flüsse zu leiten und sie so gut es geht in Ruhe lassen.“






