Justiz

„Es ist eben Liebe!“: Warum zündet eine obdachlose Frau das Zelt ihres Partners an?

Jacqueline W. und Markus L. waren acht Jahre lang ein Paar, standen in Berlin zusammen Drogen, Corona und mehrere Winter ohne Wohnung durch. Dann zündet sie sein Zelt an.

Die Angeklagte Jacqueline W. am 3. August im Landgericht Berlin. Die Angeklagte soll das Zelt ihres obdachlosen Freundes angezündet haben.
Die Angeklagte Jacqueline W. am 3. August im Landgericht Berlin. Die Angeklagte soll das Zelt ihres obdachlosen Freundes angezündet haben.Pressefoto Wagner

Im niedrigen Bogen fliegt eine Packung Taschentücher über den Kopf der Verteidigung und landet in den Händen der kleinen, schwarzhaarigen Frau auf der Anklagebank. Jacqueline W. schnieft und lächelt Markus L., den hageren Mann im Zeugenstand, an. Er hat ihr seine Packung Tempos zugeworfen und lächelt zögerlich zurück. Sofort reagieren die Vollzugsbeamten, treten ans Gitter der Anklagebank und nehmen ihr die Taschentücher wieder ab – aus Sicherheitsgründen. Der Richter ermahnt Markus L., dieser hebt die Hände: „Tut mir leid, tut mir leid“, sagt er heiser.

Acht Jahre waren Markus L. und die Angeklagte Jacqueline W. ein Paar, beide lebten auf der Straße. Zusammen überlebten sie ihre Drogensucht, die Corona-Pandemie und das harte Dasein als Obdachlose. Dann versuchte Jacqueline W., ihn im Schlaf anzuzünden, nur knapp überlebte er. Die Anklage lautet: versuchter Mord, versuchte Brandstiftung, Körperverletzung. Das alles passierte am 20. Dezember des vergangenen Jahres. Am 15. August nun sahen sich die beiden zum ersten Mal wieder, im Saal 217 des Landgerichts. Er ist der Geschädigte und sie die Angeklagte.

Dieser Prozess findet am Donnerstag sein Ende. Es wird ein Urteil gefällt, im Namen des Volkes. Doch angesichts der Lebensgeschichten, die hier über mehrere Verhandlungstage aufgeblättert wurden, stellt sich schon die Frage nach der Rolle des Rechtsstaats für Menschen, um die sich der Staat lange nicht gekümmert hat. Alle Beteiligten haben sich bewusst für ein Leben außerhalb der Gesellschaft entschieden, wenn auch mitten in der Hauptstadt. Es geht um eine Liebe, die in einer gewaltvollen Welt entstanden ist, und darum, wie Gewalt letztlich gesiegt hat.

Alles begann im Jahr 2015, als sich die beiden kennenlernten. Damals war Markus L. bereits fünf Jahre obdachlos, er hatte bisher erfolglos gegen seine Heroinsucht angekämpft und seinen Job als Handwerker verloren. Sie trafen einander an der Seite des Hauses der Kulturen der Welt am Spreeufer, denn Obdachlose wissen: Dort gibt es draußen am Gebäude Steckdosen. Markus L. war gerade dabei, sein Mobiltelefon aufzuladen und Zeitung zu lesen, als er hinter einer Mauer Krähengeräusche hörte.

Es gab gute Tage – aber auch Schläge

Jacqueline W., damals 38 Jahre alt, mochte es, Tiere nachzuahmen, aber Markus L. reagierte genervt: „Halt doch endlich die Klappe, ich will Zeitung lesen!“ Sie habe geantwortet: „Du kleine männliche Hure, halt doch selber die Fresse!“ Er ging um die Mauer, um sie zur Rede zu stellen. Dann, so erzählt er vor Gericht, hat er sie das erste Mal gesehen.

Zwei Monate nach diesem ersten Kennenlernen sind die beiden ein Paar, sie ziehen zusammen durch die Stadt, unter den Obdachlosen kennen sie viele nur noch zusammen. Wenn Markus L. von dieser Zeit erzählt, lächelt er. „Das war alles schön und gut.“ Man passt aufeinander auf. Markus L. erzählt auch bald von den schlechten Tagen, von den Schlägen.

Der Lebensweg von Jacqueline W. wird in verschiedenen Sitzungen erzählt. Geboren sei sie 1977, ihre Eltern seien bei der Geburt der Tochter erst 17 Jahre alt gewesen. Die Mutter sei jung gestorben, der Vater verschwunden, Jacqueline W. kam in Heimen und Pflegefamilien unter. Dort sei sie oft eingesperrt und geschlagen worden. Seit ihrem 18. Geburtstag lebt sie auf der Straße. Markus L. glaubte ihr nicht die ganze Geschichte, habe zu ihr gesagt: „Das kennst du doch aus irgendeinem Film.“

Die Rechtsanwältin Heide Schallert sagt über die Zeit auf der Straße: „Es gab aber auch Zeiten, wo sie sich in der Obdachlosigkeit wohlgefühlt hat.“ Sie habe Fotos von der Natur gemacht und Blumen nahe ihres Zeltlagers gepflanzt. Zwischendurch habe Jacqueline W. eine Zeit lang mit dem Krankenpfleger Frank N. zusammengelebt. In dessen Wohnung habe sie Sicherheit gefunden, doch dann sei er an einem Herzinfarkt gestorben und sie sei zunächst in psychischer Behandlung und dann wieder auf der Straße gelandet. Dann traf sie Markus L.

Er nennt sie vor Gericht sein „kleines graues Mäuschen“, erzählt aber auch von ihren dunklen Seiten. „Eigentlich ist sie eine ganz Liebe“, sagt er, „nur eben manchmal legt sich ein Schalter in ihr um.“ Eifersucht war ein Thema in ihrer Beziehung, sie neidete ihm jegliche Freundschaft, besonders zu anderen Frauen.

Jacqueline W. stand schon mehrmals vor Gericht

Schon mehrmals stand sie vor Gericht, unter anderem wegen Widerstands gegen die Polizei und weil sie Markus L. mit einer Bratpfanne geschlagen haben soll. In dem psychologischen Gutachten, das damals erstellt wurde, werden ihre „großen Verlustängste“ beschrieben. Sie sei einfühlsam und ängstlich, habe wegen Missbrauchserfahrungen Panik, wenn man ihr nahe komme, und wehre deswegen die Polizei ab. Die Beziehung zu Markus sei „symbiotisch“, aber sie habe auch gesagt: „Er ist nicht immer gut zu mir.“

Markus L. weiß genau, um welchen Moment es hier geht. Er erzählt: Einmal habe er wegen eines Bandscheibenvorfalls große Schmerzen gehabt, doch sie wollte etwas von ihm, und als er nicht konnte, habe sie angefangen, ihn zu schlagen. Die Schmerzen seien so groß gewesen, dass er ihr eine Ohrfeige gab. Das sei das einzige Mal gewesen, dass er die Hand gegen sie erhoben habe, beteuert er. Diese Schwierigkeiten, mit anderen umzugehen, waren auch der Grund, warum sie in den 26 Jahren keine langfristige Unterkunft halten konnte.

Gibt sie impulsiv Geld aus? Ja, bestätigt Markus L. Einmal habe er ihr Geld für Essen gegeben und sie sei mit einem Malbuch und Stiften zurückgekommen. Auf die Frage, welche Drogen sie konsumiere, seufzt er und überlegt: „Mit Alkohol hat sie so 2017 angefangen.“ Außerdem hätten die beiden circa einmal im Monat Acid oder Speed zusammen genommen.

Der psychologische Gutachter Christian Winterhalter soll beurteilen, ob bei Jacqueline W. Verdacht auf Borderline besteht. Auch in ihrer Polizeiakte wird diese Diagnose erwähnt, denn bei der Aufnahme ihrer Personalien bemerkte man Narben an den Unterarmen. Selbstverletzendes Verhalten gehört zu den Symptomen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Narben seien alt, betont Markus L., sie habe „so etwas“ bei ihm nie getan. „Dafür bin ich stolz auf sie“, sagt Markus L., „ich bin stolz auf diese Frau.“

Irgendwann ist das Paar unter die Betonbögen ans Spreeufer gezogen, direkt gegenüber des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Regierungsviertel. Sie verbrachten dort zusammen den Winter, es sei der Rückfallort gewesen, wenn andere Schlafplätze weggefallen seien. Sein weißes Zelt hatte er sich für etwa 60 Euro selbst gekauft und mit einem kleinen Gaskocher ausgestattet. Am Zeltdach leuchtete eine LED-Lampe, ein Wecker stand direkt neben der Isomatte. Markus L. steht jeden Morgen um 8 Uhr auf.

Einige Minuten später brannte das Zelt

Kurz vor Weihnachten 2022 hatten sie Unterstützung von Hilfsvereinen erhalten. Markus L. bekam neue Schuhe, ein neues Handy und Geld, Jacqueline W. ein Hotelzimmer für vier Tage. Beide dachten, in einem Zimmer mit vier Wänden könnte sie sich stabilisieren, ihre Stimmungsschwankungen könnten dort verschwinden.

Nach den vier Tagen kam sie zurück zu Markus L., er wollte an dem Abend für sie beide kochen. Doch die Tomatensuppe wurde für Jacqueline W. nicht schnell genug warm, also habe sie angefangen, ihn zu schlagen, auch ins Gesicht, immer wieder. Die anderen mischten sich ein und er sagte ihr: „Hau ab!“ Ihre Beziehung sei endgültig beendet. Danach habe er getrunken und sich gegen 5 Uhr morgens schlafen gelegt.

Als er um 8 Uhr wach wurde, lag Jacqueline W. neben ihm im Bett. Er sei ausgeflippt: „Raus!“, habe er gerufen und auf den Ausgang gezeigt. Sie sei einfach gegangen. Danach habe er im Zelt gesessen und geraucht, sich dann wieder hingelegt, um noch etwas länger zu ruhen. Einige Minuten später brannte das Zelt. Eine Freundin rief: „Markus, du qualmst!“ Tropfendes Plastik habe Markus L. an der Hand verletzt.

Vor Gericht beschreibt der Mann die wochenlangen Halsschmerzen nach dem Vorfall, erzählt, dass er kaum sprechen und schlucken konnte. Zum Arzt ging er mit den Verletzungen nicht. Markus L. lief selbst zur nächsten Polizeiwache, um den Vorfall zu melden. Mehrere Zeugen sind sich sicher: Jacqueline W. habe den Brand gelegt. Als Jacqueline W. kurze Zeit später zum Tatort zurückkehrt, steht Markus L. noch mit Polizisten zusammen. Markus L. ruft: „Da ist sie!“ Jacqueline W. wird festgenommen.

Die Staatsanwaltschaft geht derzeit von versuchtem Mord aus, zusätzlich zur Sachbeschädigung und zur Körperverletzung. Markus L., das ergibt sich am Ende aus seinen Erzählungen, hat mittlerweile den Sprung geschafft: Seit dem Vorfall im vergangenen Winter habe er sich um eine feste Unterkunft bemühen können. Er stehe jetzt nach 13 Jahren auf der Straße wieder kurz vor einer eigenen Wohnung.

Markus L. sagt vor Gericht, dass er wohl immer noch mit Jacqueline W. zusammen wäre, wenn es diesen Morgen des 20. Dezember nicht gegeben hätte. Er wollte seine Freundin nie verlassen. Als das Gericht wissen will, warum, überlegt er erst und sagt dann: „Ich habe sie lieb.“ Die Anwältin hakt nach: „Aber warum?“ Da wird Markus L. laut: „Was, warum? Das können Sie nicht fragen, es ist eben Liebe!“ Nicht das erste Mal im Prozess beginnt Jacqueline W. auf der Anklagebank leise zu weinen. Am Donnerstag soll das Urteil in ihrem Fall verkündet werden.