Biodiversität

Ein Elch mit seltsamem Doppelleben lebt südlich von Berlin

Bert ist der einzige Elch, der sich in Deutschland niedergelassen hat. Meist lebt er zurückgezogen im Wald, doch in der Paarungszeit zieht es ihn zu Kühen.

Bert, der Elch, lebt für drei Monate im Jahr bei Beelitz in einer Herde Rinder auf der Weide.
Bert, der Elch, lebt für drei Monate im Jahr bei Beelitz in einer Herde Rinder auf der Weide.Steffen Heiber

Bert ist eine Berühmtheit, aus guten Gründen. Von welcher Tierart kann in einem solch großen Land wie Deutschland schon behauptet werden, dass dort nur ein einziges Exemplar dauerhaft lebt und dass für dieses eine Tier extra ein Straßenschild erfunden wurde. Eine solche Sonderbehandlung gibt es wohl nur für Bert, den Elch aus Brandenburg.

Bert lebt bei Beelitz, in der größten Spargelregion Deutschlands. Dort befindet sich der riesige Naturpark Nuthe-Nieplitz. Und in dieser Region hängt ein halbes Dutzend Schilder, auf denen ein schwarzer Elch gelassen über einen weißen Untergrund spaziert.

Elche sind mit einer Schulterhöhe von etwa 2,30 Metern die größten Hirsche der Welt – und einige können fast so viel wiegen wie Wisente, die schwersten Säugetiere Europas. Deshalb die Warnschilder für Autofahrer.

Doch Bert ist nicht leicht zu finden. Es gibt nur zwei Menschen, die wissen können, wo er steckt. Der eine ist der Wildbiologe Frank Michler von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde. Michler, 47 Jahre alt, hat Bert besendert, damit er per Satellit dessen Bewegungsprofil beobachten kann. Er will herausfinden: Wie groß ist sein Revier? Zu welcher Tageszeit ist er aktiv? Welche Lebensräume bevorzugt er? Das ist von großem Interesse, denn das sechs Jahre alte Tier ist der einzige „etablierte“ Elch in ganz Deutschland. Das bedeutet: Zwar wandern jedes Jahr etwa ein halbes Dutzend Elche von Polen aus in die drei Grenzländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen ein. Aber Bert ist bislang der einzige Elch, der sich hier auf Dauer niedergelassen hat.

Da er sich nun bald – wie jeden Winter – in die Tiefen der Wälder zurückziehen wird, wollen wir ihn noch mal sehen. Der Biologe Michler ist auf Dienstreise in Thüringen, also versuchen wir unser Glück bei dem Landwirt Ralf Engelhardt. Der ist deshalb ein Elch-Fachmann, weil Bert bei ihm Stammgast ist. Besser gesagt: bei Engelhardts Rindern. Denn das ist die zweite Besonderheit von Bert. Deutschlands einziger Elch hat sich in Kühe verliebt und lebt jedes Jahr in der Paarungszeit, also der Brunft, in einer großen Herde Weiderinder. Die Bilder des Elches bei den Kühen haben Bert berühmt gemacht.

Landwirt Ralf Engelhardt auf der Suche nach Bert
Landwirt Ralf Engelhardt auf der Suche nach BertGerd Engelsmann

Auch in diesem Jahr hat sich Bert Ende August zu der Herde gesellt. Doch die Weiden sind so weitläufig und im Wald versteckt, dass Bert nur für Kenner zu finden ist. Der Landwirt Engelhardt, 58 Jahre alt, sagt gleich zur Begrüßung: „Seit Tagen ist Bert die ganze Zeit bei meinen Kühen.“

Dann geht es los. Der Wagen ist geländegängig, und das ist auch nötig. Auf der Suche nach Bert geht es nicht nur über holprige Feldwege, sondern auch quer über die Weiden. Und die sind riesig. Knapp 300 Hektar, so groß wie das Tempelhofer Feld in Berlin. Auf diesen naturnahen Weiden leben die 180 Rinder und 130 Kälber das ganze Jahr.

Die Mutterkühe sind gefährlicher als die Bullen

Auf einem der Wege fährt Engelhardt an einer Frau vorbei, die mit einer Kamera und einem sehr langen Objektiv unterwegs ist. „Die will sicher keine Kühe fotografieren, sondern Bert.“ Er will sie nicht verjagen, sie bleibt auf den Wegen und geht nicht auf die Weiden. „Das ist gefährlich“, sagt er, als er kurz danach ein Weidetor öffnet. Der Wagen holpert über Hügel und Grasbüschel. Keine zwei Meter von der Stoßstange entfernt liegen die Kühe im Gras und kauen ungerührt vor sich hin. „Aber nur, weil sie mich und mein Auto kennen“, sagt Engelhardt. „Die wissen: Uns droht keine Gefahr. Ein anderes Auto bekäme sicher eine Beule.“ Auf keinen Fall sollte sich jemand einfach so auf die Weide trauen. „Oft heißt es: Seht euch vor dem Bullen vor. Aber der ist der ruhigste. Die Mütterkühe sind es, die dich im Ernstfall tot machen“, sagt er. „Wenn du als Fremder zwischen Mutter und Kalb kommst, hast du verloren.“

Bert ist nirgends, also fährt Engelhardt nach einer Viertelstunde in jene Ecke der Weide, in der Bert gestern war. Und tatsächlich. „Da ist Bert“, sagt Engelhardt mit der gelassenen Stimme eines Mannes, der ständig einen Elch sieht. Engelhardt hält an und schaut. Und sagt genauso gelassen: „Nee, doch nicht. Ist eine schwarze Kuh.“ Dann tuckert er weiter.

Wie wild das Leben auf den Weiden ist, zeigt sich auch daran, dass der Landwirt einige Kälber an die Wolfsrudel der Region verloren hat. Doch inzwischen kennen sich die Kühe aus, bilden bei Angriffen mit ihren Körpern eine Art Burg und wehren die Raubtiere ab. Seit drei Jahren hat Engelhardt keine Verluste an Wölfe, aber Kolkraben töteten sieben Kälber. „Wenn die Kuh kalbt, kommen die Raben und picken dem Kalb die Augen aus. Eigentlich wollen sie nur an die Nachgeburt.“

Und auch Bert ist kein Kuscheltier. In der Brunftzeit treibt er schon mal eine Kuh über die Weiden. „Im vergangenen Jahr habe ich eine Kuh verloren, weil er ihr das Euter kaputt gemacht hat.“ Auf dem Höhepunkt der Brunft hat der Elch einmal im Testosteron-Rausch einen Bullen angegriffen. Der musste notgeschlachtet werden. Ein Naturschutzverband spendete dem Bauern etwa ein Drittel der Kosten für einen neuen Bullen.

Ralf Engelhardt fährt noch langsamer, schaut auf die schwarzen Schatten hinter den Büschen. Alles Kühe. Irgendwann kommt ihm ein Mitarbeiter mit seinem Wagen entgegen. Auch der schüttelt den Kopf. Bert bleibt verschwunden.

Engelhardt hält an einer kleinen Brücke und steigt aus. Er schaut über die weite Landschaft und den Teich, den ein Biber angestaut hat. „Ich mag meinen Elch, auch wenn das manchmal auch Stress bedeutet“, sagt er. 23 Jahre lang hat er für eine schwedische Firma in Deutschland Kuhställe eingerichtet. Immer wieder ist er für ein paar Wochen in Skandinavien gewesen. „Die Schweden haben mich damals ständig vor Elchen gewarnt“, sagt er. „Aber nur im Stockholmer Zoo habe ich einen gesehen.“ Als sein Schwiegervater schwer an Krebs erkrankte, habe er den Hof von ihm übernommen. „Und dann kam Bert und ist nun seit vier Jahren bei uns.“

Die Suche nach dem Elch bleibt an diesem Tag erfolglos. Später zeigen die Satellitendaten: Bert hat eine fast zehn Kilometer weite Wanderung durch die Wälder unternommen.

Der perfekte Lebensraum für Elche in Brandenburg

Eine Woche später kommt der Wissenschaftler Frank Michler aus Thüringen zurück und legt in Berts Revier einen Zwischenstopp ein. Michler zeigt auf seinem Handy ein Satellitenbild der Region. Auf dem Display ist Berts Bewegungsprofil mit gelben Strichen erkennbar. Seit August war er fast immer bei „seiner“ Kuhherde. Auf dem Display kreuzen sich die vielen gelben Linien auf Engelhardts Weiden und ergeben einen großen ausgefransten Punkt. „Heute ist er nicht bei der Herde“, sagt er. „Aber er ist nicht weit, wir werden ihn gleich mit der Richtantenne suchen.“

Das Satellitenbild zeigt eine grüne Landschaft, die nur dünn besiedelt ist. „Wir haben ein kleinräumiges Mosaik zu bieten aus Weiden, Wald, Feldern, Seen, Gräben – und Ruhe“, sagt Kordula Isermann, die Leiterin des Naturparks. „Alles, was wir von besenderten Elchen wissen, ist, dass Bert in einem absolut geeigneten Lebensraum für Elche lebt.“ Die Forstwissenschaftlerin, 55 Jahre alt, findet es großartig, dass das Tier sich hier angesiedelt hat. „Das adelt doch auch unsere Arbeit für den Naturschutz, die wir hier seit 30 Jahren machen.“

In der DDR galten Elche als unerwünschte Tierart und wurden erlegt – genau wie Wölfe. „Inzwischen hat Bert auch schon Wölfe getroffen“, erzählt Michler. Berts Sender zeigte, dass zwei ebenfalls besenderte Wölfe keine 30 Meter an ihm vorbeigingen. „Bert hat sich nicht mal bewegt“, sagt er. „Ich würde mir als Wolf auf 100 Mal überlegen, ob ich an einen ausgewachsenen Elchbullen rangehe.“

Bert sei keine fünf Kilometer entfernt, sagt Michler dann. Er und Kordula Isermann steigen ins Auto. Es rollt über eine schmale Asphaltpiste, hinter einem Dorf geht es über einen holprigen Weg tief in den Wald. Immer wieder kontrolliert der Wissenschaftler die Koordinaten. Irgendwann hält er an, holt seine Richtantenne heraus. Er dreht sich langsam im Kreis, jede Sekunde ertönt ein leises Piepen. Das wird plötzlich lauter. „Diese Richtung. Da ist er irgendwo“, sagt er, zeigt auf einen Wald und marschiert los.

Noch sind das keine offiziellen Schilder, die es in die Straßenverkehrsordnung geschafft haben.
Noch sind das keine offiziellen Schilder, die es in die Straßenverkehrsordnung geschafft haben.Gerd Engelsmann

Bert hat sich die Beelitzer Region ganz bewusst ausgesucht. Er ist ein sogenannter Weitzieher. Eine Genanalyse beweist, dass er aus dem Nordosten Polens stammt und dass er auf der Suche nach einem eigenen Revier einmal durch ganz Polen lief und 2018 durch halb Brandenburg. Dann kam er hierher und blieb.

Eigentlich sind Elche Einzelgänger, Männchen und Weibchen treffen sich nur kurz zur Brunftzeit im Herbst, um Nachwuchs zu zeugen. Als Bert geschlechtsreif wurde, zog auch er los, um ein Weibchen zu suchen. Er lief bis nach Sachsen-Anhalt. In der Brunft erreichte der Testosteronpegel in seinem Körper irgendwann den Höhepunkt, das Tier wollte sich fortpflanzen. „Doch in dieser Zeit fand er kein Weibchen, sondern traf nur eine Kuhherde“, sagt Michler. Die Paarung von Elch und Kuh funktioniert nicht, aber Bert ist nun von der sexuellen Prägung her ein Kuh-Liebhaber.

Michler läuft ein paar Hundert Meter durch den Wald, vorbei an einem Zaun, der eine kleine Neuanpflanzung schützt. Das Signal der Antenne ist eindeutig. Er sucht den Boden ab. Tatsächlich: Auf dem Acker sind Berts große Hufabdrücke zu sehen. „Da ist auch eine Losung“, sagt er zu Kordula Isermann und zeigt auf einen Haufen Elchkot.

Unterwegs erzählt Michler flüsternd weiter von Bert. Weil es dem Elch in Sachsen-Anhalt nicht so gut gefiel, lief er in sein altes Revier nach Beelitz zurück. Dort führt er seither ein Doppelleben. Acht Monate lang hält er sich zurückgezogen in den Wäldern auf, wie es alle Elche machen. „Da weicht er ganz weiträumig aus, noch bevor wir ihn überhaupt sehen können.“ Doch ab Ende August wird Bert vom großen scheuen Einzelgänger zu einem sehr sozialen Wesen und gesellt sich für drei Monate zur Kuhherde von Ralf Engelhardt.

Bert läuft dann auch nicht weg, wenn sich vertraute Menschen nähern. „Er fühlt sich in der Herde sicher“, sagt Michler. „Es ist schon beeindruckend, wie das bei ihm im Kopf klick macht und er sich völlig unterschiedlich verhält.“ Michler hofft, dass Berts Doppelleben vielleicht doch noch endet. „Hätte er damals beim ersten Mal eine Elchkuh getroffen, wäre alles perfekt. Aber es könnte auch jetzt noch funktionieren, wenn er zur richtigen Zeit eine Artgenossin trifft.“

Das Signal der Antenne ist sehr klar. „Dort vorn ist er irgendwo“, sagt der Wissenschaftler und schaut hochkonzentriert in einen Kiefernwald. Eine Armee von Baumstämmen, dazu Büsche, Hügel, Gestrüpp. Überall irgendetwas Dunkles. Aber nichts bewegt sich. Er greift zum Fernglas und kontrolliert noch mal das Signal. „Der Elch ist keine 150 Meter entfernt. Aber er bewegt sich nicht mehr.“ Michler schaut auf die Uhr, 14 Uhr. „Er ist bestimmt satt gefressen. Er liegt im Wald und verdaut erst mal.“

Michler steigt auf den Hochsitz eines Jägers und sucht mit dem Fernglas den Wald ab. Ganz, ganz langsam. Er will nichts übersehen. Minutenlang sucht er. Das Dunkle dort vorn – sind das Äste eines Busches oder das Geweih von Bert? Irgendwann steigt er vom Hochsitz, geht zu Kordula Isermann und schüttelt den Kopf.

Könnte der Wissenschaftler jetzt nicht vielleicht ein kleines Stück näher an Bert herangehen, damit er sich doch noch zeigt? „Nein“, sagt Michler. „Ich würde Bert nie aufschrecken. Er würde dann nicht nur ein kleines Stück weiterlaufen, sondern zu einer ganz großen Fluchtbewegung ansetzen.“ Michler zeigt über das Feld, auf die Straße, auf der die Autos vorbeischießen. „Ich will definitiv nicht, dass es heißt: Tierschützerin und Elchforscher haben einzigen deutschen Elch vor ein Auto gescheucht“.

Bert ist auch an diesem Tag nicht zu sehen. Nur auf den Warnschildern der Region. Und das nicht überall. Am nächsten Dorfeingang fehlt das Elchschild. Geklaut. Für die Schilder hat die Kreisverwaltung extra Spenden gesammelt. Sie sind eine Eigenkreation. Denn auf den Schildern der deutschen Straßenverkehrsordnung gibt es nur vier Tiere: ein springendes Reh, eine stehende Kuh, ein trabendes Pferd und einen Frosch, der über die Straße hüpfen will. Es wird Zeit, dass Bert dazukommt. Dann wären die Schilder bei Beelitz nicht mehr eine solche Rarität. Und dann würden sie so manchen Elch-Fan nicht dazu verleiten, kriminell zu werden.