Vom Einatmen ist bei diesen großen Tieren nichts zu hören. Das machen sie ganz leise. Dafür ist das Ausatmen bei den Kühen umso lauter. Das beweist die Kuh ganz vorn. Sie ist im Moment die Wortführerin dieser kleinen Herde aus fünf Mutterkühen und ihren fünf Kälbern. Sie trabt voran. Langsam, aber kraftvoll. Ihr Schwanz dreht sich und vertreibt die Fliegen. Dann öffnet sie ihr Maul und lässt ein Muuhhhh heraus, das einschüchternd klingt.
Ein langer, vibrierender Brummton, der aus den Tiefen ihrer Lunge kommt. Aber selbst Laien wird schnell klar, dass die Kuh nicht aggressiv ist, weil sich Menschen nähern. Es ist ein Wohlfühl-Ton. Die Kuh kommt zum Zaun der Weide am Rande von Rathenow. Sie lässt sich von Michael Bleiker streicheln. „Ja, wir fühlen uns hier wohl, oder?“, sagt der Landwirt aus der Schweiz.
Einerseits sind diese Simmentaler Rinder ganz normale Nutztiere, die auch Fleckvieh genannt werden. Doch ihre Weide macht sie zu etwas Besonderem – zu Solar-Rindern.
Denn die Tiere stehen nicht nur einfach auf einer Weide. Diese Kühe grasen unter langen Reihen von Solaranlagen, die über ihnen die Kraft der Sonne einfangen. „Wir versuchen hier, zwei grundlegende Dinge miteinander zu verbinden, deren Wichtigkeit durch die Klimakrise immer deutlicher wird“, sagt der 33-Jährige. „Wir kombinieren die Produktion von Lebensmitteln mit der Gewinnung von Energie.“
Auf seinem Basecap steht ein Name, der Programm ist: „Sunfarming“. So heißt die Firma, für die er in West-Brandenburg arbeitet. Die Solarbauern wollen eine entscheidende Sache verändern: Die bisherigen Photovoltaik-Anlagen stehen heute entweder auf Hausdächern oder in der Landschaft. Dort werden sie meist ganz flach gebaut, sodass sie fast den Rasen berühren. Denn je höher die Stelzen, desto höher die Kosten. Dadurch kann bei herkömmlichen Anlagen der Boden darunter nicht genutzt werden. Sie sind Platzfresser.

Nicht so in Rathenow. Dort arbeiten Michael Bleiker und seine drei Mitarbeiter unter den Solaranlagen, und die Kühe grasen so vor sich hin. Und in der Nachbarreihe steht sogar ein Traktor unter den Paneelen. „Unsere Anlagen sind so konzipiert, dass wir 100 Prozent der Fläche nutzen können“, sagt er. Es wird nichts versiegelt, kein Hektar Acker geht verloren. Es ist die Musteranlage der Firma, deren Hauptgeschäft der Verkauf von Solarpaneelen ist.
Die Idee von der Doppelnutzung hat einen großen Reiz, denn inzwischen gehören Essen und Energie zu den großen Konkurrenten unserer Zeit. „Wir wollen auch zeigen, dass Landwirtschaft und Energiegewinnung nicht zwangsläufig die harten Konkurrenten sein müssen im Kampf um die letzten freien Flächen“, sagt Bleiker.
Er geht hinüber zu einer Anlage, die aussieht wie ein großräumiges Gewächshaus ohne Seitenwände. Doch das sind keine Häuser, sondern auch wieder hohe Stelzen mit Solaranlagen als Dach, unter denen Bleiker ganz bequem laufen kann. Er geht die langen Reihen der Pflanzen entlang. Er schaut nach, ob alles gedeiht. Er zieht eine Möhre heraus. Sie ist dick, lang und gleichmäßig. Er zeigt auf die Erdbeerpflanzen, den Wein, die Kürbisse. Dann die langen Reihen Tomaten in den unterschiedlichsten Farben und Größen: von grün und trotzdem reif über klassisch rot bis fast schwarz.
Welche Tomatenart wächst im Schatten am besten?
An einem dünnen Seil wachsen Pflanzen in die Höhe, die recht mickrig aussehen und gelbe Blätter haben, die aber wunderbar saftige orangefarbene Tomaten tragen. Daneben hängen flaschenförmige Früchte unter üppig grünen Blättern und solche, die gelb-rot gemustert sind wie Äpfel. Bei der Verkostung im Vorbeigehen siegt eine Sorte namens Vesennij Michurinskij, eine kleine, leuchtrote, zuckersüße Cherrytomate. „Alles Geschmackssache“, sagt Bleiker. „Wir testen hier die verschiedensten Sorten, um herauszufinden, welche für unsere Form des Anbaus besonders geeignet sind.“
Denn die Sache soll keine spinnerte Idee von Idealisten sein; sie muss sich rechnen, sonst macht kein Landwirt mit. Und die Konkurrenz um die Flächen ist da. Denn nicht nur Solaranlagen brauchen viel Platz. Es gibt weitere Konkurrenten: Überall in Brandenburg drehen sich Windräder und erzeugen Energie für ein stromhungriges Land. Denn Deutschland steckt seit Putins Angriff auf die Ukraine in der schwersten Energiekrise seiner jüngeren Geschichte. Die Losung der Stunde lautet: Endlich weg vom Import von Öl und Gas, hin zu Energie aus Wind, Sonne und Wasser aus der Heimat. Hin zur Selbstversorgung. Aber wo soll so viel zusätzlicher sauberer Strom gewonnen werden? Vielleicht im großen Flächenland Brandenburg?

Auf den ersten Blick ist da reichlich Platz. Wer Berlin verlässt, sieht überall endlose Weiten, Felder bis zum Horizont. Doch auf den zweiten Blick wird klar: Auch in Brandenburg wird inzwischen fast jeder Hektar Land genutzt und ist umkämpft.
Links und rechts der Straßen steht überall viel Mais. Noch in den 1960er-Jahren wurde in der Bundesrepublik kaum Mais angebaut, heute steht er auf einem Fünftel aller Felder. Wer den vielen Mais sieht, könnte glatt glauben, in Deutschland seien die wichtigsten Grundnahrungsmittel nicht Brot und Kartoffeln, sondern Popcorn. Doch der Mais wird nur selten für Lebensmittel angebaut: 40 Prozent dienen als Viehfutter, weitere 40 Prozent als Material für Biogasanlagen. Es gibt Bauern, die sind längst keine Landwirte mehr, sondern Energiewirte und bauen nur noch für Biogas an.
Schatten in Zeiten von Dürrejahren ist willkommen
Da könnte sich die Idee von den Beeten unter Solaranlagen wie hier in Rathenow durchaus zu einer Alternative entwickeln. Michael Bleiker geht zu einem speziellen Bereich des „Gewächshauses“. Dort wachsen hohe buschige Tomatenpflanzen. „Das ist eine Versuchsanlage einer Uni“, sagt er. „Hier testen die Forscher, wie sich der Schatten der Solaranlagen auf den Ertrag der Tomaten auswirkt.“ Noch ist der Versuch nicht ausgewertet. Aber der Laie sieht erst mal keinen Unterschied zwischen den Tomaten von den Pflanzen unter freiem Himmel und denen unter Solar.
Früher hieß es oft: Unter Solaranlagen ist es doch viel zu schattig. Doch in den vergangenen fünf Jahren gab es in Brandenburg vier Dürrejahre mit ungewöhnlich viel Sonnenschein. Da ist Schatten willkommen. Unter den Solaranlagen ist es offensichtlich hell genug für die Pflanzen. „Sie stehen ja nicht die ganze Zeit im Schatten“, erklärt Bleiker. Wenn die Sonne ihre weite Bahn über den Himmel zieht, wandern Schatten und Licht über die Beete.
„Ein weiterer Vorteil ist, dass die Pflanzen vor Extremwetter geschützt sind“, sagt er. Vor Hagel, Starkregen und vor Verdunstung. Wenn ein Gewitterregen auf die schräg gestellten Solarpaneele trifft, wird das Wasser über Regenrinnen abgeleitet. Es versickert im Boden und füllt die Grundwasserspeicher wieder auf. Hier wird es dann aus 1,70 Metern Tiefe nach oben gepumpt und punktgenau eingesetzt.
Bleiker geht zu einer Verteilanlage. Von dort führen dünne Schläuche zu den langen Reihen der Pflanzen. Die Leitungen bringen das Wasser direkt zu den Wurzeln. „Das nennt sich Tröpfchenbewässerung“, sagt der Schweizer. „Das ist die perfekte Form der Bewässerung, da das Wasser genau dorthin kommt, wo es gebraucht wird und nicht der größte Teil ungenutzt verdunstet.“

Bleiker geht zu sattgrünen Himbeerbüschen und stellt die Bewässerung an. „Da reichen zwei bis drei Mal am Tag zehn Minuten“, sagt er und lächelt. „Wir können also bei Dürre oder an regenarmen Standorten ordentliche Erntemengen produzieren und auch noch Energie erzeugen.“
Hubert Schneider steht daneben und nickt. Der gebürtige Thüringer lebt seit 1987 in Berlin, ist hauptberuflicher Stiftungsberater und Ruhestandsplaner, das ist eine Art spezialisierter Finanzberater. Seit einigen Jahren gehört es zu seinen privaten Leidenschaften, ein wenig die Welt zu retten. Deshalb fungiert der 59-Jährige in seiner Freizeit als einer der Vorstände der Berliner Konamo-Genossenschaft. Die betreibt ebenfalls eine solche Anlage. „Angesichts der Klimakrise reicht es nun mal nicht aus, nur das Gute zu wollen oder nur dafür zu demonstrieren, dass irgendjemand irgendetwas ändert“, sagt er. „Man muss auch etwas machen. Man muss anpacken.“
Er geht zu einem hohen Holzkasten, der unter einer Solaranlage steht. Es ist ein selbst gebauter Trockenschrank, in dem die Heilkräuter trocknen, die hier angebaut werden. Die Solaranlage seiner Berliner Genossenschaft ist in Knesebeck-Wittingen in Niedersachsen. Die drei Autostunden Entfernung zeigen, dass es gar nicht so einfach ist, die passenden Flächen zu finden.
Obwohl die Landwirte eigentlich nur profitieren: Sie haben einerseits den Gewinn aus ihrer Landwirtschaft unter den Solaranlagen. Anderseits haben sie keine weiteren Kosten. Denn die Firma Sunfarming bezahlt die Solaranlage und zahlt den Landwirten bis zu 3000 Euro pro Hektar und Jahr als Pacht für die Fläche. Dafür kann Sunfarming den Strom verkaufen. Damit sich das aber lohnt – bei den hohen Kosten für die Stromleitungen –, darf die Solaranlage nur einen Kilometer vom Stromabnehmer entfernt stehen. „Das macht die Suche nach passenden Flächen etwas schwieriger“, sagt Schneider. Er zeigt auf die benachbarte Biogasanlage, die hier in Rathenow den Strom abnimmt. Bei ihrer Anlage in Niedersachsen ist es ein Industriebetrieb, der damit punkten will, dass er in grünen Strom investiert.
Schneider sagt: „Wir sind von der Idee überzeugt. Und damit sie in allen Bundesländern auch möglichst viele Nachahmer findet, wollen wir eine Art Blaupause entwickeln, die andere nutzen können.“ Denn der bürokratische Aufwand ist schon hoch. Bei ihnen hat es vier Jahre gedauert. Der Weg sei steinig, erzählt Schneider.
Die Genossenschaft hat bereits 5000 Euro aus eigener Tasche finanziert. Damit die Sache mit der Landwirtschaft unter den Solaranlagen richtig funktioniert, braucht die Genossenschaft bald noch 40.000 Euro. „Die wollen wir per Crowdfunding im Internet einsammeln.“ Und dann hat Hubert Schneider noch einen kleinen Traum: Die Berliner Genossenschaft will noch eine Anlage in der Nähe der Hauptstadt aufbauen. Doch in dem dicht besiedelten Gebiet die passende Fläche zu finden, ist schwer.
Aber vielleicht hilft der Zufall. Denn es waren ja auch einige Zufälle nötig, damit diese beiden Männer nun hier stehen. Hubert Schneider sagt: „Ich habe zwar immer versucht, ein guter Mensch zu sein, war aber in Richtung Ökologie nie aktiv.“ Aber zufälligerweise befand sich sein Büro neben dem jener Genossenschaft, die 2015 einen Rekordversuch mit Elektroautos auf dem Tempelhofer Feld in Berlin für das Guinnessbuch veranstaltete. Nun ist er der Chef dieser Genossenschaft.
Michael Bleiker bezeichnet es nicht als Zufall, dass er als Schweizer hier in West-Brandenburg arbeitet, sondern sagt: „Ich bin durch ein Wunder hergekommen.“ Erst studierte er Agronomie in St. Gallen in der Schweiz, dann ging er zum schweizerischen Bundesamt für Landwirtschaft und kümmerte sich um den Biogemüsebau. „Doch ich fragte mich schnell, ob ich 40 Jahre im Büro sitzen will“, sagt der Mann mit dem Drei-Tage-Bart. Die Antwort lautete: nein. Also ging er nach Afrika, zu einem Hilfswerk in Uganda. Dort lernte er seine spätere Frau kennen, die aus Rathenow stammt.

Und so wurden die beiden Männer zu Solarlandwirten. Nun gehen sie zu einem Kühlschrank und holen sich zwei Zitronenlimonaden heraus. „Eisgekühlt. Mit dem Strom aus unserer Solaranlage“, sagt Michael Bleiker und stößt mit Hubert Schneider an. Der sagt: „Prost. Auf die Zukunft.“






