Folgen des Krieges

Der Ukraine-Krieg, der Bauer und das Getreide

Putins Angriff beschert der Agrar-Branche die höchsten Gewinne seit Jahrzehnten. Trotzdem können die Bauern nicht einfach anbauen, was der Markt verlangt.

Thomas Kiesel aus Barsikow erklärt in seinem Maisfeld, warum er keine Sonnenblumen anbaut.
Thomas Kiesel aus Barsikow erklärt in seinem Maisfeld, warum er keine Sonnenblumen anbaut.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Es gibt da ein paar Details, an die sich nicht mehr alle so ganz genau erinnern. Das spricht dafür, dass die Party gut war. Ausgelassen. Bei allem Ernst der Weltlage. Thomas Kiesel geht in seinem schönen, weitläufigen Garten in Nordbrandenburg zum Steg am Löschwasserteich. Über ihm brennt die Mittagssonne. Kiesel stellt sich in den Schatten der Bäume und schaut aufs Wasser. Am Boden des Beckens sieht er etwas, das dort nicht hingehört. „Metall“, sagt er. „Könnte ein Haarreif sein. Den hat gestern Abend wohl jemand verloren beim Sprung ins Wasser.“ Auf dem Steg liegt eine einsame schwarze Socke. Kiesel denkt an die Party und lächelt.

Thomas Kiesel, 51, ist Landwirt. Und der gestrige Tag war ein durchaus denkwürdiger Tag in einem denkwürdigen Jahr. Es ist das Kriegsjahr Nr. 1, und gestern endete bei Kiesel die Roggenernte. Sie hat ihm den größten Erfolg seit Jahrzehnten beschert.

Die Agrar-Branche steht seit langem schon massiv unter Druck. Die deutschen Discounter-Ketten diktieren mit ihrer Marktmacht die Preise, die die Landwirte bekommen. Für Getreide und Kartoffeln, für Gemüse und Obst, für Milch, Fleisch und Eier. Die Geiz-ist-geil-Mentalität sorgt dafür, dass die Preiskurve meist nach unten weist. Doch dann hat Russland die Ukraine überfallen – die Kornkammer Europas.

Ein Angriff mit globalen Auswirkungen, auch für die Landwirtschaft, auch für Thomas Kiesel im idyllischen Dorf Barsikow im Landkreis Ostprignitz-Ruppin. Der Blick ist weit, die Luft klar, und am Himmel kreisen zwei Rotmilane über einem frisch abgeernteten Feld.

Kriegsprofiteure wie die Rüstungsindustrie?

Gleich nach Putins Angriff wurden die Auswirkungen des Krieges sichtbar: Panikkäufe sorgten in deutschen Supermärkten dafür, dass über Monate kein Sonnenblumenöl mehr in den Regalen stand. Denn diese Ölfrucht wird vor allem aus der Ukraine importiert. Der Krieg sorgte auch dafür, dass sich der Weizenpreis schlagartig verdoppelte, obwohl die Getreidelager in der Ukraine überquollen.

Seit Beginn des Krieges riegelt Russland die Schwarzmeer-Häfen ab, und kaum ein Getreideschiff darf ablegen. Das schürt die Angst vor Lieferengpässen in Westeuropa und vor Hungernöten in Afrika. Das jagt die Lebensmittelpreise in die Höhe – zum Nachteil der Kundschaft, zum Vorteil von Landwirten wie Thomas Kiesel. Sind die Bauern deshalb Kriegsprofiteure wie die Rüstungsindustrie, die Energiekonzerne, die Ölgesellschaften?

Thomas Kiesel in seiner Scheune auf einem riesigen Berg Roggen.
Thomas Kiesel in seiner Scheune auf einem riesigen Berg Roggen.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Kiesel freut sich natürlich darüber, dass er Gewinne einfährt. Deshalb die Party am Vorabend. „Vor zwei Tagen haben wir die letzten 400 Tonnen Roggen geerntet, und gestern habe ich das Korn verkauft.“ Als er die Summe nennt, lächelt er ein wenig: „277 Euro die Tonne.“ Solche Summen sagen den Laien nichts, also erklärt er: „Im vergangenen Jahr haben wir 175 Euro gekriegt. Die 277 Euro sind der Bestpreis, der absolut höchste Marktpreis, den wir seit 30 Jahren zur Erntezeit im August bekommen haben.“ Deshalb liegt nun dieser Reif im Teich.

Kiesel ist kurz abgelenkt, schaut aufs Handy, dann erzählt er von der Ernte und davon, dass er ab Juni immer angespannt ist: Kommt eine Dürre? Regnet es ausgerechnet zur Ernte? Vernichtet ein Unwetter die Ernte, die Arbeit des ganzen Jahres? Wenn dann Erntezeit ist, sitzt er den ganzen Tag auf dem Mähdrescher. Und wenn er spät abends nach Hause kommt, völlig verschwitzt und verstaubt, marschiert er quer durch den Garten, zieht sich aus und springt in den Löschwasserteich. Ein Ritual, das sie beim Erntefest auch durchgezogen haben.

Das Fest ist vorbei, die Arbeit wartet. Kiesel geht in die große Scheune, will das Korn kontrollieren. Unterwegs erzählt er, dass er gegen Ende der DDR noch zur Armee musste und immer gehofft hat, dass seine beiden Söhne so etwas nicht erleben müssen. „Nun ist Krieg, und niemand weiß, was kommt.“ In der Scheune liegen zwei mächtige Berge. Links 250 Tonnen goldene Weizenkörner, der Roggenberg rechts ist sogar noch etwas größer. Am Rand des Berges steckt ein großer Besen im Roggen, die Borsten zeigen nach oben.

Selbst in Erfolgsjahren glänzt nicht alles golden

Das Getreide hat Kiesel bei 35 Grad geerntet. Die Körner waren mächtig aufgeheizt und sollen nun abkühlen. Er will testen, ob es klappt. Dafür steigt er auf den Roggenberg, versinkt knietief in den Körnern. „Das Korn trocknet gut. Wäre es noch feucht, würde ich nicht versinken“, sagt er. Dann müsste er die Körner zügig wenden und lüften oder im Notfall in die Trocknungsanlagen des Großhändlers bringen. Eine solche Trocknung kostet richtig Geld. Bis zu zehn Prozent des Gewinns. Deshalb wollen alle Bauern ihr Korn möglichst trocken ernten.

Winzige schwarze Rapskörner. Der Preis hat sich mit Beginn des Krieges verdreifacht.
Winzige schwarze Rapskörner. Der Preis hat sich mit Beginn des Krieges verdreifacht.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Und schon ist Kiesel bei den vielfältigen Gründen, warum selbst in einem Erfolgsjahr nicht alles golden glänzt. Bloß weil die Preise auf Rekordstände klettern, heißt das nicht, dass alle Landwirte die größten Gewinne seit Jahren einfahren.

Die Landwirtschaft ist eine hart umkämpfte Branche, ein Rohstoffmarkt, auf dem der Roggen von Thomas Kiesel an den weltweiten Börsen genauso gehandelt wird wie Erdöl, Gold oder Auto-Aktien. Um jeden Cent pro Tonne Getreide wird gefeilscht. Und die Großkonzerne drücken die Gewinne der Bauern möglichst stark.

Die Bauern stecken in einer Zwickmühle: Sie können bei der Aussaat pokern, dass der Preis bei der Ernte ein paar Monate später schön hoch sein könnte. Bei einem globalisierten Mark ist das jedoch selten der Fall. Deshalb gehen die meisten Bauern auf Nummer sicher und schließen langfristige Verträge ab. Die Händler garantieren ihnen bereits bei der Aussaat einen bestimmten Preis für die Ernte. Das gibt den Bauern in einem normalen Jahr etwas Planungssicherheit. 2022 ist aber kein Durchschnittsjahr. Wer dieses Mal seine Verträge zu den Preisen 2021 abgeschlossen hat, profitiert nicht vom Boom.

Preise außer Rand und Band

Dazu kommt ein weiterer Faktor. „Der Krieg hat auch unsere Kosten mächtig in die Höhe getrieben“, sagt Kiesel. Da ist zum Beispiel der Spritpreis. Die Landwirtschaft ist auch eine Transportbranche, in der Millionen Tonnen Lebensmittel bewegt werden. Und dann der Dünger. Weil davon ganz viel aus Russland kommt und nicht importiert werden darf, sind die Preise außer Rand und Band.

Thomas Kiesel geht in der Scheune am großen gelben Mähdrescher vorbei, der zwischen den Getreidebergen steht. „Der hat mal 300.000 Euro gekostet“, sagt er. Nun ist er etwas in die Jahre gekommen, inzwischen verlangen die Händler fast ein Drittel mehr. Auch deshalb freut sich Kiesel über hohe Getreidepreise und schaut aufs Handy. Denn er hat auch noch 700 Tonnen bei einem Händler liegen.

Der Blick aufs Handy ist vor allem in der Erntezeit ein Dauerritual für Landwirte. Kiesels Display zeigt gerade, dass der Weizenpreis um 0,22 Prozent gefallen ist. „Vor zehn Jahren habe ich einmal pro Woche auf die Preise geschaut“, sagt er. „Nun mache ich es mindestens dreimal am Tag.“ Die Preissprünge können so heftig ausfallen wie an den Tankstellen. „Landwirtschaft ist inzwischen immer auch ein wenig Poker.“ Denn es ist unklar, wie das Wetter wird und wie sich die Preise entwickeln.

Für Preissprünge sorgt nicht nur der Krieg. Kiesel steigt ins Auto. Er will am Beispiel des Rapses die Verrücktheiten dieses Jahres erklären. Weil er all seinen Raps längst verkauft hat, fährt er durchs Dorf. In einer riesigen Scheune der Genossenschaft liegt ein gewaltiger dunkler Berg. Winzige Körner, meist schwarz, manchmal auch rotbraun. „Rapskörner, aus denen Öl gemacht wird“, sagt er und kniet nieder. Er nimmt zwei Hände voll und lässt die Körner durch seine Finger rieseln. „Wir nennen es in diesem Jahr das schwarze Gold.“

Bei ihm stand der Raps auf fast einem Viertel der Flächen. Bei der Ernte im Sommer 2021 lag der Preis bei 350 Euro pro Tonne. Dann gab es in Kanada eine miese Ernte und der Preis stieg auf 500 Euro. Da hat dann auch Kiesel verkauft. „Wir dachten, dass wir das Geschäft des Jahres gemacht haben“, sagt er. „Dann begann der Krieg, und der Preis schoss auf 1100 Euro. Aber da hatte kein Bauer mehr Raps.“

Warum nicht überall Sonnenblumen?

Thomas Kiesel leitet einen Familienbetrieb, der nur einen weiteren festen Mitarbeiter hat. Kiesel setzt sich auch für seine Kollegen ein und ist im Vorstand des Verbandes Freie Bauern. Das ist der deutlich kleinere der beiden Bauernverbände in Brandenburg. Er richtet sich vor allem an Familienbetriebe.

Kiesels Vater begann nach dem Ende der DDR mit 17 Hektar, inzwischen beackert Thomas Kiesel auf dem Hof 460 Hektar. Der studierte Agraringenieur beherrscht also das Wirtschaften. Aber warum hat er nach Beginn des Krieges nicht voll auf die Bedürfnisse des Marktes gesetzt? Warum hat er in der Sonnenblumenöl-Krise nicht alles umgepflügt und Sonnenblumen angebaut?

„Es stand doch schon fast überall etwas“, sagt Kiesel. „Und wir müssen auch darauf achten, dass wir unsere Böden langfristig erhalten.“ Deshalb kann er nicht einfach überall Sonnenblumen anbauen. Das würde ganz schnell zu Monokulturen führen. Und die sind Gift für jeden Acker.

Werden Pflanzen über Jahre auf demselben Feld angebaut, saugen diese immergleichen Pflanzen die immergleichen Nährstoffe aus dem Boden, bis er tot ist. Und sie hinterlassen Krankheitserreger im Boden. Meist als Pilze.

Kiesel geht hinaus auf das Feld vor seiner Scheune. Dort steht der Mais schön hoch. Er greift sich einen Kolben, schält die Blätter ab und kontrolliert, wie die Körner gewachsen sind. Der Kolben sieht aus wie im Lehrbuch: lange, gleichmäßige Reihen mit großen gelben Körnern. Kiesel sucht weiter. Nach einer Weile findet er einen Kolben, der nicht gelb und gesund aussieht, sondern schwarz und aufgedunsen ist wie eine ekelige Mutation aus einem Horrorfilm. „Maisbeulenbrand“, sagt er und wirft den Kolben weg. Würde er hier auch im nächsten Jahr Mais anbauen, würden der Pilze noch stärker zuschlagen. „Dann hätte ich 50 Prozent weniger Ertrag.“

Deshalb hält sich Kiesel an eine strenge Fruchtfolge. Er baut sechs „Früchte“ an. So bezeichnen Landwirte auch Weizen, Roggen und Gerste, Mais, Raps und Erbsen. Die wechseln sich auf jedem Feld so ab, dass die meisten Pflanzen erst nach vier oder fünf Jahren wieder angebaut werden. Die Fruchtfolge steht über Jahrzehnte fest, und Kiesel kann heute genau sagen, wo er im August Winterraps säen muss, wo im September 2024 Winterroggen steht und 2027 die Geste.

Mais wird in Deutschland vor allem als Tierfutter angebaut.
Mais wird in Deutschland vor allem als Tierfutter angebaut.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Wenn er den Boden auch für seinen Sohn, der Landwirtschaft studiert, erhalten will und für die Generation nach diesem Krieg, kann er nicht einfach nur Sonnenblumen anbauen, weil der Markt mal hohe Gewinne verspricht.

Von seinen 460 Hektar hätte er in diesem Jahr nur auf zehn Prozent der Fläche flexibel reagieren und auf Sonnenblumen setzen können. „Aber nach den Panikkäufen im Frühjahr schoss der Preis fürs Saatgut sowieso in die Höhe und das Saatgut war ganz schnell ausverkauft.“ Die Welt der Landwirtschaft ist kompliziert.

Ein Satz von Putin kann für Preissturz sorgen

Kiesel hofft, dass es für seinen Betrieb ein gutes Jahr werden könnte. Aber wer weiß? Es sind Kriegszeiten. Ein Satz von Putin kann viel ändern und entscheidet nicht nur über Leben und Tod in der Ukraine, sondern auch über die Preise auf den Getreidemärkten. Mal kündigt Putin Lieferungen von 50 Millionen Tonnen Weizen an und sofort fällt der Preis. Dann lässt Putin das Schwarze Meer blockieren und der Preis steigt. Wenn der Hafen von Odessa wieder voll für alle Getreideschiffe öffnen darf, könnte es zu einem Preissturz kommen, sagt Kiesel. „Dann muss ich alles ganz schnell verkaufen.“

Er tritt aus der Scheune. „Wie heißt es so schön: Der erfolgreichste Landwirt ist der, der die wenigsten Fehler macht. Und Fehler machen wir alle. Jeden Tag.“ Wieder schaut er aufs Handy. Dann sagt er, dass es sicher kein Fehler ist, erst mal Sommerurlaub zu machen. Ostsee. Warnemünde. Aber nur vier Tage, dann muss er die nächste Aussaat vorbereiten.

Das Handy lässt er im Urlaub zu Hause, er will sich mal nicht mit dem Auf und Ab der Börsen beschäftigen, mit Krieg und Krisen. Am Montag ist er zurück, dann schaltet er das Gerät wieder an und beobachtet, wie verrückt die Welt in diesem Jahr ist.