Mobilität

Deutschlandticket: In Berlin landen Hunderttausende Chipkarten im Müll

Das 49-Euro-Abo ist ein Erfolg. Doch das neue Angebot hat in Berlin eine problematische Seite, kritisiert der SPD-Abgeordnete Jan Lehmann. 

Eines für alle: Mit dem Deutschlandticket, hier in Form einer Chipkarte, darf man für 49 Euro im Monat bundesweit den Nah- und Regionalverkehr nutzen – auch auf einigen Strecken ins Ausland.
Eines für alle: Mit dem Deutschlandticket, hier in Form einer Chipkarte, darf man für 49 Euro im Monat bundesweit den Nah- und Regionalverkehr nutzen – auch auf einigen Strecken ins Ausland.Boris Roessler/dpa

So viel steht fest: Jede Fahrt mit Bahn und Bus ist ein gute Tat für die Umwelt. Mit dem Deutschlandticket ist es möglich, bundesweit den Nah- und Regionalverkehr für 49 Euro im Monat zu nutzen. Doch das neue Angebot hat in Berlin eine problematische Besonderheit, sagt Jan Lehmann, SPD-Abgeordneter aus Marzahn-Hellersdorf. Wer hier zum Deutschlandticket wechselt, kann seine bisherige Chipkarte nicht mehr verwenden.

Mehrere Hunderttausend Karten sind nutzlos geworden, viele dürften auf dem Müll gelandet sein. Der Zwang zur „massenhaften Chipkartenvernichtung“ passe nicht dazu, wie sich die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in der Öffentlichkeit darstellen – als umweltfreundliches und nachhaltiges Landesunternehmen, bemängelt Lehmann.

Dass sich der Abgeordnete für Kaulsdorf und Hellersdorf darüber ärgert, dass so große Mengen an Kunststoff und Silizium nutzlos werden, zeigt der Titel seiner Anfrage im Abgeordnetenhaus von Berlin. „Auch Kleinvieh macht Mist – Chipkartenvernichtung bei BVG-Abonnenten“: So ist die parlamentarische Drucksache, die der Berliner Zeitung vorliegt, überschrieben. Auch in der Nahverkehrsbranche sehen es manche als Problem, dass so viele Chipkarten mit einem Schlag nutzlos geworden sind – obwohl es an solchen Karten mangelt. Angesichts der hohen Nachfrage stocken immer wieder die Lieferungen, und die BVG bittet ihre Kunden zuweilen um Geduld, weil nicht genug Karten da sind.

Neue Zahlen: Immer mehr Berliner haben das Deutschlandticket

„Wir müssen auch bei Chipkarten fürs 49-Euro-Ticket und anderen zukunftsorientierten Projekten immer Nachhaltigkeit und Klimaschutz mitdenken“, fordert der Abgeordnete. Für die Herstellung und den Versand werde klimaschädliches Kohlendioxid in die Atmosphäre entlassen. Ein Kostenfaktor seien die Karten auch – bei der BVG beträgt der Einkaufspreis einen Euro pro Stück, hat Lehmann jetzt erfahren.

Ein Schiff der Reederei Hiddensee. Das Deutschlandticket gilt auch auf der Fährlinie zwischen Schaprode und der Insel. Einfach an Bord gehen kann man damit aber nicht, ein Ticket ist erforderlich. Die Reederei empfiehlt eine Online-Reservierung für zwei Euro zuzüglich Kurabgabe.
Ein Schiff der Reederei Hiddensee. Das Deutschlandticket gilt auch auf der Fährlinie zwischen Schaprode und der Insel. Einfach an Bord gehen kann man damit aber nicht, ein Ticket ist erforderlich. Die Reederei empfiehlt eine Online-Reservierung für zwei Euro zuzüglich Kurabgabe.Stefan Sauer/dpa

Um welche Dimensionen es sich handelt, zeigen die Verkaufszahlen. „Im Juni hat die BVG nach eigener Auskunft rund 557.000 Deutschlandtickets im Bestand, davon sind rund 127.000 Handytickets (22,8 Prozent) und 430.000 Chipkarten (77,2 Prozent)“, teilte die Mobilitätsstaatsekretärin Claudia Elif Stutz dem Abgeordneten jetzt mit. Seitdem ist die Zahl wie erwartet weiter gestiegen. Inzwischen geht man bei der BVG davon aus, dass rund 580.000 Kunden das neue Ticket haben. Davon stand rund eine halbe Million vorher schon in den Karteien – sie wechselten zum Deutschlandticket.

Auch das andere große Verkehrsunternehmen in der Region freut sich über eine große Nachfrage. Bei der S-Bahn Berlin haben sich bislang rund 150.000 Bestandskunden für das 49-Euro-Ticket entschieden, wie die Berliner Zeitung erfuhr. Auch deren Chipkarten sind plötzlich nutzlos geworden – sie mussten ebenfalls ausgetauscht werden.

Mit dem rekordverdächtig niedrigen Motorisierungsgrad und den hohen Fahrgastzahlen erwies sich Berlin schon beim 9-Euro-Ticket als fruchtbarer Boden für Tarifinnovation. Doch auch das Deutschlandticket kommt bundesweit gut an. „Stand Mitte Juni wurden bis zu elf Millionen Deutschlandticket-Abos verkauft“, berichtete der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. „Der größte Anteil daran, nämlich etwa 46 Prozent, sind umgestellte ÖPNV-Abonnements, also von Fahrgästen, die bereits Stammkunden waren und in das günstigere Deutschlandticket-Abo gewechselt sind.“

Anders als in Berlin ist es in vielerorts in Deutschland möglich, nach einem Wechsel zum 49-Euro-Abo bisherige Karten zu aktualisieren – etwa in Kundencentern. Beispiele sind Nürnberg und Erfurt. Nicht selten können die Kunden sie auch an Kartenlesern oder bei Kontrollen auf den neuesten Stand bringen lassen. In einigen Verkehrsverbünden dürfen vorhandene Chipkarten weiter verwendet werden, bestätigt die Deutsche Bahn. Aber eben nicht überall – deshalb liegt man nicht falsch, wenn man die bundesweite Zahl der nutzlos gewordenen Kunststofftickets auf einen siebenstelligen Betrag beziffert.

Warum gibt es Chipkarten für Bahn und Bus nicht im Pfandsystem?

Jan Lehmann fragt sich, warum Wechsler in Berlin ihre bisherige Chipkarte nicht weiter nutzen können. Technisch müsste es doch möglich sein, den Chip zum Beispiel in einem BVG-Kundenzentrum mit den neuen Ticketdaten beschriften zu lassen, so der SPD-Abgeordnete aus dem Osten der Stadt. In der Antwort auf seine parlamentarische Anfrage musste er nun erfahren, dass die BVG dafür nicht gerüstet ist.

„Die technische Infrastruktur und Situation in den Kundenzentren ermöglichten momentan keine Umstellungen von Chipkarten, die sich schon im Besitz der Kundinnen und Kunden befinden“, bedauerte Staatssekretärin Stutz. So ist es auch bei der S-Bahn. Dort heißt es, dass es „auf die Schnelle nicht anders ging“, als Wechslern neue Karten zu geben. Die Einführung des Deutschlandtickets musste zügig gehen.

„Wir arbeiten aber daran, dass man mit einer vorhandenen Chipkarte aus und in das Deutschlandticket wechseln kann“, betonte ein S-Bahn-Mitarbeiter. Auch bei der BVG gebe es Planungen, den Kunden diese Möglichkeit künftig anzubieten, teilt Stutz mit.

Und warum ist es nicht möglich, Chipkarten zurückzugeben, damit sie neu verteilt werden? „Eine Wiederverwendung ist nicht möglich“, entgegnet die Staatssekretärin. Zum einen hätten zurückgenommene Chipkarten eine „reduzierte technische Haltbarkeit“. Zum anderen könnten Karten, die das Foto und den Namen ihres früheren Besitzers tragen, nicht erneut verwendet werden. „Aufgrund der logistischen Herausforderungen wird ein klassisches Pfandsystem nach Auskunft der BVG zurzeit nicht verfolgt“, erklärt Stutz. Man wolle ohnehin die digitalen Vertriebskanäle fördern.

Seit Wochen warten BVG-Kunden auf ihre Chipkarte

Ein Problem dauert an. Noch immer gibt es Kunden, die vor mehreren Wochen bei der BVG ein Deutschlandticket geordert haben – aber immer noch keine Chipkarte besitzen. „Ich habe sie am 20. Mai bestellt und nein, sie ist immer noch nicht da“, teilte eine BVG-Kundin der Berliner Zeitung mit. „Ich frage mich inzwischen, ob sie je kommt!“

In einem Kundencenter des Landesunternehmens habe man ihr mitgeteilt, dass sie ihre bisherige Chipkarte weiterhin benutzen soll – das ist in der Tat die offizielle Auskunft. Außerdem sollten bisherige Abo-Kunden einen Ausdruck der Mail, in der die BVG den Abowechsel bestätigt hat, bei der Fahrt dabeihaben. Neukunden dürfen die Mail zusammen mit einem Lichtbildausweis als Ticket nutzen.

Eine andere Berlinerin hat der BVG bereits Ende März kundgetan, dass sie von ihrem bisherigen Abonnement zum Deutschlandticket wechseln möchte. Auch sie habe bislang keine Chipkarte bekommen, berichtete sie der Berliner Zeitung. Eine der Auskünfte, die sie von dem Unternehmen zu hören bekam, lautete: „Der Hersteller der Chipkarten hat keine Chipkarten. Wie der Stau abgearbeitet wird, wisse man nicht.“