Gesundheit

Fatigue, Post Covid, Post Vac: Deshalb demonstriert eine schwer Erkrankte in Berlin

Mit Hunderten Rollstühlen demonstrieren Betroffene von Corona-Spätfolgen vor dem Reichstag. Manche unter extremen Strapazen. Das wollen sie erreichen.

Ilka Heuer demonstriert vor dem Reichstagsgebäude. Sie ist nach Corona schwer an ME/CFS erkrankt.
Ilka Heuer demonstriert vor dem Reichstagsgebäude. Sie ist nach Corona schwer an ME/CFS erkrankt.Sabine Gudath

Ilka Heuer entschuldigt sich für ihre Tränen. Sie kann sie nicht mehr zurückhalten, denn in diesem Moment geht es um Gefühle. Darum, nicht mehr allein, nicht isoliert zu sein, Verbündete an der Seite zu wissen, die mit ihr für das gute Recht all jener kämpfen, die an ME/CFS leiden, landläufig als Fatigue bezeichnet. Dazu all die, die an Post Covid und Post Vac erkrankt sind, den Folgen von Corona oder einer Corona-Schutzimpfung. Bis zu vier Millionen Menschen also in Deutschland allein.

Deshalb sind sie an diesem Dienstag nach Berlin zum Reichstag gekommen, aus diesem Grund hat die Initiative Nicht genesen auf der Wiese davor 400 Rollstühle fotogen platziert, in Reih und Glied, jeder mit dem Porträt eines Menschen versehen, eines Patienten oder eines Angehörigen, von Kindern auch, geschätzt sind 80.000 hierzulande betroffen.

Sie fordern Geld für Forschung, wollen, dass ihnen endlich geholfen wird. Deshalb ist Ilka Heuer jetzt in Tiergarten. Als eine Frau im besten Alter, die dringend eine Therapie bräuchte, Medikamente, was ihr aber verweigert wird, weil sich Politik, Pharmaindustrie, Krankenkassen lange nicht für sie und ihre Leidensgenossen interessierten. Sie sagt: „Ich hoffe, dass wir hier etwas bewegen.“

Das hoffen alle, die sich der Initiative Nicht genesen angeschlossen haben und mit ihr über Instagram vernetzt sind. „Die Verankerung von mindestens 200 Millionen Euro im Bundeshaushalt für Forschung, Aufklärung und Versorgung für Long-Covid-, ME/CFS- und Post-Vac-Betroffene“, so steht ihre Forderung auf einem Flugblatt, das sie an diesem Vormittag verteilen. Auch an Abgeordnete des Bundestags, die auf die Aktion aufmerksam werden und vereinzelt am Rollstuhl-Fuhrpark erscheinen. Die Haushaltsberatungen stehen bevor. An diesem Donnerstag verhandelt das Parlament die „Versorgung von Long-/Post-Covid und Post-Vac-Syndrom“. Eine halbe Stunde lang, nur oder immerhin, ab 16.30 Uhr.

Initiative Nicht genesen protestiert vor dem Reichstag

Ilka Heuer wird dann wieder zu Hause, wird nach Niedersachsen zurückgekehrt sein, ihr Mann am Steuer des Wagens. Das Wohnmobil haben sie in Emmendorf gelassen. Damit sind sie sonst unterwegs, wenn sie es denn einmal sind, Ilka Heuers Bewegungsradius ist schließlich stark eingeschränkt. Sie muss sich in kurzen Intervallen immer wieder ausruhen. Für die Protestaktion vor dem Reichstag hat sie auf der Wiese hinter einem Busch eine Decke als Rückzugsort ausgelegt. Für das Gespräch nimmt sie auf einem der Rollstühle Platz, die Nicht genesen geliehen, durch Spenden finanziert hat.

Wenn ihr das jemand vor dreieinhalb Jahren erzählt hätte, wenn Ilka Heuer vor der Pandemie prophezeit worden wäre, dass sie keine Stunde lang gehen, nicht einmal würde stehen können, sie hätte ihm nicht ein Wort geglaubt. Doch am 25. Dezember 2021 änderte sich ihr Leben von Grund auf. An diesem Tag erkrankte sie an Covid-19 als Folge einer Infektion mit Sars-CoV-2, sie bekam Corona. Die akute Phase selbst verlief harmlos. „Ich litt an Geruchs- und Geschmacksverlust, aber es war erträglich“, sagt Heuer. Der Kollaps folgte zwei Wochen später. „Da war es, als ob jemand den Stecker gezogen hätte.“

Hunderte Rollstühle vor dem Reichstagsgebäude mit Porträts von Menschen, die an den Spätfolgen von Corona leiden.
Hunderte Rollstühle vor dem Reichstagsgebäude mit Porträts von Menschen, die an den Spätfolgen von Corona leiden.Sabine Gudath

Sie hatte einen lebensgefärhlichen Blutdruck mit einem oberen Wert von mehr als 230. Sie musste ins Krankenhaus, doch die Blutwerte waren laut Ärzten unauffällig. Sie entließen Ilka Heuer als gesund. Das aber war sie keineswegs. Ihrer Arbeit als sozialpädagogische Assistentin konnte sie nicht mehr nachgehen, kann es bis heute nicht. Wie mutmaßlich bis zu eine Million Deutsche aus dem gleichen Grund.

Nach wie vor leidet Ilka Heuer an Symptomen, die sich schon damals zeigten. An Post-Exertional Malaise zum Beispiel, kurz PEM, einem Leitsymptom von ME/CFS: Die Beschwerden nehmen schon bei geringer körperlicher, geistiger oder emotionaler Belastung zu. Licht, Geräusche, Sinnesreize lösen PEM aus.

POTS und das Leid von Tausenden

POTS ist ein weiteres Kürzel, das für das Leid von Tausenden steht: posturales Tachykardiesyndrom. Benommenheit, Schwindel, einen hohen Puls verursacht POTS. „Insgesamt“, sagt Ilka Heuer, „komme ich auf 20 Symptome.“ An die 200 sind bei Post Covid bekannt, dessen stärkste Ausprägung ME/CFS ist: Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom.

„Ich vergleiche das immer mit einem defekten Akku, der sich nur noch zu 30 Prozent aufladen lässt, egal wie lange er am Netz hängt“, sagt Heuer. In der Reha verordneten ihr die Ärzte dennoch eine sogenannte Aktivierungstherapie. „Es ist unfassbar, aber es hat sich noch immer nicht überall herumgesprochen, dass das bei einer Belastungsintoleranz wie bei mir und Tausenden anderen ME/CFS-Patienten extrem schädlich ist.“ Länger als eine Viertelstunde hielt sie die Übungen nicht durch. Die Reha abzubrechen, traute Ilka Heuer sich nicht.

Als einer der Abgeordneten am Dienstag abseits der Rollstühle gerade einen engagierten Vortrag hält über das, was an Aufklärung und Forschung zu leisten sei, würde sie vermutlich gerne schmunzeln, weil sie solche Sätze schon oft gehört hat, aber nichts passierte. Ilka Heuer schmunzelt nicht. Zu groß ist die Gefahr, dass es jemand sehen und sagen könnte, sie bilde sich das alles nur ein: die Schmerzen, die Unfähigkeit, sich zu bewegen. „So etwas höre ich immer wieder.“ Sie solle sich mal ordentlich ausschlafen, regelmäßig an die frische Luft – und alles wäre gut.