Gesundheit

Verkannte Corona-Krankheit: „Von Kopf bis Fuß von einem Tsunami erfasst“

Das Leiden ist sehr lange bekannt. Mit der Pandemie kam es zur extremen Häufung von ME/CFS. Doch Millionen Betroffene fühlen sich von der Politik ignoriert.

Eine Initiative will Menschen, die unter dem chronischen Erschöpfungssyndrom leiden, ein Gesicht geben.
Eine Initiative will Menschen, die unter dem chronischen Erschöpfungssyndrom leiden, ein Gesicht geben.Rolf Poss/imago

Ricarda Piepenhagen wird das große Foto eines Neunjährigen bei der Demonstration tragen. Der Junge ist schwer krank. Sie wird das Porträt auf ein Feldbett legen zu den anderen 499 Patienten-Porträts auf den übrigen 499 Feldbetten. Diese werden am Donnerstag auf der Rasenfläche vor dem Reichstagsgebäude stehen. Dort, im Bundestag, beraten dann die Abgeordneten über einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion; Punkt 17 der Tagesordnung: „Hilfe für Betroffene des chronischen Erschöpfungssyndroms“. Beginn der Debatte um 18.10 Uhr.

Zu später Stunde befassen sie sich mit ME/CFS, inzwischen geläufiger als Fatigue. Die Erkrankung ist zwar seit mehr als 50 Jahren offiziell anerkannt, doch erst als sich die Fallzahlen während der Corona-Pandemie fast verzehnfacht haben, wurde sie allgemein bekannt. Ihre Folgen werden vielfach immer noch nicht verstanden, offenbar auch nicht in der Politik.

Die 500 Porträts vor dem Reichstagsgebäude sollen nun der Krankheit ein Gesicht geben. Müde Gesichter sind es, zum Teil auf Kopfkissen gebettet, weil diese Menschen zu kaum noch etwas fähig sind, weil sie alltägliche Handgriffe nicht mehr schaffen, weil sie vielfach von Angehörigen zu Hause gepflegt werden müssen. „Vertreten sind alle Altersgruppen, alle Bundesländer, viele Berufe, vom Professor bis zum Mechatroniker“, sagt Ricarda Piepenhagen. Auch auf Instagram geben die Patienten der Krankheit zigfach ein Gesicht: #nichtgenesen. So nennt sich die Initiative.

Ricarda Piepenhagen und ihr Team hoffen, dass Abgeordnete vor den Bundestag kommen werden, am liebsten wäre ihnen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) selbst. Sie wollen ihm eine Petition überreichen. Ab 9 Uhr sind sie da. Etwa 60.000 Menschen haben bereits unterschrieben. Ihre Kernforderungen fasst Piepenhagen so zusammen: „Wir brauchen mehr staatliche Förderung für Forschung.“ Die bisher in Aussicht gestellten zehn Millionen Euro für Therapiestudien reichten längst nicht aus. „Wir brauchen als Betroffene außerdem dringend interdisziplinäre Behandlungszentren, weniger Bürokratie und eine Statistik der Fallzahlen, um den genauen Handlungsbedarf zu kennen.“

Vor der Corona-Pandemie war etwa eine Viertelmillion Menschen von ME/CFS hierzulande betroffen, darunter 40.000 Kinder. Durch die Pandemie hat das Syndrom eine neue Dimension erreicht. Es zählt zu den häufigsten Folgeerscheinungen einer Infektion mit Sars-Cov-2, von Post Covid, nach Schätzungen leiden bis zu 2,3 Millionen Menschen in Deutschland daran. „Davon erfüllen rund 40 Prozent die Kriterien von ME/CFS“, sagt Piepenhagen. ME/CFS kann auch nach einer Impfung auftreten, somit dem Post-Vac-Syndrom zugerechnet werden, das statistisch allerdings unzureichend erfasst ist.

Die Berliner Regisseurin Sibylle Dahrendorf leidet am Chronischen Fatigue-Syndrom.
Die Berliner Regisseurin Sibylle Dahrendorf leidet am Chronischen Fatigue-Syndrom.Markus Wächter/Berliner Zeitung

ME/CFS: #nichtgenesen bundesweit vertreten

Piepenhagen hat ebenfalls die Diagnose Post Covid erhalten, hat nachweislich fünf verschiedene Autoantikörper in ihrem Organismus, hat entzündete Gefäße, Zitteranfälle, die an Parkinson erinnern. „Ich komme von diesem Trip nicht mehr runter“, sagt Piepenhagen, die an einer Schule in Mecklenburg-Vorpommern unterrichtet hat. Seit dem 15. November 2021 kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Am 17. April vergangenen Jahres gründete sie mit fünf anderen die Initiative #nichtgenesen. Schnell entstanden Gruppen in allen Bundesländern. Um für die Politik und die Öffentlichkeit endlich sichtbar zu werden, starteten sie im September die Petition, die binnen 28 Tagen schon 40.000 Betroffene unterzeichnet hatten.

„Darunter sind ganz arme Seelen“, sagt Piepenhagen. Da ist die 16 Jahre alte Gymnasiastin, die immer gute Noten hatte, deren Leben sich nun aber in einem abgedunkelten Zimmer abspielt, weil sie kein Licht verträgt. Da ist die Mutter, die es nicht mehr bis an die Wohnungstür schafft, um den heimkommenden Kindern zu öffnen. Da ist ein Polizist, der sich verzweifelt an #nichtgenesen wendet, weil seine Tochter jetzt auf einen Rollstuhl angewiesen und Besserung nicht in Sicht ist.

Da ist Sibylle Dahrendorf, die Berliner Regisseurin, deren Leben sich in einem Wohnzimmer abspielt, zwischen einer Couch und ihrem gegenüber aufgestellten Bett. Sie ist lange vor der Pandemie an ME/CFS erkrankt, offensichtlich ausgelöst durch ein Antibiotikum. 2014 traten die ersten Symptome auf, doch kein Arzt konnte sie dem Krankheitsbild zuordnen. Erst 2018 erhielt sie in der Fatigue-Ambulanz der Charité die Diagnose Myalgische Enzephalomyelitis, auch Chronisches Fatigue-Syndrom, wobei Dahrendorf nichts von dem Begriff Fatigue hält, weil er die Multisystem-Krankheit auf Müdigkeit reduziert. „Es hat sich seit damals nichts geändert. Es gibt niemanden, an den man sich wenden kann“, sagt Dahrendorf. „ME/CFS läuft in den Leitlinien für Hausärzte weiter unter Müdigkeit.

Nach wie vor fehle es an der Einsicht, insbesondere in der Politik, dass es sich um lebensbedrohliche Erkrankungen handele, sagt die Frau, Jahrgang 1964. „Vor der Pandemie ist eine Freundin von mir an ME/CFS gestorben“, erzählt sie.

Später wird sie in einer Mail schreiben: „Jetzt nach so einem Telefonat: wegen der Belastungsintoleranz und POTS – Herzrasen bis unter die Decke, Luftnot, Zittern, Schwindel, Sehstörungen, irren Tinnitus, Muskelschwäche usw. Das ist das, was viele nicht verstehen, auch dass man im Liegen NIE symptomfrei ist (sondern alles eine Qual). Viele denken man würde faul auf dem Sofa/im Bett rumliegen, faktisch ist es aber der Horror.“

300.000 Euro für eine Studie, die auf sich warten lässt

POT steht für Posturales Tachykardie-Syndrom, eine der mit ME/CFS einhergehenden Erkrankungen, ebenso wie Small-Fibre-Neuropathie und andere Komorbiditäten. Geschädigte Nerven, geschädigte Blutgefäße. „Man wird von Kopf bis Fuß von einem Tsunami erfasst“, sagt Dahrendorf. „Jetzt, da durch Post Covid so viele neue Patienten hinzukommen, sollte man endlich die Reset-Taste drücken. Alles auf Anfang, aber es gibt keinen starken Politiker, der dafür kämpft.“

So gut sie können, kämpfen die Betroffenen für sich selbst. Dahrendorf gehört zu einem Bündnis namens „Wir fordern Forschung“. Knapp 300.000 Euro sammelten sie über Crowdfunding ein, um damit eine Studie an der Uni Erlangen zu finanzieren. Festgestellt werden sollte, ob das Medikament BC 007 des Start-ups Berlin Cures bei einigen ME/CFS-Patienten hilft, worauf einiges hindeutet. Doch das Unternehmen teilte im vorigen Sommer mit, BC 007 könne für die Studie nicht ausgeliefert werden. „Die Spenden sind auf einem Konto geparkt, aber niemand weiß, was aus der Studie wird, warum sie nicht anläuft“, sagt Dahrendorf.

Auch Ricarda Piepenhagen fragt sich, warum es bei der Behandlung einer Krankheit so schleppend vorangeht. Die hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits 1969 anerkannt, sie macht Millionen Patienten ein normales Leben unmöglich. Die Autoantikörper in Ricarda Piepenhagens Blut könnten zum Beispiel mit einem Verfahren ausgewaschen werden, das „Immunadsorption“ heißt. Es kostet 15.000 Euro pro Anwendung. „Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Summe selbst aufzubringen.“ Sehr viel Geld für sie. Auch zu ME/CFS insgesamt gibt es eine Rechnung in Euro: Schätzungsweise 7,4 Milliarden könnte der volkswirtschaftliche Schaden in Deutschland betragen. Aber eine Studie dazu fehlt.

Vorher will sie ein Zeichen setzen, will Bilder für die Öffentlichkeit schaffen: deshalb die 500 Gesichter auf 500 Feldbetten vor dem Bundestag. Stellvertretend für alle jene, die endlich wieder am Leben teilnehmen möchten, die arbeiten wollen, studieren, zur Schule gehen. Regisseurin Dahrendorf wäre gern bei der Demo dabei, doch sie ist in ihrem Wohnzimmer-Universum gefangen. „Wir“, sagt sie und spricht für all die Unsichtbaren, „wir versauern hinter Gardinen.“