Berlin - Auch wenn es hin und wieder Beschwerden gibt: Das Fahrpreissystem für den Berliner Nahverkehr gilt als ziemlich einfach. Entweder löst man einen Fahrschein, der mindestens im gesamten Stadtgebiet gilt – oder die Distanz ist so kurz, dass ein Kurzstreckenticket ausreicht. Dazwischen gibt es nichts. Doch bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) sucht man nach Wegen, das zu ändern. Denn eigentlich wäre es dank moderner Technik möglich, die Fahrpreise deutlich stärker als bisher nach der Entfernung zu differenzieren. Jetzt schlägt BVG-Chefin Eva Kreienkamp vor, ein neues System zu erproben. „Ich kann mir vorstellen, dass es auch in Berlin und Brandenburg entfernungsabhängige Tarife geben wird“, sagte die Vorstandsvorsitzende zur Berliner Zeitung. „Das muss man sich genau anschauen und dann im Rahmen von Pilotprojekten beleuchten.“
An den Einheitstarif haben sich die Berlinerinnen und Berliner über Jahrzehnte gewöhnt. Die grobe Einteilung ist zwar simpel und leicht verständlich. Aber sie kann auch als ungerecht empfunden werden. Warum soll jemand, der mit der S-Bahn in 13 Minuten vom Alexanderplatz zum Zoo fährt, für immer genauso viel bezahlen wie jemand, der vom Spandauer Ortsteil Kladow im äußersten Südwesten fast 80 Minuten nach Buch im äußersten Nordosten Berlins reist?
Verschiedene Nutzergruppen besser bedienen
Diese und andere Themen haben die Tarifplaner der BVG im Blick. Dabei sei dem landeseigenen Unternehmen klar, dass es nicht im luftleeren Raum agiere, betonte Kreienkamp. An der Zusammenarbeit mit dem Senat und dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, kurz VBB, ändere sich nichts. „Nahverkehrstarife sind ein stark regulierter Bereich, und das ist auch richtig so. Wir müssen auch in Zukunft stets einen einfachen Zugang zum System verbindlich anbieten“, sagte die BVG-Chefin. „Doch klar ist ebenfalls, dass wir unsere verschiedenen Nutzergruppen besser als bisher bedienen müssen.“
Richtig sei aus ihrer Sicht auch, dass die Zeit für Versuche gekommen sei: „Wir werden intensiver als bisher mit dem VBB über experimentelle Formen von Tarifierung sprechen.“ Ob Kilometerpreise oder Zeittarife, bei denen Tickets nur für bestimmte Zeitspannen gelten: „Solche Dinge müssen wir uns tatsächlich genauer anschauen“, so Kreienkamp. In anderen Teilen Deutschlands werde bereits einiges ausprobiert. „Wir sind da noch etwas zurückhaltend. Ich wünsche mir, dass wir ebenfalls in diesem Bereich weiterkommen“, sagte die Vorstandsvorsitzende der BVG. Mit Hilfe von Apps ließen sich neuartige Tarifmodelle heute verhältnismäßig einfach umsetzen.
24 Cent pro Kilometer: mit der Eezy-App durch den Westen Deutschlands
„Ziel ist es, dass für viele Menschen die Nutzung des Nahverkehrs einfacher wird“, erklärte Kreienkamp. Davon müssten auch Fahrgäste außerhalb von Berlin profitieren, wo ein anderes, kleinteiliges System gilt. „Brandenburger berichten, dass in ihrem Tarifwabensystem manches nicht praktikabel ist. Einige Sachen sind nicht mehr erklärbar.“ Andere Konzepte würden benötigt.
In Nordrhein-Westfalen haben Nahverkehrsnutzer bereits die Wahl. Neben dem bestehenden Tarifsystem für Bus und Bahn steht ihnen seit Beginn dieses Monats nun auch die Eezy-App zur Verfügung, die mit einem anderen System verknüpft ist – und sparen hilft. Dabei handelt es sich um einen elektronischen Tarif, den man ausschließlich mit einem Smartphone nutzen kann. Dort wird nach Kilometern abgerechnet – genauer gesagt nach der Luftlinie zwischen Start und Ziel.
So funktioniert es: Vor jeder Fahrt checkt sich der Fahrgast ein, danach zeigt die App eine digitale Fahrtberechtigung an. Am Ziel checkt sich der Fahrgast wieder aus. Die Eezy-App berechnet den Fahrpreis, der dann vom Konto abgezogen wird. Für jede Fahrt wird ein Grundpreis erhoben: normalerweise 1,60 Euro, innerhalb des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR). Hinzu kommt der Luftlinien-Kilometerpreis: regulär zirka 24 Cent, im VRR-Gebiet sind es 25 Cent.
In vielen Fällen sparen die Fahrgäste Geld
„Der neue eTarif ist in vielen Fällen deutlich günstiger“, heißt es in den Hinweisen für die Nutzer. Ein Beispiel: Vom Düsseldorfer zum Neusser Hauptbahnhof kostet eine Fahrt nach dem bisherigen Tarif sechs Euro. Mit dem Eezy-Ticket sind es nur 3,50 Euro. Zum Vergleich: In Berlin führt die S-Bahn-Fahrt vom Ostkreuz zum S-Bahnhof Köpenick über eine ähnliche Distanz. Hier kostet ein Einzelticket drei Euro. Nach einem weiteren Rechenbeispiel würden mit Eezy zwischen Köln und Essen statt 20,40 lediglich 15,15 Euro fällig. In der Region Berlin wäre diese Fahrt mit einer Tour von Berlin-Heiligensee nach Königs Wusterhausen vergleichbar. Hier kostet ein Fahrschein 3,80 Euro.
Weil die Nahverkehrsbetriebe in Nordrhein-Westfalen erwarten, dass sie weniger Fahrgeld einnehmen, hat das Land Ausgleichszahlungen von insgesamt 100 Millionen Euro angekündigt. Ein weiterer Hinweis für die Eezy-Nutzer: „Innerhalb von 24 Stunden sind die Fahrtkosten im eTarif auf 30 Euro gedeckelt. Da alle bekannten, klassischen Tarife bestehen bleiben, werden Bus- und Bahnfahrten für niemanden teurer.“
Hohe Rabatte für Vielfahrer
Im Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV), der Frankfurt am Main und Teile von Hessen umfasst, wird mit einem Kilometertarif noch experimentiert. Das Interesse ist groß: Im Internet heißt es, dass die angestrebte Zahl von 30.000 Versuchsteilnehmern erreicht ist. Bitte nicht mehr bewerben! RMVsmart: Das ist der Name der Tarifinnovation nach dem Motto: Sie zahlen immer nur die Strecke, die Sie auch tatsächlich fahren.
Auch hier berechnet die App stets einen Grundpreis. Für Fahrten mit Regionalzügen, S-Bahnen und U-Bahnen gibt es zudem einen Entfernungspreis für die zurückgelegte Strecke. Werden Busse oder Straßenbahnen genutzt, kommt ein Pauschalpreis hinzu - je nach Größe der Orte und Städte, die durchfahren werden. Um Anreize zu geben, möglichst oft den öffentlichen Verkehr zu nutzen, gibt es Rabatte. Entweder man zahlt zehn Euro und darf dafür einen Monat lang für die Hälfte fahren – oder man nutzt Preisermäßigungen, die deutlich steigen, je mehr man fährt. Wer zum Beispiel 60 Euro Umsatz erreicht, bekommt für den Rest des Kalendermonats 60 Prozent Rabatt.
Berliner Fahrgastverband warnt vor Fahrpreiserhöhungen
Völlig neu ist Eva Kreienkamps Vorstoß nicht. Im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg wurde bereits mehrmals untersucht, ob neue Tarifmodelle sinnvoll und praktikabel wären – ohne dass die Ideen weiterverfolgt wurden. Unter anderem wurde geprüft, ob zeitbasierte Tarife in größerem Maße als derzeit möglich wären. Derzeit gilt ein Berliner Einzelfahrschein zwei Stunden. Beim VBB wurde auch schon überlegt, in Berlin einen elektronischen Tarif mit kilometergenauer Abrechnung zu erproben. Eine ähnliche Idee hatte die BVG 2003. Aber auch in diesem Fall folgten keine konkreten Projekte. Der Fahrgastverband IGEB lehnt sowohl zeit- als auch kilometerbasierte Fahrpreise als „hochgefährlich“ ab, weil sie vielen Berlinern mutmaßlich höhere Kosten bescheren würden. Das jetzige Tarifsystem sei einfach und verständlich, so der Verband.
BVG-Chefin Kreienkamp bleibt bei ihrem Plädoyer, das Tarifsystem zu ergänzen. „Das Fahrverhalten der Menschen hat sich während der Pandemie geändert. Darum müssen wir uns fragen, wie wir mit unserer Tarifstruktur umgehen“, sagte sie. „Für Gelegenheits- und für Oftfahrer stehen gute Angebote bereit. Doch abgesehen vom Flexticket, das zum 1. Januar 2022 eingeführt wird, bieten wir zwischen diesen Polen sonst nichts an. Deshalb kann das Flexticket nicht das Ende der Fahnenstange sein. Wir brauchen einen Modernisierungsschub.“ Mit dem neuen Ticket für 44 Euro darf man den Nahverkehr in Berlin innerhalb von 30 Tagen achtmal jeweils 24 Stunden lang nutzen.





