Berlin-Gefühl

War ich naiv? Abschied von meiner Abkürzung durch den Görlitzer Park

Angst hatte ich in den 90ern, als der Görlitzer Park nachts menschenleer war. Mit den Dealern fühlte ich mich sicher. Doch dann kam die Nachricht von der Vergewaltigung.

Der Görlitzer Park ist nicht nur ein Park, sondern auch ein Symbol geworden.
Der Görlitzer Park ist nicht nur ein Park, sondern auch ein Symbol geworden.Sebastian Wells/Ostkreuz

Ich wohne nicht direkt am Görlitzer Park, aber nicht sehr weit entfernt, auf der Neuköllner Seite, und das seit Anfang der 90er-Jahre. Damals war der Park nachts menschenleer, und ich fürchtete mich, hier durchzuradeln. Ich tat es trotzdem, denn es war einfach die kürzeste Verbindung zwischen Neukölln und Friedrichshain, wo meine Schwester damals lebte. Sonst hätte ich um den halben Park radeln müssen, erst zum Spreewaldplatz und auf der anderen Seite wieder zurück. Zeitverschwendung. Ich nahm lieber 30 Sekunden Angst in Kauf.

Ich erinnere mich, dass ich wie eine Gejagte durch die dunkle Verbindung zwischen der Falckensteinstraße und der Glogauer Straße raste und jedes Mal erleichtert war, wenn ich die andere, die rettende Seite erreicht hatte. Das war die Zeit, als Neukölln noch nicht hip war und die Falckensteinstraße eine stille Wohnstraße. Heute, da sie eine Ausgehmeile geworden ist und sich hier ein Restaurant ans nächste reiht, kann man sich das gar nicht mehr vorstellen.

Ich suchte den Park später auch tagsüber auf, das war, als meine Kinder klein waren. Anfang der 2000er-Jahre gingen wir hier zum Kinderbauernhof, fütterten die Esel und Schafe. Ich zeigte ihnen, dass man die Hand ganz flach halten muss, wenn man ihnen das Futter hinhält, sodass den Tieren nicht zufällig ein Finger in den Mund gerät.

Im Görlitzer Park hat der Rechtsstaat versagt

Als ich 2012 nach zehn Jahren Abwesenheit nach Berlin zurückkam, war es passiert: Der Görlitzer Park war zu einem Drogenumschlagplatz geworden. Seither stehen dort Dealer. Vor allem junge Männer aus Afrika. Seitdem hatte ich keine Angst mehr, nachts hier durchzufahren. Denn entlang meiner Strecke standen bis in die frühen Morgenstunden lauter Menschen, die Dealer, ihre Kundschaft. Was sollte mir da passieren? Würden hier Menschen überfallen, wäre das doch schlecht fürs Geschäft.

Manche von denen, die hier Drogen verkaufen, kannte ich bald vom Sehen, sie sagten „Hi“, wenn ich vorbeifuhr, aber das sagen sie wahrscheinlich zu jedem, sind ja alles potenzielle Kunden. Manchmal warf mir einer ein „You need something?“ zu. Zu jeder Tages- und Nachtzeit läuft Reggae-Musik, wabern Marihuana-Schwaden. Manchmal kam mir bei diesem Anblick der Gedanke, dass der Rechtsstaat hier versagt.

Vielleicht wäre ich offensiver angegangen worden, hätte ich nicht auf dem Fahrrad gesessen und wäre ich nicht mit einiger Geschwindigkeit unterwegs gewesen. So aber war ich in 30 Sekunden durch, und es war halt der Görlitzer Park.

Ich weiß, dass die Berliner Polizei den Park als kriminalitätsbelasteten Ort eingestuft hat. Ich beruhigte mich damit, dass es bei der Kriminalität um den Drogenhandel geht. Den Satz, dass es eher um die mit dem Drogenhandel einhergehende Rauschgiftkriminalität geht, übersah ich. Das ist vielleicht typisch. Augen zu und durch. Man möchte sich in seiner Stadt, in seiner Nachbarschaft nicht unsicher fühlen, man möchte keine Umwege fahren, weil man Angst hat, man möchte keine No-go-Areas. Wenigstens mir geht es so.

Meine süddeutschen Freunde besuchten den Görlitzer Park wie eine Sehenswürdigkeit

Es sprach sich herum, was im Görlitzer Park los ist. Im ganzen Land kannte man ihn bald. Als vor einem Jahr Freunde aus Heidelberg zu Besuch kamen, erzählten sie von ihrem Ausflug in den Park, als würden sie von einer Berlin-Sehenswürdigkeit sprechen. Sie beschrieben einen Ort, über den man aus der süddeutschen Provinz kommend nur ungläubig den Kopf schütteln kann. Ich hörte förmlich, wie sie den Freunden zu Hause davon erzählen würden. Görlitzer Park, Geisterbahn, einfach verrückt, dieses Berlin, unsere Hauptstadt. – Ich dachte insgeheim, sie hätten halt von Großstadt keine Ahnung. Oder bin ich es, die keine Ahnung hat?

Als ich von der Vergewaltigung erfuhr, die hier im Juni stattgefunden haben soll, war ich schockiert. Eine Gruppenvergewaltigung, begangen von Dealern, die zuvor die Frau und ihren Begleiter ausgeraubt haben sollen. Ein Einzelfall, bestimmt. Aber ich kam mir plötzlich ziemlich naiv vor.

Als Erstes verbot ich meiner Tochter, weiter durch den Park zu fahren, sie nutzt diese Abkürzung ebenfalls, wie wahrscheinlich die meisten Fahrradfahrinnen und Fahrradfahrer aus Neukölln, Kreuzberg, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg, die an der Stelle von der einen auf die andere Seite wollen. Meine Tochter ist 20. Und ich?

Jetzt lieber auf einem menschenleeren Uferweg als durch den Görlitzer Park

Als ich vor ein paar Tagen kurz vor Mitternacht von einer Freundin in Prenzlauer Berg kam, überlegte ich kurz, fuhr dann aber lieber am Heckmannufer und dem Radweg am Kanal nach Hause. Die Gegend ist nachts menschenleer, der Radweg entlang des Landwehrkanals ist nicht beleuchtet, aber die Strecke schien mir jetzt trotzdem besser.

Die meisten Verbrechen hinterlassen allein bei den Opfern ihre Spuren. Das ist hier anders. Die mutmaßliche Vergewaltigung im Görlitzer Park verändert die Psyche einer ganzen Nachbarschaft. Ich habe erst mal Abschied von meiner Abkürzung genommen. Wenigstens nachts.